Michael Flügger, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Schweiz und in Liechtenstein, Bern
Schokoladen, Käsespezialitäten und edle Uhren – eidgenössische Exportwaren geniessen bei meinen Landsleuten in Deutschland traditionell ein ausgezeichnetes Image. Auch ich persönlich entdecke die feinen Köstlichkeiten der alteingesessenen Berner Chocolatiers, liebe Raclette und gebe zu, dass die Uhr an meinem Handgelenk «Swiss made» ist.
Tatsächlich ist das Sortiment des Handels zwischen den Nachbarstaaten aber wesentlich breiter. Denn beide Länder sind führende Industrie- und Innovationsnationen.
Bei den Ein- und Ausfuhren dominieren denn auch chemisch-pharmazeutische Produkte sowie Maschinen und Apparate. Daneben passieren vor allem Schweizer Präzisionsinstrumente, Bijouterie- sowie Bekleidungsartikel die Grenze gen Norden, umgekehrt kommen deutsche Fahrzeuge, Agrarerzeugnisse und Brennstoffe über den Rhein in die Schweiz. Das bilaterale Handelsvolumen erklomm 2019 und 2020 die Marke von 100 Milliarden Franken. Für die deutsche Wirtschaft steht die Schweiz seit Jahrzehnten in den Top Ten der weltweiten Ausfuhr- und Beschaffungsmärkte.
Wegen Corona wurde das gemeinsame Handelsvolumen um rund ein Jahrzehnt zurückgeworfen.
Hinter den beachtlichen Handelszahlen steht mehr als Endprodukte. Zum Beispiel die eng verflochtenen Wertschöpfungsketten. Täglich wird eine Vielzahl industrieller Halbfabrikate, Investitionsgüter und Rohstoffe ausgetauscht – etwa in der Spezialchemie, der Pharmaindustrie oder im metallverarbeitenden Gewerbe als Zulieferer von Automobil- und Luftfahrtunternehmen. Diese Vorleistungen machen allein 60 Prozent des bilateralen Warenaustauschs aus.
Auch der regelmässige Handelsüberschuss, den die EU-Mitgliedsstaaten mit der Schweiz verzeichnen, erklärt sich mit der Ausfuhr von Vorprodukten, welche Schweizer Unternehmen zu Qualitätserzeugnissen «veredeln» und weltweit absetzen. Wie Deutschland ist auch die Schweiz ein Export-Weltmeister.
Nach wie vor am stärksten ist dieser grenzüberschreitende Handel zwischen Unternehmen aus den Deutschschweizer Kantonen und den Bundesländern Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen. Attraktive und erfolgreiche Geschäftsbeziehungen lassen sich aber auch weiter entfernt vom Rhein ausmachen.
Dabei sind es besonders die klein- und mittelständischen Unternehmen, die auf beiden Seiten das volkswirtschaftliche Rückgrat bilden. Sie prägen den Handel durch Unternehmergeist und Innovationskraft massgeblich mit.
Doch der «Pandemieschock» hat Spuren hinterlassen. Wegen Corona wurde das gemeinsame Handelsvolumen um rund ein Jahrzehnt zurückgeworfen. Zudem hat schon vor der Pandemie die relative Bedeutung des deutschen Marktes aufgrund der steigenden Globalisierung der Schweizer Importe und Exporte abgenommen: Im Jahr 2020 belief sich der Anteil Schweizer Importe aus Deutschland auf 27,1 Prozent, nachdem er im Jahr 2008 bei 34,7 Prozent gelegen hatte. Gleichzeitig gingen 2020 17,9 Prozent der Exporte aus der Schweiz nach Deutschland. Im Jahr 2008 waren es noch 20,3 Prozent. Dadurch schrumpft teilweise auch der Abstand zu anderen Schweizer Handelspartnern, etwa im Bereich der Schweizer Pharmaexporte. Bei alledem bleibt das Auf und Ab des Frankenkurses ein Faktor, mit dem jeder Handelstreibende und -reisende aus Deutschland und der Schweiz zu rechnen hat.
Die enge Verflechtung zwischen Deutschland und der Schweiz stärkt die Wirtschaft auf beiden Seiten der Grenze.
Die enge Verflechtung zwischen Deutschland und der Schweiz stärkt die Wirtschaft auf beiden Seiten der Grenze. Dabei wandelt sich die Struktur des bilateralen Handels stetig.
So steigt aktuell bei vielen Unternehmen die Aufmerksamkeit für heimatnahe Beschaffungs- und Absatzpartner (sogenanntes Reshoring). Denn die aktuelle Lieferkettenproblematik, die handels- und geopolitischen Unsicherheiten, aber auch der industrielle Strukturwandel beschäftigen die Exportindustrie. Ein Beispiel ist die sich ändernde Nachfrage nach bestimmten Rohstoffen und Anwendungen für die Dekarbonisierung und Elektrifizierung unserer Wirtschaft. Der damit einhergehende Technologiewandel etwa in der deutschen Automobilbranche hat auch Folgen für Zulieferunternehmen in der Schweiz. Zudem verändern die stetig voranschreitende Digitalisierung und der zunehmende E-Commerce auch das Handelsgeschäft und seine Logistik.
Dabei sollte man nicht vergessen: Die Handelspolitik wird ein immer wichtigeres Element unserer Nachhaltigkeits- und Klimapolitik. Deutschland und die Schweiz haben im vergangenen Jahr neue Nachhaltigkeits- und Transparenzstandards für Unternehmen mit internationalen Lieferketten verabschiedet, die EU strebt dies ebenso an. Zudem soll das Vorhaben eines CO2-Grenzsteuerausgleichs als Teil des «Green Deal» der EU den Klimaschutz mit der Wettbewerbsgleichheit im Handel verbinden und fördern.
Das beachtliche Wachstum unseres bilateralen Handels über die letzten Jahrzehnte ist auch den wegbereitenden Vereinbarungen zwischen der EU und der Schweiz zu verdanken. Dazu zählen die Zollerleichterungen unter dem Freihandelsabkommen von 1972, die entfallenen Zollvoranmeldungen in einem gemeinsamen Zollsicherheitsraum und die gegenseitige Anerkennung von technischen Produktstandards. Deutschland hat ein grosses Interesse daran, diese günstigen Rahmenbedingungen im Zuge einer allgemeinen institutionellen Konsolidierung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu erhalten und zu modernisieren, etwa hinsichtlich Dienstleistungen, Beschaffungswesen und Nachhaltigkeitsstandards.
Deutschland und die Schweiz pflegen seit Langem einen offenen Dialog über die Entwicklung ihrer Handelsbeziehungen, das wirtschaftliche und europäische Umfeld und konkrete Fragen der Handelserleichterung. Jedes Jahr trifft sich der traditionelle Regierungsausschuss des schweizerischen und des deutschen Wirtschaftsressorts. Dort wie in den vielfältigen Handelsgeschäften unserer Unternehmen ist die Richtung klar: To be continued !
Zitiervorschlag: Flügger, Michael (2022). Deutschland: Handeln mit dem grossen Kanton. Die Volkswirtschaft, 09. März.