
Hersteller von Atemschutzmasken in Peking. Nach Engpässen im Jahr 2020 wurde die Produktion weltweit hochgefahren. (Bild: Keystone)
ls das Ausmass der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 deutlich wurde, stieg die Nachfrage nach persönlicher Schutzausrüstung und anderen notwendigen medizinischen Artikeln sprunghaft an. Es kam zu Engpässen, die viele Beobachter schockierten.[1] Die mangelnde Kenntnis grundlegender wirtschaftlicher Zusammenhänge verleitete dazu, vorschnelle Urteile zu fällen und Banales als Erkenntnis zu verkaufen. So wurden die grenzüberschreitenden Lieferketten zu Beginn der Corona-Pandemie Ziel vieler Schuldzuweisungen.[2] Doch hatten die Kritiker tatsächlich erwartet, dass die Anbieter von Atemschutzmasken die Nachfrage nach ihren Produkten bei einem aussergewöhnlichen Schock korrekt vorhersagen können? Wessen Vorhersagen stellten sich denn während der Pandemie überhaupt als durchgehend korrekt heraus?
Selbstverständlich mussten zurückhaltende Hersteller von Schutzausrüstung, etwa medizinischer Masken, in dieser Situation davon überzeugt werden, ihre Produktion hochzufahren. Doch als sie dies taten, stieg das Angebot auf den Weltmärkten sprunghaft an. Im dritten Quartal 2020 gab es keine Klagen mehr über entsprechende Engpässe. Der Grund dafür war vor allem eine massive Produktionssteigerung in China und generell bei Herstellern von medizinischen Geräten. Wenn überhaupt, dann ist es den grenzüberschreitenden Lieferketten zu verdanken, dass die Knappheit überwunden werden konnte.[3] Indizes zeigen, dass Unterbrechungen der Lieferketten nach ihrem Höchststand Anfang 2020 rasch zurückgingen (siehe Abbildung).
Anfängliche Unterbrechung der Lieferketten war nicht von Dauer (2016–2021)
Quelle: Internationaler Währungsfonds (2021) / Die Volkswirtschaft
Risikoverminderung kostet
Aber, wie ein amerikanisches Sprichwort sinngemäss sagt: «Eine Lüge kann um die halbe Welt reisen, während die Wahrheit noch ihre Stiefel schnürt.» Inzwischen ist daraus ein Narrativ entstanden, das besagt, das Erfolgsmodell der grenzübergreifenden Lieferketten sei gescheitert und sie sollten widerstandsfähiger werden. Sogenannte Just-in-time-Lieferketten, die möglichst auf Lagerhaltung verzichten, müssten durch Just-in-case-Beschaffungsvereinbarungen ersetzt werden, bei denen ein Lager für den Fall der (Aus-)Fälle vorsorgen soll. Doch solche pauschalen Verallgemeinerungen sind falsch. Stattdessen sollte man davon ausgehen, dass verschiedene Lieferketten unterschiedlich auf externe Ereignisse reagieren werden.[4]
Will man Engpässe reduzieren, ist es vielleicht sinnvoller, darüber nachzudenken, wie Unternehmen und Regierungen (i) die Wahrscheinlichkeit, (ii) das Ausmass und (iii) die Dauer einer übergrossen Nachfrage verringern können. Da es in der realen Welt nichts zum Nulltarif gibt, müssen wir uns fragen, wie hoch die Kosten für jeden dieser drei Ansätze sind und vor allem wer sie bezahlt. Die Erfahrungen in anderen Sektoren – etwa im Strommarkt – warnen vor zu einfachen Lösungen. Denn Massnahmen der öffentlichen Hand zur Beseitigung von Engpässen sind kostspielig. Unternehmen und Regierungen müssen daher Kosten und Risiken gegeneinander abwägen.[5]
Chinesischer Standortvorteil
Aufgrund von Kostenüberlegungen überrascht es nicht, dass viele Unternehmen seit 2020 nur vorsichtige, schrittweise Änderungen an ihren Lieferketten vorgenommen haben. So haben beispielsweise einige versucht, ihre Abhängigkeit von nur einem Lieferanten oder von Zulieferern aus einem einzigen Land zu verringern. Dies erwies sich jedoch als schwieriger als erwartet. Denn einige Produktionsländer – insbesondere China – haben erhebliche Standortvorteile gegenüber anderen Volkswirtschaften. Wenn Firmen seit der Pandemie diversifizierte Beschaffungsstrategien verfolgen, dann häufig innerhalb desselben Landes oder in derselben Region der Weltwirtschaft.
Eine Abkehr von China hat sich deshalb in den meisten Fällen nicht durchgesetzt. Auch wenn einige protektionistische Politiker gefordert haben, Hersteller von grundlegenden medizinischen Produkten müssten die Lieferketten im Ausland abkoppeln und in den Heimmarkt verlagern.
Ökonomische Zwänge
Obwohl sie zurzeit in ein schlechtes Licht gerückt werden, gibt es gute Gründe, warum grenzüberschreitende Lieferketten auch in Zukunft bestehen bleiben. Solange Handelsschranken und internationale Transportkosten nicht deutlich erhöht werden, wird die Logik des komparativen Vorteils Unternehmen einen starken Anreiz geben, internationale Kostenunterschiede auszunutzen und ihre Aktivitäten dort anzusiedeln, wo sie am effizientesten durchgeführt werden können (siehe Kasten).[6]
Kostengünstige Alternativen im Inland sind bisher allerdings häufig Mangelware. Möglich, dass der 3-D-Druck irgendwann die Kosten für die Herstellung einiger Güter in Hochlohnländern wie der Schweiz kräftig senken wird. Bisher sind solche Beispiele aber nur schwer zu finden. Kurz gesagt: Weder Interventionen der öffentlichen Hand noch der technologische Wandel haben die kommerzielle Logik globaler Lieferketten grundlegend verändert.
Zahlungsbereitschaft vorhanden?
Als Reaktion auf die aufsehenerregenden Engpässe im Jahr 2021 wurde den Unternehmen empfohlen, ihre Zulieferer stärker zu diversifizieren und die Lagerhaltung von Rohstoffen, Komponenten und Endprodukten zu erhöhen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung dieser Optionen muss jedoch sorgfältig geprüft werden. Werden die Kunden auch tatsächlich bereit sein, für eine grössere Versorgungssicherheit zu bezahlen? Ist der Steuerzahler bereit, für ein reduziertes Risiko von Versorgungsengpässen – etwa bei der Beschaffung für öffentliche Krankenhäuser – tiefer in die Tasche zu greifen?
Die Erfahrung zeigt: Regierungen sind nur kurz bereit, für Lagerhaltung zu zahlen. So stellte sich im Jahr 2020 heraus, dass die französische Regierung ihre Bestände an persönlicher Schutzausrüstung in den Jahren kurz vor der Pandemie verkauft hatte. Es wird sich zeigen, wie lange die Politik der «Versorgungssicherheit» für medizinische Ausrüstung nach dem Ende der Pandemie überlebt. Es darf bezweifelt werden, dass der momentane öffentliche Druck auf die Versorgungsketten längerfristig anhalten wird.
Geopolitische Bedeutung
Dennoch ist zu erwarten, dass sich die Lieferketten – unabhängig von der Corona-Pandemie – verändern werden. Wie so oft in der Weltwirtschaft sind es aber die langsamen Entwicklungen, welche die grössten Auswirkungen auf Unternehmen haben. Die wachsende geopolitische Rivalität etwa. Sie hat das Spektrum der Waren und Dienstleistungen erweitert, die als entscheidend für die nationale Sicherheit gelten.
Noch vor einem Jahrzehnt hätten die Regierungen in Telekommunikationsgeräten, künstlicher Intelligenz und Halbleitern keinen militärisch-strategischen Nutzen gesehen. Heutzutage tun sie es. Der Kauf von Telekommunikationsausrüstung beim chinesischen Telekomausrüster Huawei zieht beispielsweise den Zorn der US-Regierung auf sich. Ohne Aussöhnung zwischen China und den Vereinigten Staaten ist es schwer vorstellbar, dass dieser Druck auf grenzüberschreitende Lieferketten nachlässt.
Zudem hat auch im Heimmarkt der Druck von Wählern und wichtigen Interessengruppen auf die Unternehmen zugenommen. Sie fordern vermehrt, dass Firmen ihre Lieferketten nachhaltiger gestalten und nur mit Unternehmen zusammenarbeiten, die auf Zwangsarbeit verzichten. In der Schweiz fand im November 2020 eine Volksabstimmung über sogenannte verantwortungsvolle Geschäftspraktiken einschliesslich der Praktiken in der Lieferkette statt. In Deutschland hat dies zu strengeren gesetzlichen Auflagen für Unternehmen mit internationalen Lieferketten geführt. Entsprechend zugenommen haben auch die Anforderungen an die Firmen, die Einhaltung dieser Vorschriften nachzuweisen.
EU plant CO2-Zoll
Der Anreiz zur Umgestaltung bestimmter Lieferketten wird ausserdem zunehmen, wenn Regierungen Strafzölle auf Waren erheben, die aus Ländern mit niedrigeren oder gar keinen Steuern auf CO2 stammen. Der Teufel steckt in den Details des sogenannten CO2-Grenzausgleichssystems, eines aktuellen Vorhabens der Europäischen Kommission. Dieses Projekt sollten Führungskräfte von Unternehmen künftig im Auge behalten. Denn die derzeitige Europäische Kommission scheint fest entschlossen, Einfuhrbeschränkungen oder Sanktionen für Produkte aus solchen Ländern zu verhängen. Es wird interessant sein, zu sehen, ob sich dabei Clubs von Ländern mit ähnlicher CO2-Besteuerung bilden und ob sich die Lieferketten so umgestalten, dass sie vollständig innerhalb solcher Clubs operieren.
Wie auch immer: Internationale Lieferketten werden auch in Zukunft kaum lange stillstehen. Dafür sorgt das sich ständig ändernde Wirtschaftsumfeld. Nicht erwarten sollten wir jedoch, dass die Pandemie in vielen Sektoren zu einer dramatischen Veränderung der grenzüberschreitenden Beschaffungsmuster führen wird.[7] Evolution statt Revolution – so könnte man die wahrscheinliche Entwicklung dieser Geschäftspraxis zusammenfassen, die ein wichtiger Bestandteil der internationalen Strategien vieler kleiner und grosser Schweizer Unternehmen ist. Dennoch können wir nicht gänzlich ausschliessen, dass abrupte Veränderungen in der Politik – sei es aus Gründen der Nachhaltigkeit, der sozialen Verantwortung von Unternehmen oder des Klimawandels – in den kommenden Jahren die Lieferketten erheblich beeinflussen werden.
Literaturverzeichnis
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Evenett, S.J. (2021). Chinese Whispers: COVID-19, Global Supply Chains in Essential Goods, and Public Policy, Journal of International Business Policy, 3(4): 408–429.
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Gereffi, G (2020). What Does the COVID-19 Pandemic Teach Us about Global Value Chains? The Case of Medical Supplies, Journal of International Business Policy, 3(3): 287–301.
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McKinsey Global Institute (2020). Risk, Resilience and Rebalancing in Global Supply Chains. 6 August.
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Mirodout, S (2020). Reshaping the Policy Debate on the Implications of COVID-19 for Global Supply Chains, Journal of International Business Policy, 3(4): 430–442.
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Simola, H. (2021). The Impact of COVID-19 on Global Value Chains. SUERF Policy Brief No 70. April.
Bibliographie
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Zitiervorschlag: Evenett, Simon J. (2022). Internationale Lieferketten: Viel ändert sich nicht. Die Volkswirtschaft, 09. März.