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«Handelspolitik löst nicht alle Probleme der Welt»

Seit zehn Jahren leitet Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Jetzt tritt sie zurück. Im Interview spricht sie über China, die WTO und eine zunehmend kritische Bevölkerung: «Fragen zur Umwelt braucht es. Aber wir dürfen das Fuder nicht überladen.»

«Handelspolitik löst nicht alle Probleme der Welt»

Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch: «Ich bin der Meinung, dass man sich nicht an ein Amt klammern und einfach auf die Pensionierung warten soll.» (Bild: Keystone / Anthony Anex)
Frau Ineichen-Fleisch, Sie legen in ein paar Monaten Ihr Amt nieder. Weshalb?

Ich bin der Meinung, dass man sich nicht an ein Amt klammern und einfach auf die Pensionierung warten soll. Ich habe das Seco über zehn Jahre mit viel Herzblut geleitet. Jetzt ist ein guter Moment zu gehen. Die Corona-Situation bessert sich für die Wirtschaft, und im Sommer geht es mit einer neuen Person weiter.

Das Thema Aussenhandel schliessen Sie mit einem Glanzergebnis ab: 2021 war ein Rekordjahr für Schweizer Exporte. Ist es wichtig, dass die Schweiz mehr exportiert als importiert?

Nein. Es gibt auch Länder, aus denen wir mehr importieren als exportieren. Es ist ein Mix. Aber in der Summe haben wir seit Langem einen Exportüberschuss. Ein Grossteil unseres wirtschaftlichen Wachstums geht auf unsere Exporte zurück. Diese sind vor allem wegen der Pharma- und der chemischen Industrie so hoch. Seit der Pandemie versteht man das vielleicht noch ein bisschen besser.

Viele Länder haben eine merkantilistische Haltung: Exporte sind gut, Importe sind des Teufels. Gerade die USA wollen mehr exportieren.

Merkantilisten sehen den Handel als Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Wir sind überzeugt, dass das falsch ist: Handel bringt Win-win. Jeder soll das produzieren, was er am besten kann. Auch aufgrund des hohen Schweizer Preisniveaus müssen wir uns auf das konzentrieren, was wir gut machen.

Eben hat der Bundesrat eine neue Aussenwirtschaftsstrategie verabschiedet. Warum gerade jetzt?

2018 haben wir uns erste Überlegungen dazu gemacht. Damals hatte sich gerade das internationale Umfeld stark verändert: Präsident Trump war in den USA an der Macht, China musste sich positionieren, und viele Schwellenländer wurden immer wichtiger. Wir fragten uns: Ist die Schweiz in diesem Umfeld noch richtig aufgestellt? Die neue Strategie bringt keinen Richtungswechsel. Sie ist eine Aktualisierung der Strategie aus dem Jahr 2004. Sie berücksichtigt Entwicklungen und integriert neue Ideen.

Was sind solche neuen Ideen?

Neu hinzugekommen sind zum Beispiel zwei politische Schwerpunktthemen: eine umfassendere Berücksichtigung der Nachhaltigkeit und die Digitalisierung im Handel. Zudem wollen wir künftig auch die Partizipation und die Transparenz in der Aussenwirtschaftspolitik fördern. Wir wollen die Leute besser abholen. Das Abkommen mit Indonesien – das mit nur 90’000 Stimmen Unterschied angenommen wurde – hat uns schon ….

…erschreckt?

Ja. Wir haben mit einer soliden Mehrheit im Volk gerechnet. In der Diskussion ging es dann nur ums Palmöl, vom Handelsvolumen her ein ganz winziger Teil des Abkommens. Und dabei hatten wir mit dem zertifizierten Palmöl eine absolut innovative Lösung.

Freihandel bedeutet nicht, dass Handel frei von jeder Regel ist

Was lief schief?

Wir hätten besser aufzeigen müssen, was Handel für den Wohlstand der Schweiz ausmacht und dass Freihandel nicht bedeutet, dass Handel frei von jeder Regel ist, sondern frei von Zöllen und von quantitativen Beschränkungen. Die Diskussion hätte sich auch darum drehen sollen, welchen Stellenwert der Handel für unseren Wohlstand hat.

In der Strategie steht auch, dass man Wirtschaftspartner wie die USA und China priorisieren will. Kann das gleichzeitig gelingen?

Ja. Ich glaube nicht, dass man zwischen den beiden wählen muss. Wir müssen beim Handel weltweit diversifizieren. Aber: Bei den Werten sind wir klar Europäer. Wir setzen uns für diese Werte ein. Wir sagen das den Chinesen, aber auch den Amerikanern. Wir müssen nicht gegen die einen und für die anderen sein. Wir müssen nach unserem Selbstverständnis diese Märkte offen halten, aber auch klar kommunizieren, was uns am Herzen liegt. Bis jetzt sind wir damit gut gefahren. Die Tatsache, dass wir Sitz vieler internationaler Organisationen sind und international häufig unsere Guten Dienste anbieten können, ist auch Beweis dafür, dass unsere Unabhängigkeit international anerkannt wird.

China und die USA nehmen in der Strategie etwa so viel Platz ein wie die EU – wieso steht nicht mehr zur EU?

Es steht einiges über die EU in dieser Strategie. Die EU ist unsere wichtigste Handelspartnerin. Deshalb steht ein wesentlicher Satz drin, nämlich, dass wir den bilateralen Weg fortsetzen wollen. Das heisst: Wir wollen keinen EWR-, keinen EU-Beitritt, aber auch nicht nur ein Freihandelsabkommen. Der Bundesrat ist jetzt daran, sich zu überlegen, wie er diese Strategie umsetzen will.

Welche Themen in der neuen Aussenwirtschaftsstrategie liegen Ihnen nach 30 Jahren Handelserfahrung persönlich am meisten am Herzen?

Der Multilateralismus und der Marktzugang. Das bleiben klar die zentralen Pfeiler.

Sprechen wir über den Multilateralismus: Vor 20 Jahren startete die Doha-Runde, von der hört man heute überhaupt nichts mehr. Warum?

Die Handelsrunde davor – die Uruguay-Runde – war ja von vielen Ländern noch gar nicht umgesetzt, und schon wollte man mit der Doha-Runde den nächsten Öffnungsschritt machen. Damit hat man sich eindeutig übernommen. Ein weiterer Grund war, dass China kurz vorher Mitglied der WTO wurde. China hat die WTO mitverändert.

Wie denn?

China nennt sich innerhalb der WTO noch immer Entwicklungsland. Das ist mit Vorzügen verbunden. Gleichzeitig produziert China heute aber effizienter als manches Industrieland. Auch deshalb sind Marktöffnungen in der WTO zurzeit schwierig. Denn wenn man öffnet, muss man sich aufgrund der Meistbegünstigungsklausel gegenüber allen Mitgliedsstaaten öffnen – auch gegenüber dem wettbewerbsfähigen China. Das wollen viele Mitglieder nicht. Zudem greift China mit seinen Staatsunternehmen aktiv in den Handel ein; hierfür gibt es in der WTO aber keine geeigneten Regeln.

Viele Länder betreiben Protektionismus und wollen im eigenen Land Ungleichheiten bekämpfen

Ist die Zeit der grossen Handelsrunden zu Ende?

Ja. Heute stehen die Zeichen eher auf sektorielle Verhandlungen, aber auch diese brauchen viel Zeit. Zudem betreiben viele Länder Protektionismus und wollen im eigenen Land Ungleichheiten bekämpfen.

Der multilaterale Weg ist auch aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips blockiert. Muss man es abschaffen?

Da bin ich mir nicht sicher. Es schützt ja auch die Mitglieder. Wenn die Einstimmigkeit fällt, sind plötzlich die entwickelten Länder in der Minderheit. Bisher haben wir immer gesagt: Konsens ist gut, denn er hilft den Kleinen. Aber natürlich ist die Einstimmigkeit eine Herausforderung.

Was ist die Alternative?

Wenn es nicht multilateral geht, dann müssen wir plurilateral verhandeln. Das heisst, dass einige WTO-Mitglieder unter sich Abkommen abschliessen, denen später weitere Länder beitreten können. Aber ob das der Weg der Zukunft ist, muss sich noch zeigen. Länder wie Indien sind sogar der Meinung, dass dieser Weg nach den geltenden Regeln gar nicht gangbar ist, und üben entsprechende Kritik.

Welche Reformen der WTO würde die Schweiz unterstützen?

Kurzfristig müsste die volle Funktionsfähigkeit des Streitschlichtungsmechanismus wiederhergestellt werden. Mittelfristig müsste die Verhandlungsfunktion der WTO gestärkt werden. Inhaltlich brauchte man Instrumente, um die chinesischen Staatsunternehmen in den Griff zu bekommen. Zudem müsste man die Themenpalette erweitern – etwa um die Themen Nachhaltigkeit, Handel und Gesundheit sowie den digitalen Handel. Hier laufen zwar Verhandlungen, aber der Durchbruch lässt auf sich warten. Der Umweltaspekt ist übrigens auch dank der Schweiz auf der Agenda, aber manche lancierte Verhandlung in diesem Bereich wurde leider auf Eis gelegt.

Sie sind ein Fan des Multilateralen. Wie sieht es mit den bilateralen Freihandelsabkommen aus?

Für ein Land wie die Schweiz ist der Zugang zu ausländischen Märkten zentral. Genau hier kommen wir aber multilateral aufgrund der genannten Meistbegünstigungsklausel nicht weiter. Nur Freihandelsabkommen erlauben uns, diese Klausel zu umschiffen. Früher waren Freihandelsabkommen komplementär zur multilateralen Marktöffnung. Heute sind sie ihr Ersatz.

Welche Abkommen stehen vor einem Abschluss?

Mit Mercosur sind die Verhandlungen in der Substanz abgeschlossen. Es fehlt nur noch die finale rechtliche Prüfung. Als Nächstes folgen Vietnam und Malaysia. Verhandlungen möchten wir mit Thailand wiederaufnehmen, und dann gibt es Verhandlungen mit kleineren Ländern wie Moldova und dem Kosovo, die auch ein politisches Signal sind.

Vor der Volksabstimmung über das Abkommen mit Indonesien schien der Rückhalt in der Bevölkerung für solche Abkommen grösser. Warum?

Einerseits interessierten solche Fragen früher vor allem Spezialisten. Andererseits klärten frühere Handelsabkommen vor allem reine Zollfragen. So betraf das Freihandelsabkommen Schweiz – EU von 1972 vorwiegend den Güterhandel. Dann kamen die Dienstleistungen dazu, und damit begannen grössere Kreise Ende der Neunzigerjahre sich für die Handelsregeln zu interessieren. Denn mit den Dienstleistungen hat man direkten Einfluss auf die innerstaatlichen Gesetzgebungen. Da wurden die Leute hellhörig und kritischer.

Alles begann also nach der Gründung der WTO 1995?

Sieht so aus. Am Anfang – mit dem Beitritt Chinas und Russlands – hatte man noch die Hoffnung, dass sich diese Länder durch das Öffnen der Märkte demokratisieren würden. Doch das hat sich – zumindest bis heute – nicht bewahrheitet.

Menschenrechte, Umwelt- und Sozialauflagen – verknüpfen wir zu viel mit dem Handel?

Wir verknüpfen ja vor allem Themen, die mit dem Handel zusammenhängen. Ich bin überzeugt: Fragen zur Umwelt und zu Produktionsmethoden braucht es. Aber: Wir dürfen das Fuder nicht überladen. Handelspolitik löst nicht alle Probleme der Welt.

Die Schweiz schafft 2024 ihre Einfuhrzölle auf Industrieprodukte ab. Worüber verhandeln wir künftig?

Für die künftigen Verhandlungen ist das kein Problem. Was wollen Sie denn mit den heute schon so tiefen Zöllen noch gross verhandeln? Ohne Einfuhrzölle werden die Vorleistungen billiger, und die Konsumenten haben günstigere Produkte.

Erhöht die Abschaffung den Druck auf landwirtschaftliche Produkte?

Nein, das sind immer separate Verhandlungen.

Wir haben ja schon alles im Überfluss, aber wir ersetzen weniger Gutes mit Besserem

Dann wird es keine tieferen Zölle im Agrarsektor geben?

Jedenfalls nicht grossflächig. Einige Zusagen müssen wir bei Verhandlungen schon machen. Das sind aber kleine Kontingente für ganz spezifische Produkte aus einzelnen Ländern, beispielsweise rotes Fleisch aus den Mercosur-Staaten. Diese Länder wissen, dass man die Menschen in der Schweiz nur mit qualitativ hochstehenden Produkten ansprechen kann. Wir haben ja schon alles im Überfluss, aber wir ersetzen weniger Gutes mit Besserem. Und wenn ein Land etwas Besseres hat, dann hat es eine Chance.

Und der Bauernverband ist damit einverstanden?

Wir haben den Ansatz mit dem Bauernverband besprochen. Solange nur Nischenprodukte importiert werden, gibt es keinen allgemeinen Preisdruck für Schweizer Landwirte.

New York, Chicago und Berlin: Sie waren für Marathonläufe dort, richtig?

Ja, richtig, Sport tut mir gut, denn eine gute körperliche Verfassung hilft mir bei den vielen Reisen und der grossen Arbeitslast. Wenn ich weniger Bewegung habe, spüre ich das sofort.

Hatte die Covid-Krise einen Einfluss auf Ihre Entscheidung, das Amt zu verlassen?

Nein, ich habe diese Zeit zwar als sehr herausfordernd, aber auch als sehr spannend empfunden. So war das Aufgleisen und Umsetzen der wirtschaftlichen Hilfsmassnahmen sportlich, denn alles musste sehr schnell gehen. Was für ein Unterschied zu den normalen Verfahren in der Bundesverwaltung! Nun werde ich bald 61 – Zeit, etwas Neues zu starten.

Zitiervorschlag: Guido Barsuglia (2022). «Handelspolitik löst nicht alle Probleme der Welt». Die Volkswirtschaft, 09. März.

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch
Die 60-jährige Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch ist Staatssekretärin und leitet seit 2011 das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Sie studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern und erwarb ein MBA des Insead in Fontainebleau, Frankreich. Seit 1991 arbeitet sie für das Seco resp. für dessen Vorgängerorganisation, das Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi). Ihre Nachfolge ist noch nicht ernannt und soll ihr Amt im August 2022 übernehmen.