Suche

Abo

Handelstheorie nach Lehrbuch

Die Realität ist komplex und verstellt manchmal den Blick aufs Wesentliche. Die ökonomische Theorie vereinfacht und klärt: Wer profitiert unter welchen Umständen vom Handel, wer verliert, und was bedeutet Handel für die Umwelt?

Handelstheorie nach Lehrbuch

Handel begünstigt nicht nur Exporteure. Von billigeren Importen profitieren insbesondere die Konsumenten. (Bild: Keystone)

Kann man den Inhalt von Lehrbüchern, welche Tausende von Aufsätzen bereits verdichten, auf ein paar Zeilen zusammenfassen – und soll man dies überhaupt versuchen? Diese Frage ging mir durch den Kopf, als ich angefragt wurde, diesen Beitrag zu verfassen. Meine Folgerung: Ja, es könnte sich lohnen.

Im Grunde erfassen zwei Konzepte die Essenz der Handelstheorie. Das eine ist das Konzept von Angebot und Nachfrage, das die Auswirkungen des internationalen Handels auf eine einzelne Industrie analysiert («Partialgleichgewichtsmodell»). Das andere ist das Konzept der Produktionsmöglichkeitenkurve, welche auf der Basis des «Allgemeinen Gleichgewichtsmodells» die Interaktion zweier Industrien in den Vordergrund stellt.

Das Partialgleichgewichtsmodell

Stellen Sie sich ein Land vor, das zahlreiche Güter und Dienstleistungen produziert. Darunter befinden sich solche, welche der Industrie Y (zum Beispiel der Nahrungsmittelindustrie) zugeordnet werden. Die Abbildung 1 erfasst den Markt für diese Industrie, welche durch viele Anbieter und Nachfrager gekennzeichnet ist. Auf der vertikalen Achse ist der Durchschnittspreis (P), auf der horizontalen die produzierte Menge (Q) abgebildet. Die positiv geneigte Angebotskurve (S) zeigt, welchen Output die Unternehmen in dieser Industrie bei unterschiedlichen Preisen anbieten. Die negativ geneigte Nachfragekurve (D) stellt die entsprechenden Mengen dar, welche die Konsumentinnen bei unterschiedlichen Preisen nachfragen. Das Angebot steigt mit zunehmendem Preis, während die Nachfrage abnimmt.

Abb. 1: Das Partialgleichgewichtsmodell mit einer Industrie Y

 

Quelle: Eigene Darstellung des Autors / Die Volkswirtschaft

 

Ohne internationalen Handel befindet sich das Gleichgewicht dort, wo die Angebotskurve die Nachfragekurve schneidet. Diese Autarkiesituation ist durch Punkt A gekennzeichnet, mit dem Preis PA und der Menge QA. Da die Angebotskurve die Produktionskosten der Unternehmen für unterschiedliche Produktionsmengen und die Nachfragekurve die entsprechende Zahlungsbereitschaft der Konsumentinnen verkörpert, kann die Fläche 1+2+3+4 als Mass des «Wohlbefindens» von Anbietern und Nachfragerinnen in diesem Markt interpretiert werden. Sie entspricht der Summe der sogenannten Produzentenrente (Differenz zwischen Preis und individuellen Produktionskosten, Fläche 3+4) und der Konsumentenrente (Differenz zwischen individueller Wertschätzung und bezahltem Preis, Fläche 1+2).

Gewinner und Verlierer

Was geschieht, wenn das Land den internationalen Handel von Y zulässt? Hier müssen wir zwischen zwei Fällen unterscheiden. Wenn das Ausland billiger ist bei der Herstellung von Y, wird der Weltmarktpreis unter PA liegen. Das Ergebnis: Der Preis sinkt auch im Inland auf PI, die inländische Produktion nimmt von QA auf QH ab, und die steigende inländische Nachfrage wird durch Importe befriedigt. Die inländischen Anbieter verlieren die Fläche 3 an Produzentenrente, während die Konsumentinnen die Fläche 3+6 an Konsumentenrente hinzugewinnen. Das Wohlbefinden im Land steigt damit durch den Handel insgesamt um die Fläche 6.

Im anderen Fall – wenn das Ausland weniger gut in der Herstellung von Y ist – liegt der Weltmarktpreis oberhalb von PA. Eine Öffnung der Grenzen führt zu einer Erhöhung des inländischen Preises, beispielsweise auf PE. Die inländische Produktion in der Y-Industrie nimmt zu, während die Nachfrage zurückgeht. Die inländischen Konsumentinnen verlieren (im Vergleich zur Autarkie) die Fläche 2 an Konsumentenrente, während die Produzentenrente um die Fläche 2+5 steigt. Wiederum gewinnt das Land durch den Handel – im Exportfall nun um die Fläche 5.

Die zentralen Erkenntnisse aus dem Partialgleichgewichtsmodell sind also: Erstens stellt der internationale Handel das Land besser, und zwar unabhängig davon, ob es nach der Öffnung zu einer Exporteurin oder zu einer Importeurin wird. Zweitens führt der Handel innerhalb des Landes sowohl zu Gewinnern wie auch zu Verlierern. Auf der Basis dieses Konzepts lassen sich so in der Praxis Auswirkungen von Importbeschränkungen oder Exportförderungen abschätzen.

Handel und Umwelt

Das Konzept liefert aber noch weitere Einsichten – beispielsweise zur Umwelt. Nehmen wir an, die Y-Industrie stellt eine Belastung für die Umwelt dar: Sie stösst CO2-Emissionen aus und verschmutzt Wasser und Boden. Wenn eine Handelsliberalisierung dazu führt, dass Y exportiert wird, erhöht dies die Umweltverschmutzung durch das Inland, weil mehr im Inland produziert wird. Führt Handel zum Import von Y, senkt dies die Umweltbelastung im Inland.

Die weltweite Umweltbelastung verändert sich nicht, wenn die Umweltvorschriften im In- und Ausland identisch sind – sieht man von den Umwelteffekten des internationalen Transports ab. Sind allerdings die Umweltregulierungen im Ausland weniger restriktiv als im Inland, dürfte im Importfall die weltweite Umweltverschmutzung trotz der reduzierten Verschmutzung im Inland steigen; im Exportfall ist dies genau umgekehrt.

Schliesslich lässt sich so auch die Auswirkung einer Verschärfung der inländischen Umweltvorschriften diskutieren. Diese dürfte die Kosten der inländischen Y-Industrie erhöhen, was S nach links oben verschiebt. Im Importfall von Y (der Preis liegt in Abbildung 1 bei PI) nehmen dadurch die Importe zu, was die Umweltverschmutzung im Ausland erhöht. Umgekehrt würde eine Besteuerung der inländischen Konsumentinnen beim Kauf der umweltschädlichen Güter der Y-Industrie die inländische Nachfragekurve in Abbildung 1 nach links verschieben. Dies hätte weniger Importe zur Folge und würde die Verschmutzung im Ausland reduzieren, nicht aber diejenige im Inland.

Wie die Anwendung des Konzepts auf den Zusammenhang zwischen Handel und Umwelt zeigt, kann sowohl die Handelsliberalisierung wie auch die Verschärfung von Umweltvorschriften in offenen Volkswirtschaften für die (globale) Umwelt unerwartete Folgen haben, wenn beispielsweise die Produktion ins Ausland verlagert wird, wo die Umweltanforderungen geringer sind.

Allgemeines Gleichgewichtsmodell

Man mag sich in der obigen Analyse fragen, wie die durch die Handelsliberalisierung in der Y-Industrie freigesetzten Produktionsfaktoren – Arbeit, Kapital, Natur – neu eingesetzt werden (Importfall) bzw. woher die zusätzlich benötigten Produktionsfaktoren kommen (Exportfall). Für eine Antwort muss die Partialbetrachtung in Abbildung 1 um mindestens eine zusätzliche Industrie (nennen wir sie X-Industrie – z. B. die Pharmaindustrie) erweitert werden. Diese Situation ist in Abbildung 2 erfasst.

Abb. 2: Allgemeines Gleichgewichtsmodell mit zwei Industrien X und Y

Quelle: Eigene Darstellung des Autors / Die Volkswirtschaft

 

Die nach aussen gewölbte Kurve in Abbildung 2 repräsentiert sämtliche Möglichkeiten, die das Inland mit den verfügbaren Ressourcen hat, Güter und Dienstleistungen in der Y- und der X-Industrie bereitzustellen.[1] Die Autarkiesituation ist durch den Punkt A charakterisiert, in dem das Land die Menge QYA (was in Abbildung 1 QA entspricht) sowie QXA in der X-Industrie herstellt und diese Mengen auch im Inland konsumiert.

Was passiert nun, wenn das Land den internationalen Handel von Y und X öffnet? Wir betrachten hier den Importfall (PI<PA in Abbildung 1). Wie wir aus Abbildung 1 wissen, sinkt der Preis in der inländischen Y-Industrie und damit deren Produktion. Abbildung 2 zeigt nun, dass die frei gewordenen Ressourcen in der X-Industrie eingesetzt werden. Diese expandiert aufgrund des gestiegenen relativen Preises von X im Verhältnis zu Y. Das neue Produktionsgleichgewicht verschiebt sich durch den Handel von Punkt A nach H. Die gestrichelte Preisgerade durch Punkt H reflektiert den neuen relativen Preis von X nach der Öffnung, zu dem die Produktionen der X- und der Y-Industrie international gehandelt werden.

Folgen des Strukturwandels

Zentral ist, dass das Land durch den Handel den Konsumpunkt (K) von der Produktionsmöglichkeitenkurve lösen kann, indem Y importiert und X exportiert wird. Durch den Handel stellt sich das Land insgesamt besser, da von beiden Gütern mit denselben Ressourcen mehr (Punkt K) konsumiert werden kann als im Autarkiefall (Punkt A). Allerdings führt der Strukturwandel der inländischen Wirtschaft von der Y- zur X-Industrie in der Regel wiederum zu Gewinnern und Verlierern. Zu den Verlierern gehören beispielsweise die in der Nahrungsmittel-Industrie (Y) spezifisch ausgebildeten Fachkräfte, die in der Pharmaindustrie (X) kaum eingesetzt werden können. Sie müssen deshalb in der schrumpfenden Nahrungsmittelindustrie eine Lohneinbusse in Kauf nehmen oder, bei unflexiblen Löhnen, eine zumindest temporäre Arbeitslosigkeit.

Auch das allgemeine Gleichgewichtsmodell liefert zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten: Erstens kann man durch die Präzisierung der Produktionsstruktur die Umverteilungseffekte des Handels genauer studieren. Zweitens zeigt Abbildung 2, dass die Spezialisierung durch Handel grundsätzlich die Abhängigkeit eines Landes erhöht. Denn im neuen Gleichgewicht (H) produziert das Land viel weniger Nahrungsmittel (X) als im Autarkiepunkt A und wird damit im Konsum von Importen abhängig, während es mehr Medikamente (Y) produziert und hier in der Produktion vom Zugang zum Weltmarkt abhängig wird.

Drittens stellt Abbildung 2 die Basis für die Analyse von Produktivitätssteigerungen im Inland oder des internationalen Austausches von (digitalen) Arbeitsleistungen und Zwischenprodukten dar: Die Produktionsmöglichkeitenkurve verschiebt sich tendenziell nach rechts – der inländische Konsum nimmt zu. Umgekehrt impliziert das Konzept, dass bei Nutzung internationaler Austauschmöglichkeiten ein bestehendes Konsumniveau (zum Beispiel der Punkt A) mit geringerem Ressourcenverbrauch erreicht werden kann als in Autarkie, weil die Ressourcen bei Handel effizienter eingesetzt werden.

Ein Hauch von Gefahr

Der amerikanische Handelstheoretiker Ronald W. Jones sagte einst: «Dem internationalen Handel haftet seit je eine Spur von Romantik an – die Verlockung des Exotischen, der Hauch von Gefahr.» Die beiden hier vorgestellten Konzepte erklären, warum dem so ist. Der Handel impliziert sowohl Exporte wie auch Importe (wobei das eine nicht besser als das andere ist). Er erhöht nicht die Zahl der Arbeitsplätze, sondern die Effizienz. Innerhalb der Länder gewinnen nicht alle. Gerade die Politik könnte meines Erachtens von diesen Grundlagen einiges lernen. Um auf meine Frage vom Anfang zurückzukommen, ob man die «Handeltstheorie nach Lehrbuch» auf diese Kürze weiter verdichten sollte: Ja, ich denke, es hat sich gelohnt.

  1. In der Handelstheorie werden auch andere Formen der Produktionsmöglichkeitenkurve diskutiert, was die folgende Argumentation aber nicht ändert. []

Zitiervorschlag: Rolf Weder (2022). Handelstheorie nach Lehrbuch. Die Volkswirtschaft, 09. März.