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Das wiederkehrende Dilemma der Zentralbanken

Die zwei Ziele der Geldpolitik – Preis- und Konjunkturstabilität – lassen sich nicht immer unter einen Hut bringen. Eine entscheidende Rolle spielen die Erwartungen der Bevölkerung.
Der Ausbau der erneuerbaren Energieträger wirkt sich erst langfristig günstig auf die Preise aus – kurzfristig treibt er hingegen die Teuerung an. (Bild: Keystone)

Die Zielsetzungen der Zentralbanken haben sich in den vergangenen Jahrzehnten angeglichen und kommen in ihren Mandaten zum Ausdruck: Die Geldpolitik soll einerseits für Preisstabilität sorgen, andererseits soll sie zur Stabilisierung der konjunkturellen Entwicklung beitragen. Allfällige zusätzliche Ziele – beispielsweise gehören in den USA moderate langfristige Zinsen dazu – spielen eine untergeordnete Rolle oder ergeben sich aus den anderen beiden Zielen.[1]

Unterschiede gibt es hingegen bei der Gewichtung der beiden geldpolitischen Ziele. Für die Schweizerische Nationalbank (SNB) steht zum Beispiel laut dem Nationalbankgesetz die Preisstabilität im Vordergrund. Der konjunkturellen Entwicklung soll dabei «Rechnung getragen» werden. Auch bei der Europäischen Zentralbank (EZB) steht die Preisstabilität an erster Stelle. Ihr konjunkturpolitischer Auftrag leitet sich aber nur indirekt daraus ab, dass sie die Wirtschaftspolitik der EU unterstützen soll. Anders sieht es bei der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) aus: Sie hat die Stabilisierung der Preisentwicklung und die Stützung der Konjunktur als gleichwertige Ziele formuliert. So steht im Federal Reserve Act, dass sie die «maximale Beschäftigung» und «stabile Preise» begünstigen soll.

Fokus auf Preisstabilität

Trotz dieser unterschiedlichen Gewichtungen sind die Herausforderungen im geldpolitischen Alltag für die meisten Zentralbanken ähnlich. So sind beispielsweise Reaktionen auf makroökonomische Störungen oder «Schocks» gefragt, um die stabile Entwicklung der Preise und der Realwirtschaft zu sichern. Gerade bei einem Anstieg der Inflation ist dies schwierig, weil bei Veränderungen im Preisniveau nicht unmittelbar feststellbar ist, ob es sich um Verschiebungen relativer Preise oder allgemeine inflationäre Tendenzen handelt.

Dabei gilt es auch Anpassungsprozesse und deren Wirkungen auf die Preise zu berücksichtigen: Wenn es beispielsweise für die Reduktion von Treibhausgasen erforderlich ist, fossile Brennstoffe teurer zu machen, werden sich die Preise anderer Güter nicht gleichzeitig ändern. Erst mittelfristig ist mit einer Verschiebung der Nachfrage, mit erhöhten Investitionen in weniger CO2-intensive Energiequellen oder alternative Technologien und mit mehr Innovation zu rechnen, was die Produktion erneuerbarer Energie relativ günstiger macht. Die Zentralbank kann dazu beitragen, dass sich die relativen Preise anpassen, indem sie den Aufwärtsdruck auf das Preisniveau bekämpft und für allgemeine Preisstabilität sorgt.[2]

Zwei Arten von Schocks

Eine weitere Herausforderung ist die Unterscheidung zwischen nachfrageseitigen und angebotsseitigen Schocks. Auf der Nachfrageseite kann sich zum Beispiel die Konsumentenstimmung verschlechtern: Weil sich die Unsicherheit über die Zukunft erhöht hat, geben Konsumentinnen und Konsumenten weniger aus. Demgegenüber ist ein typischer Schock auf der Angebotsseite die Verknappung von Vorleistungsgütern wie Rohstoffen oder Halbleitern. Ein solcher kann die Produktion massgeblich verteuern.

In der Praxis sind Angebots- und Nachfrageschocks allerdings nicht immer trennscharf unterscheidbar und treten nicht immer isoliert auf. Ein gutes Beispiel ist der Lockdown in der Schweiz im März 2020: Die hohe Unsicherheit und der Anstieg der Arbeitslosigkeit drückten zu Beginn der Corona-Pandemie auf die Nachfrage. Gleichzeitig beschnitten die Eindämmungsmassnahmen und die Beschränkungen der Mobilität das Angebot stark.

Grundsätzlich ist es für eine Zentralbank einfacher, auf Nachfrageschocks zu reagieren als auf Angebotsschocks. Mit einer expansiven Geldpolitik kann sie in einer Rezession sinkende Preise, unterausgelastete Kapazitäten und höhere Arbeitslosigkeit bekämpfen. Damit kann sie beide Ziele – Preisstabilität und Stabilisierung der Konjunktur – gleichzeitig verfolgen. Die Kunst besteht darin, die richtige Dosierung zu finden. Denn wenn eine Zentralbank das geldpolitische Gaspedal zu lange drückt, drohen Überhitzungs- und Inflationstendenzen.

Stagflation als Worst Case

Schwieriger ist die Lage bei angebotsseitigen Störungen. Hier befindet sich die Zentralbank potenziell im Dilemma: Soll sie für stabile Preise sorgen oder die Konjunktur unterstützen? Das bekannteste Beispiel ist die «Stagflation»[3] in den frühen 1970er-Jahren, als eine weltweite Verknappung des Erdölangebots zu einer Stagnation führte und gleichzeitig via eine Lohn-Preis-Spirale auch die Inflation befeuerte. Die Herausforderung für eine Zentralbank ist dann, dass eine Bremsung der Preissteigerungsdynamik über eine zusätzliche Drosselung der Konjunktur erkauft werden muss.

In einer solchen Situation wird der politische Druck auf die Währungshüter besonders gross, weil die Bremswirkung auf die Konjunktur in der Regel früher als die Dämpfung der Preisdynamik einsetzt. Dies ist einer der Gründe, weshalb fast alle modernen Zentralbanken mit einem hohen Grad an formeller politischer Unabhängigkeit ausgestattet wurden. Damit können sie sich auf die Inflationsbekämpfung konzentrieren und eher verhindern, dass sich die Inflationserwartungen rasch erhöhen.[4]

Denn diese Inflationserwartungen spielen eine zentrale Rolle: Je besser eine Zentralbank Unternehmen und Bevölkerung davon überzeugen kann, dass die Teuerung mittelfristig auf einem tiefen Niveau verharrt, desto kleiner ist die Gefahr einer sich über Erwartungseffekte selbst verstärkenden Inflation. Wenn die Inflationserwartungen gut verankert sind, muss die Zentralbank bei einem Angebotsschock zudem die Konjunktur weniger vehement bremsen. Entsprechend ist das Dilemma zwischen ihren Zielen schwächer ausgeprägt.

Relativ wenig Aufmerksamkeit erhielten die positiven Angebotseffekte in den letzten 30 Jahren, dank denen, auch in Phasen dynamischen Wachstums, der Aufwärtsdruck auf die Preise gering blieb. Die zunehmende weltwirtschaftliche Integration hatte zu einem empirisch gut belegten Preisdruck nach unten geführt.[5] Die Aufgabe der Zentralbanken wurde dadurch nicht unbedingt einfacher, vor allem nach der Finanzkrise von 2008. Tiefe Inflationsraten und global deutlich gesunkene Realzinsen erforderten trotz rekordtiefer geldpolitischer Leitzinsen zusätzliche unkonventionelle Massnahmen[6], um für angemessene monetäre Bedingungen zu sorgen.[7]

Eine neue Ära

Diese Phase scheint vorbei zu sein. In der näheren Zukunft dürften die Zentralbanken stärker mit dem oben beschriebenen Dilemma konfrontiert sein. Verschiedene angebotsseitige Faktoren wirken derzeit tendenziell preistreibend. Insbesondere die Energiepreisentwicklung zeigt nach oben, nicht nur als Konsequenz des Russland-Ukraine-Konflikts, sondern langfristig auch aufgrund bewusster energiepolitischer Entscheidungen. Immerhin ist die Schweiz hier im europäischen Vergleich weniger stark exponiert, da die Gewichtung von Energieträgern im Warenkorb verglichen mit anderen europäischen Ländern relativ tief ist (siehe Abbildung).

Anteil von Energie im harmonisierten Verbraucherpreisindex

Anmerkung: Energie umfasst hier Elektrizität, Gas und andere Brennstoffe. Quelle: Eurostat (2022) / Die Volkswirtschaft

 

Die Globalisierung scheint im Zuge der Corona-Krise und des Kriegs in der Ukraine ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Eine Re-Lokalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten kann allenfalls die Resilienz im Sinne einer tieferen Wahrscheinlichkeit von Lieferkettenproblemen erhöhen, könnte aber preistreibend wirken. Die zunehmende demografische Alterung verschärft zudem die Arbeitskräfteknappheit in Industrieländern, was zu einem verstärkten Lohndruck nach oben führen kann.

Jede Zentralbank wird ihren Weg finden müssen, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. Gerade in solchen Zeiten der Unsicherheit bleibt die Sicherstellung der Preisstabilität der beste Beitrag, den die Geldpolitik für die langfristige Prosperität der Volkswirtschaft leisten kann.

  1. Mishkin, F. S. (2007). Monetary Policy and the Dual Mandate, Address at Bridgewater College, Bridgewater, Va., 10. April. []
  2. Yun, T. (2005). Optimal Monetary Policy with Relative Price Distortions, The American Economic Review, 95(1): 89–109. []
  3. Jiménez-Rodríguez, R. und Sánchez, M. (2010). Oil-induced Stagflation: a Comparison Across Major G7 Economies and Shock Episodes, Applied Economics Letters, 17(15): 1537–1541. []
  4. Christiano, L. und Fitzgerald, T. J. (2003). Inflation and Monetary Policy in the Twentieth Century, Federal Reserve Bank of Chicago Economic Perspectives, 10/2003: 22–45. []
  5. Auer, R., Borio, C. und Filardo, A. (2017). The Globalisation of Inflation: the Growing Importance of Global Value Chains, BIS Working Papers, No 602, 9. Januar. []
  6. Viele Zentralbanken haben die Geldmengen mit Anleihenkäufen erhöht, die SNB hat auf dem Devisenmarkt interveniert. []
  7. Föllmi, R., Isaak, N., Jäger, Ph., Schmidt, T. und Seiler, P. (2021). Ursachen und Wirkungen der Tiefzinsphase – Eine empirische Analyse mit Mikro- und Makrodaten. Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 26., Seco. []

Zitiervorschlag: Carlos Lenz, Fabian Schnell (2022). Das wiederkehrende Dilemma der Zentralbanken. Die Volkswirtschaft, 26. April.