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Das überraschende Wiederaufflammen der Inflation

Die Inflationsrate liegt derzeit weltweit über den Prognosen. Wie lange wird sie andauern, und welchen Einfluss hat der russisch-ukrainische Konflikt?
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Lieferengpässe haben die Produktion weltweit verlangsamt. Containerhafen in Genua, Italien. (Bild: Alamy)

Die jüngst wieder aufgeflammte Inflation hat alle überrascht.[1] Viele junge Menschen – einschliesslich der Expertinnen und Experten in den Zentralbanken und in den Unternehmen – erleben erstmals selber, was eine starke Teuerung bedeutet. Denn global gesehen verharrte die Inflation seit den 1990er-Jahren bis vor Kurzem auf tiefem Niveau. Nach der Finanzkrise von 2009 war die Inflation teilweise sogar negativ.

Um die Inflationsrate auf die angestrebten Zielwerte anzuheben, ergriffen die Zentralbanken damals aussergewöhnliche Massnahmen. Einerseits hielten sie den Nominalzins auf historisch tiefem Niveau oder gar im negativen Bereich. Andererseits weiteten sie ihre Bilanzen in Dimensionen aus, wie man sie bisher höchstens in Kriegszeiten kannte.

Sicherlich, in einigen Ländern – darunter Japan, die Schweiz und China – stellt die Inflation noch kein grosses Problem dar. In Japan lag die Inflation bis vor Kurzem weiterhin deutlich unter dem angestrebten Ziel, und in der Schweiz hatte sie erst letzthin die Schwelle von 2 Prozent überschritten. Diese Sonderfälle ändern aber nichts am Gesamtbild einer weltweit hohen Inflation.

Unterschätztes Inflationsrisiko

Noch Anfang 2021 – als die Volkswirtschaften stark unter der Corona-Krise litten – glaubten die meisten Expertinnen und Experten, dass sich die wirtschaftliche Verlangsamung noch einige Zeit fortsetzen würde. Entsprechend rechneten sie mit einem anhaltend niedrigen Inflationsdruck. Gemäss der damals vorherrschenden Meinung war lediglich mit vorübergehenden Preisanstiegen zu rechnen, da die pandemiebedingten Restriktionen die Produktion einschränken können.

Im Juni 2021 stellte die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem jährlichen Wirtschaftsbericht ein Szenario vor, das von einer höheren und hartnäckigeren Inflation ausging als frühere Prognosen. Die Annahme war, dass die Inflation viel stärker auf den Nachfragedruck auf die Produktionskapazitäten («economic slack») reagieren würde, als dies seit den 1990er-Jahren der Fall war. Dies, so die Annahme des Szenarios, würde wiederum die Inflationserwartungen erschüttern, und in der Folge käme es zu einer Lohn-Preis-Spirale, also einem sich gegenseitig verstärkenden Anstieg von Löhnen und Preisen.

Diese Annahmen schienen zwar plausibel zu sein, doch man ging angesichts früherer Erfahrungen nicht davon aus, dass sie tatsächlich zutreffen würden. Letztendlich überstieg die tatsächlich beobachtete Inflationsrate aber sogar die Prognosen des BIZ-Szenarios.

Aufschwung und neue Nachfrage

Warum ist die Inflation derzeit so hoch? Im Nachhinein, und mit etwas Demut, kristallisieren sich mögliche Erklärungen heraus. Wenn man die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern ausblendet, ist der jüngste Inflationsschub grundsätzlich auf das Zusammenspiel dreier Faktoren zurückzuführen.

Erstens erlebt die weltweite Nachfrage einen erstaunlich energischen Aufschwung. Dafür sind das menschliche Verhalten und die Politik verantwortlich. Während der Corona-Krise wurden die Ausgaben durch die Massnahmen zur Pandemiebekämpfung künstlich gedrosselt. Sobald die Einschränkungen aufgehoben wurden, schnellten die Ausgaben sprunghaft nach oben, weil sich die Menschen nach Normalität sehnten.

Entgegen den Befürchtungen drückte die Pandemie nicht langfristig auf die Konsumentenstimmung. Die expansive Geldpolitik trug ebenfalls zur Stimulation der Kaufkraft der Konsumenten bei. Dank den umfangreichen Konjunkturmassnahmen der USA stieg das den Haushalten zur Verfügung stehende Einkommen so stark an wie seit den 1980er-Jahren nicht mehr. Gleichzeitig wurde die Geldpolitik gelockert, sodass infolge der aussergewöhnlich vorteilhaften Finanzierungsbedingungen der Anstieg der Nachfrage und damit auch der Preise unterstützt wurde.

Zweitens kann man derzeit ein erstaunlicherweise anhaltendes «Kippen» oder Umschwenken der aggregierten Nachfrage von den Dienstleistungen zu Industriegütern beobachten: Zwar stiegen die Ausgaben zugunsten von lokalen Dienstleistungen wie Gastronomie oder Hotellerie wieder an, aber nicht im selben Ausmass wie erwartet. Angesichts des täglich beobachtbaren Konsumverhaltens in der Schweiz wirkt dies vielleicht überraschend, doch die Statistik zeigt, dass weltweit ein Umschwenken zu Industriegütern stattgefunden hat.

Drittens schliesslich konnte das Angebot mit der Nachfrage nicht Schritt halten. Die Engpässe bei den Rohstoffen, den Vorleistungsgütern sowie bei Fracht und Transport bremsten die Produktion weltweit aus. Der Mangel an Halbleitern und Computerchips führte zu grossen Lieferverzögerungen bei der Autoindustrie. Auslöser dieser Probleme waren zwar in erster Linie die Massnahmen zur Pandemiebekämpfung, doch die hohe Nachfrage verstärkte die Anspannung zusätzlich. Die Halbleiterproduktion zum Beispiel überstieg das Niveau, das vor Corona verzeichnet wurde, letztlich deutlich.

Die globalen Wertschöpfungsketten haben diese Engpässe verstärkt. Diese komplexen Produktionsnetzwerke mit Verästelungen in der ganzen Welt, die ursprünglich die Kosten senken sollten, erwiesen sich als extrem krisenanfällig. Zudem verabschiedeten sich viele Unternehmen vom Prinzip der Just-in-time-Lagerbewirtschaftung. Stattdessen füllten sie ihre Lager auf, um einen Puffer zu schaffen. Diese Vorsichtsmassnahmen verschärften die Lieferengpässe zusätzlich.

Um die jetzige Inflationsdynamik zu verstehen, kann folgendes Bild hilfreich sein: Stellen Sie sich vor, Sie werfen eine Maschine an, die während einiger Zeit stillstand. Um sie in Gang zu setzen, füllen sie einen effizienten Treibstoff in den Tank und verpassen der Maschine einen Fusstritt. Als Erstes stottert der Motor, dann raucht und faucht er.

Genau das passierte mit der Weltwirtschaft, nachdem die wirtschaftliche Aktivität nicht mehr künstlich gedrosselt worden war. Die jüngste Inflation gleicht somit jenen Teuerungen, die jeweils nach Kriegsende entstehen, wenn eine ungebremste Nachfrage mit einer massiv wieder angekurbelten Produktion einhergeht.

Prognosen zur Inflationsentwicklung

Bestimmte Faktoren könnten die Inflation früher oder später wieder ins Lot bringen. So werden die Engpässe zu einem – derzeit allerdings noch unbestimmten Zeitpunkt – wieder behoben sein. In einigen Sektoren könnte sich sogar ein Angebotsüberschuss abzeichnen, da man innerhalb der globalen Wertschöpfungsketten künftig immer weniger zurückhaltend agieren wird und neue Produktionskapazitäten entstehen.

Darüber hinaus sind weiterhin langfristige inflationshemmende Faktoren wirksam, die bis vor Kurzem die Inflation gebremst haben. Insbesondere die Globalisierung und die Technologie schränken die Preismacht von Arbeitnehmenden und Unternehmen nach wie vor ein, was Lohn-Preis-Spiralen weniger wahrscheinlich macht. Durch den Eintritt Chinas in das weltweite Handelssystem in den Neunzigerjahren und die wirtschaftliche Öffnung der Schwellenländer strömten nicht weniger als 1,6 Milliarden «billige» Arbeitskräfte auf den Weltmarkt.

Dennoch bestehen durchaus gewisse Risiken. Eine wesentliche Rolle wird die Entwicklung der Löhne spielen: Von ihr hängt es ab, ob die sogenannten Zweitrundeneffekte Lohn-Preis-Spiralen auslösen werden. Ein starker Lohndruck besteht in den USA. Diese Entwicklung ist auch in vielen Schwellenländern zu beobachten, insbesondere in Lateinamerika, wo sich die Inflation zuletzt schnell und anhaltend verschärfte. In anderen Volkswirtschaften, vor allem in der Eurozone, war der Lohndruck hingegen weniger gross, auch wenn es noch zu früh ist für eine Analyse, da viele Tarifverhandlungen erst im Laufe des Jahres stattfinden werden.

Ein grosses Risiko geht vom Konflikt in der Ukraine aus, der den kurzfristigen Inflationsdruck beträchtlich verstärkt hat. So schnellten die Preise für Rohstoffe und Lebensmittel – für Energie, aber auch für Weizen – in die Höhe. Falls sich diese Preisanstiege negativ auf die Wirtschaftsaktivität auswirken sollten, könnte dies die Anstrengungen zum Ausgleich des Kaufkraftverlusts mit der Zeit verstärken und die Inflationserwartungen erhöhen, was letztendlich die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale auslösen könnte. Die weitere Entwicklung des Ukraine-Konflikts wird hier entscheidend sein.

Zusätzlich könnten langfristige strukturelle Kräfte die Inflation tendenziell begünstigen. So besteht die Möglichkeit, dass Unternehmen beispielsweise aus geopolitischen Gründen ihre Wertschöpfungsketten reorganisieren. Dies würde zu einer Abnahme der internationalen Verflechtungen führen. Weiter könnte eine steigende Staatsverschuldung viele Regierungen dazu verleiten, eine stärkere Inflation zu tolerieren, um so ihre Verschuldung dank der Teuerung zu verringern.

Letztlich hängt der Verlauf der Inflation stark von den Massnahmen der Zentralbanken ab, die mit ihrer Geldpolitik die Teuerung kontrollieren können. Die Herausforderung wird sein, die Inflation einzudämmen und gleichzeitig die negativen Auswirkungen der Massnahmen auf die Wirtschaft möglichst gering zu halten. Der vom Ukraine-Konflikt ausgelöste starke Anstieg der Rohstoffpreise erschwert diese Aufgabe, da er die Inflation ankurbelt und die Wirtschaftsaktivität verlangsamt. Wenn es den Zentralbanken gelingt, diese Herausforderung zu meistern, wird sich eine unkomfortabel hohe Inflation nicht verfestigen.

  1. Dieser Artikel gibt die Ansichten des Autors wieder. Sie entsprechen nicht zwingend jenen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. []

Zitiervorschlag: Borio, Claudio (2022). Das überraschende Wiederaufflammen der Inflation. Die Volkswirtschaft, 26. April.