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Einkommen in der Schweiz seit Jahren stabil verteilt

In der Schweiz hat sich die Einkommensschere seit fast hundert Jahren nicht weiter geöffnet. Zur Stabilität tragen die politischen Institutionen einen wichtigen Teil bei.
Pendler am Bahnhof Cornavin in Genf. (Bild: Keystone)

Welche Faktoren begünstigen die Einkommensungleichheit? In jüngster Zeit wurde zur Einkommensverteilung ausgiebig geforscht. Einen wichtigen Grundbaustein legte der französische Ökonom Thomas Piketty vor gut 20 Jahren: Mittels Steuerdaten gelang es ihm, die Entwicklung der Einkommenskonzentration in Frankreich über das gesamte 20. Jahrhundert nachzuzeichnen.[1] Später untersuchte er diese Entwicklung gemeinsam mit Forscherkollegen wie Emmanuel Saez für heute insgesamt 70 Länder.

Auch in der Schweiz sind in den vergangenen zehn Jahren mehrere Studien zur Einkommensungleichheit erschienen.[2] Die Swiss Inequality Database (SID) – eine neue Dienstleistung des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) der Universität Luzern – macht diese Daten nun mittels interaktiver Grafiken einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.

Seit den 1930er-Jahren verlief die Einkommensentwicklung bemerkenswert konstant: Die Top-10-Prozent-Einkommen verdienten stets etwa ein Drittel des Gesamteinkommens in der Schweiz (siehe Abbildung).

U-Form in den USA

In anderen Industriestaaten verlief diese Entwicklung anders. In den USA beispielsweise nahm der Einkommensanteil der Bestverdienenden in den 1940er-Jahren ab, um dann ab den 1980er-Jahren wieder anzusteigen. Dieser u-förmige Verlauf ist auch für andere westliche Staaten charakteristisch: Während des Ersten Weltkriegs und in der Zwischenkriegszeit waren die Einkommen dort besonders konzentriert. Diese Konzentration der Einkommen nahm in der Nachkriegszeit stark ab. Die Gründe dafür sind die Zerstörung von physischem Kapital infolge des Kriegs und von Finanzkapital durch die hohe Inflation in der Nachkriegszeit. Ab den 1980er-Jahren begünstigten die Globalisierung und die Liberalisierung der Kapitalmärkte den erneuten Anstieg der Einkommensanteile der Bestverdienenden.[3]

Daten aus den skandinavischen Staaten, der Schweiz oder der Niederlande zeigen jedoch, dass es sich dabei um keine universelle Gesetzmässigkeit handelt. Der u-förmige Verlauf blieb hier trotz wirtschaftlicher Offenheit aus. Stabile politische Institutionen und vielfältige Bildungsangebote werden in der Literatur als mögliche Erklärungsfaktoren genannt.[4]

Einkommensanteile der Top-10-Prozent in der Schweiz und in den USA (1917 bis 2018)

Anmerkung: Ein Anstieg der Kurve bedeutet, dass der Anteil der Top-10-Prozent der Einkommen am Gesamteinkommen zunimmt. Die Jahresabstände sind aufgrund von Lücken in den Datensätzen nicht gleichmässig. Quelle: SID (2022) und WID (2022).

Geringe Ungleichheit vor Steuerabzügen

In der Schweiz sind das duale Bildungssystem, der flexible Arbeitsmarkt und der Föderalismus massgeblich dafür verantwortlich, dass die Markteinkommen – also die Einkommen vor Steuern und Sozialtransfers – gleichmässiger verteilt sind als in den Nachbarländern Deutschland und Frankreich sowie als im Durchschnitt der Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).[5]

Hingegen liegt die Schweiz mit Deutschland und Frankreich in etwa gleichauf, was die Verteilung der verfügbaren Einkommen anbelangt. In der Schweiz wird somit weniger mittels Steuern und Sozialtransfers umverteilt als im OECD-Durchschnitt. Dennoch reduziert das progressiv ausgestaltete Steuersystem den Top-Einkommens-Anteil.

Die Schweiz gehört zu den Ländern, in denen die subnationale Ebene die höchste Steuerkompetenz aufweist.[6] Es liegt in der Kompetenz der Kantone, ihre Einkommenssteuersätze selber zu bestimmen, und die kantonalen Steuern machen einen grossen Anteil der Gesamtsteuerbelastung der Individuen aus. Folge dieses institutionellen Settings sind grosse Einkommenssteuerunterschiede zwischen den Kantonen. Gutverdiener ziehen daher häufig in Niedrigsteuerkantone.

Trotzdem gibt es Mechanismen im föderalen Steuersystem, die einen schädlichen Wettkampf um die niedrigsten Steuersätze verhindern: Einerseits stellt die starke Progressivität der Bundessteuer die Umverteilung zwischen den Einkommen sicher.[7] Andererseits gleicht der interkantonale Finanzausgleich die Kantonsfinanzen aus.[8]

Diese unterschiedliche Attraktivität der Kantone widerspiegelt sich in den Steueraufkommensanteilen der Topverdienenden. Hier zeigen sich beträchtliche Unterschiede zwischen den Kantonen. Während im Niedrigsteuerkanton Zug die Top-10-Prozent im Jahr 2018 einen Anteil von 88 Prozent des Steueraufkommens stemmten, kamen sie im Nachbarkanton Aargau, wo die Einkommenssteuersätze deutlich höher sind, lediglich auf einen Anteil von 47 Prozent (siehe Karte). Im schweizweiten Durchschnitt trugen die Topverdienenden 51 Prozent der Steuerlast.

Steueraufkommen der Bestverdienenden: Anteil der obersten 10 Prozent (2018)

Quelle: SID / Die Volkswirtschaft

 

Was lehrt uns dieser interkantonale Vergleich? Einerseits, dass durch niedrige Steuersätze Gutverdienende tatsächlich angezogen werden. Andererseits, dass die Top-Einkommen auch einen grossen Teil der Steuerlast tragen.

Der Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen verhindert somit nicht, dass die Top-Einkommen einen grossen Teil der Steuerlast stemmen. Auch in einem Land wie der Schweiz, in dem vergleichsweise wenig umverteilt wird, steuern die obersten Einkommen den grössten Teil des Steueraufkommens bei.

Ziehen wir Bilanz: Die Schweiz schneidet mit der aktuellen Verteilungssituation der Markteinkommen im Ländervergleich gut ab und besticht zusätzlich durch eine bemerkenswerte Konstanz über das vergangene Jahrhundert. Erfolgsgeheimnis sind nicht zuletzt die soliden Institutionen wie das ausgeklügelte Steuersystem, der flexible Arbeitsmarkt sowie das duale Bildungssystem. Es gilt, diese Trümpfe auch in Zukunft zu bewahren und weiterzuentwickeln.

  1. Piketty (2001). []
  2. Föllmi und Martínez (2017); Frey und Schaltegger (2016); Frey, Gorgas und Schaltegger (2017). []
  3. Alvaredo et. al. (2018). []
  4. Dorn, Fuest und Potrafke (2022). []
  5. OECD (2021). []
  6. OECD (2022). []
  7. Frey und Schaltegger (2016). []
  8. Leisibach und Schaltegger (2019). []

Literaturverzeichnis
  • Alvaredo, F. (2018). The World Inequality Report.
  • Dorn, F., Fuest, C. und Potrafke, N. (2022). Trade Openness and Income Inequality: New Empirical Evidence. Economic Inquiry, 60(1), 202–223.
  • Föllmi, R. und Martínez, I. Z. (2017). Volatile Top Income Shares in Switzerland? Reassessing the Evolution Between 1981 and 2010. Review of Economics and Statistics, 99(5), 793–809.
  • Frey, C. und Schaltegger, C. A. (2016). Progressive Taxes and Top Income Shares: A Historical Perspective on Pre- and Post-Tax Income Concentration in Switzerland. Economics Letters, 148, 5–9.
  • Frey, C., Gorgas, C. und Schaltegger, C. A. (2017). The Long Run Effects of Taxes and Tax Competition on Top Income Shares: an Empirical Investigation. Review of Income and Wealth, 63(4), 792–820.
  • Leisibach, P. und Schaltegger, C. A. (2019). Zielkonflikte und Fehlanreize: Eine Analyse der Anreizwirkungen im Schweizer Finanzausgleich. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 20(3), 254–280.
  • OECD (2021). Income Distribution Database. Income Distribution and Poverty.
  • OECD (2022). OECD Fiscal Decentralisation Database. Tax Autonomy Indicators.
  • Piketty, T. (2001). Les hauts revenus en France au XXe siècle.

Bibliographie
  • Alvaredo, F. (2018). The World Inequality Report.
  • Dorn, F., Fuest, C. und Potrafke, N. (2022). Trade Openness and Income Inequality: New Empirical Evidence. Economic Inquiry, 60(1), 202–223.
  • Föllmi, R. und Martínez, I. Z. (2017). Volatile Top Income Shares in Switzerland? Reassessing the Evolution Between 1981 and 2010. Review of Economics and Statistics, 99(5), 793–809.
  • Frey, C. und Schaltegger, C. A. (2016). Progressive Taxes and Top Income Shares: A Historical Perspective on Pre- and Post-Tax Income Concentration in Switzerland. Economics Letters, 148, 5–9.
  • Frey, C., Gorgas, C. und Schaltegger, C. A. (2017). The Long Run Effects of Taxes and Tax Competition on Top Income Shares: an Empirical Investigation. Review of Income and Wealth, 63(4), 792–820.
  • Leisibach, P. und Schaltegger, C. A. (2019). Zielkonflikte und Fehlanreize: Eine Analyse der Anreizwirkungen im Schweizer Finanzausgleich. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 20(3), 254–280.
  • OECD (2021). Income Distribution Database. Income Distribution and Poverty.
  • OECD (2022). OECD Fiscal Decentralisation Database. Tax Autonomy Indicators.
  • Piketty, T. (2001). Les hauts revenus en France au XXe siècle.

Zitiervorschlag: Christoph A. Schaltegger, Melanie Häner, Nina Kalbermatter (2022). Einkommen in der Schweiz seit Jahren stabil verteilt. Die Volkswirtschaft, 08. Juni.