Keine Alternative zum Denken in Alternativen
«Heute können wir dank hochfrequenten Daten den Konjunkturverlauf in Echtzeit beobachten.» (Bild: Alamy)
Sommer 1993, Diplomübergabe zum Ende meines Wirtschaftsstudiums in Zürich. Mir war nach Feiern zumute und weniger nach langen Reden. Und dann fiel dieser Satz von Professor Helmut Schneider: «Wenn Sie im Studium der Volkswirtschaftslehre etwas gelernt haben sollten, dann ist es das Denken in Alternativen.» Ein Satz, der mein ganzes Studium zusammenfasste und die Essenz meiner Arbeit über die kommenden Jahre vorwegnehmen sollte.
Als Chefökonom von Swiss Life beobachte ich mit meinem Economic-Research-Team die Konjunkturentwicklung – um Rückschlüsse für die Verwaltung der Sparvermögen in der Vorsorge zu machen. Die Erfahrung zeigt, dass wir die richtigen Antworten nur dann finden, wenn wir zuvor die richtigen Fragen gestellt haben. Besonders wertvoll ist diesbezüglich der laufende Austausch mit unseren Anlagespezialistinnen und Risikomanagern.
Prägend in Erinnerung bleibt mir die Finanzkrise von 2008. Nicht nur aufgrund der Verwerfungen an den Märkten, sondern weil wir in meinem Team aufgrund dieses Wirtschaftsschocks auch die Arbeitsweise angepasst haben: Seither arbeiten wir konsequent mit alternativen Szenarien für die Zukunft.
Nach der Finanzkrise herrschte eine grosse Unsicherheit in Bezug auf die künftige Konjunkturentwicklung. Rückblickend lagen wir mit unserer Kernannahme richtig, dass die geldpolitischen Massnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise und der europäischen Schuldenkrise nicht zu Inflation oder einem Anstieg der Nominalzinsen führen würden. So machte etwa der damalige Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, im Sommer 2012 seine berühmte Ansage, wonach seine EZB alles tun werde, um den Euro zu erhalten, – und bestätigte damit unsere Annahmen. Auch den Frankenschock von 2015 konnten wir mit unseren bewährten Prozessen schnell einordnen: Wir antizipierten den positiven Effekt des starken Frankens auf die Konsumnachfrage und teilten daher die allgemein vorherrschende Angst vor einer heftigen Rezession als Folge der Massnahme der Währungshüter nicht.
Prägend in Erinnerung bleibt mir die Finanzkrise von 2008
Zu erwähnen ist schliesslich der Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Frühling 2020. Nach Jahren der vor sich hergeschobenen Diskussionen um die Schuldenproblematik und die Rolle der Kapitalmärkte hatte die Pandemie für einen Ökonomen aus dem Finanzsektor auch seine willkommenen Seiten: Jetzt war man nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Im Mai 2020 prognostizierten wir einen viel geringeren BIP-Einbruch für die Schweiz als sämtliche anderen Institute – und lagen damit erneut richtig.
Bei allen Prognoseerfolgen mahnt uns der Krieg in der Ukraine zu Demut. Weder sahen wir ihn kommen, noch konnten wir eine Aussage treffen, wie lange er dauern würde. Am Ausgangspunkt unserer Szenarien stand wieder die Suche nach den relevanten Fragen, vor allem jener nach der Versorgung Europas mit Gas.
Heute können wir dank hochfrequenten Daten den Konjunkturverlauf in Echtzeit beobachten. Zusätzlich lassen sich Erkenntnisse der Kognitionspsychologie heranziehen, um Fehler wie eine Bestätigungsverzerrung oder einen «Optimismus-Bias» zu vermeiden. Bei einer unsicheren Nachrichtenlage zum Kriegsgeschehen ist dies unabdingbar. Zum Denken in Alternativen gibt es auch 2022 keine Alternative.
Zitiervorschlag: Brütsch, Marc (2022). Keine Alternative zum Denken in Alternativen. Die Volkswirtschaft, 02. Juni.