Adrienne Fichter, Redakteurin bei Republik.ch und Mitherausgeberin von DNIP.ch, Zürich
Die Schweiz ist Entwicklungsland und Pionierin zugleich, wenn es um das Thema Algorithmen, Datenpolitik und die Digitalisierung allgemein geht.
Eine Pionierin ist sie nicht nur wegen der Erfindung des World Wide Web am Genfer Cern Ende der Achtzigerjahre, sondern auch, weil sie Algorithmen etwa in der Medizin schon heute breit einsetzt. Das Unispital Genf zum Beispiel nutzt mit «Watson for Genomics» von IBM eine Software zur Krebserkennung.
Es gibt aber auch einige andere, rechtsstaatlich heikle Bereiche, in denen die Schweiz vorprescht: So war etwa die Stadtpolizei Zürich im deutschsprachigen Raum Vorläuferin bei der Anwendung von Precobs – einem Prognosetool, um Einbruchserien vorherzusagen.
Problematisch ist beim Thema Algorithmen nicht in erster Linie die zugrunde liegende Technik, die manchmal nachvollziehbar, manchmal eine Blackbox ist. Besorgniserregend sind vielmehr die fehlenden rechtlichen Leitplanken oder das inexistente Checks-and-Balances-System.
In einer Recherche für das Onlinemagazin «Republik» fand ich zusammen mit Florian Wüstholz heraus: Die Anwender wissen weder, wie diese Prognosetools funktionieren, noch haben sie Einsicht in die Codes ihrer Hersteller verlangt. Potenzielle Gefährdende sind etwa in solchen Datenbanken nur deshalb gespeichert, weil irgendein Indikator rot ausgeschlagen hat. Ob dieser Verdacht nachvollziehbar ist, hat indessen keine Fachperson je überprüft oder hinterfragt.
Die Anwender wissen weder, wie diese Prognosetools funktionieren, noch haben sie Einsicht in die Codes ihrer Hersteller verlangt
Das ist also die Kehrseite des Pionierinnenstatus: Auf der regulatorischen Ebene ist die Schweiz ein Entwicklungsland. Dies etwa aufgrund des alten Datenschutzgesetzes aus dem Jahr 1992, das erst jetzt einer umfassenden Reform unterzogen worden ist, die allerdings immer noch nicht in Kraft ist.
Wesentliche rechtliche Punkte des europäischen Vorbilds, der Datenschutzgrundverordnung, wurden dabei nicht übernommen oder stark verwässert. Sollte zum Beispiel Software, die auf Machine-Learning basiert, bei der Kreditvergabe zum Einsatz kommen, so haben Schweizer Einwohner lediglich ein Informations-, aber kein Widerspruchsrecht. Abgesehen davon gibt es kaum Sanktionen für Nachlässigkeit bei der Datensicherheit, wie sich am Beispiel der mittlerweile deaktivierten Plattform Meineimpfungen.ch gezeigt hat. Die betreibende Stiftung hat ihre Plattform mittlerweile eingestellt, Bussen für allfällige Schäden und Datenabflüsse muss sie nicht bezahlen.
Auf EU-Ebene hat es die Schweiz versäumt, proaktiv mitzudiskutieren. Der Bundesrat antwortete auf den Vorstoss von GLP-Nationalrätin Judith Bellaiche in klassischer Manier: Er werde vor allem erst mal beobachten, was die EU vorhabe. Und sich dafür «einsetzen, dass die Chancen eines europäischen Datenraums und eines digitalen Binnenmarktes auch für die Schweiz bestmöglich genutzt werden können».
Mein Fazit: Die Breitbandabdeckung mit 4G – angestrebt ist 5G – mag zwar in der Schweiz besser sein als in Deutschland. Aber: Bei den ethischen Grundsätzen zur künstlichen Intelligenz und bei der Daten- und Digitalpolitik hinkt die Schweiz mit Blick auf die politische Agenda allen umliegenden europäischen Nachbarstaaten wieder drei Schritte hinterher.
Zitiervorschlag: Fichter, Adrienne (2022). Die Schweiz ist ein digitales Entwicklungsland. Die Volkswirtschaft, 12. Juli.