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Severin Schwan, Chief Executive Officer, Roche Gruppe, Basel

Der Erfolg des Lifescience-Standorts Schweiz ist unmittelbar mit der zunehmenden Digitalisierung des Gesundheitswesens verknüpft. Angesichts der grossen volkswirtschaftlichen Bedeutung des Sektors für die Forschung und den Aussenhandel der Schweiz steht viel auf dem Spiel.

Immer wichtiger für die forschende Industrie werden anonymisierte Patientendaten aus der klinischen Praxis: Diese «Real-World-Daten» werden täglich in Spitälern und Praxen im Rahmen von Diagnose, Therapie und Monitoring erfasst. Für die Forschung im Bereich der Onkologie werden beispielsweise heute bereits 96 Prozent aller Daten in den Praxen generiert – in klinischen Studien dagegen nur 4 Prozent.

Real-World-Daten eröffnen enorme Chancen, da sie den «echten» klinischen Alltag abbilden und auch Patientengruppen beinhalten, die in klinischen Studien oft untervertreten sind. Die Analyse grosser Datenmengen – etwa durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz – gibt der Forschung wichtige Hinweise, um Krankheiten besser zu verstehen. Des Weiteren ermöglichen die Daten Aussagen über langfristige Therapieerfolge oder Nebenwirkungen. So können sie klinische Studien ergänzen oder gar ersetzen und die Entwicklung von gezielten, individualisierten Therapien voranbringen.

Um das Potenzial von Real-World-Daten zu nutzen, müssen Gesundheitsdaten qualitativ hochwertig erfasst und strukturiert werden. Zudem braucht es eine vernetzte digitalisierte Infrastruktur, die es erlaubt, diese anonymisierten Daten zu aggregieren, auszutauschen und zu analysieren.

Forschung findet zunehmend dort statt, wo der Zugang zu Gesundheitsdaten und entsprechenden Fachkräften besteht

Aktuell erfüllt die Schweiz diese Voraussetzungen in vielerlei Hinsicht nicht. Dies führt zu einer kontinuierlichen Erosion der Attraktivität des Lifescience-Standorts. Denn: Forschung findet zunehmend dort statt, wo der Zugang zu Gesundheitsdaten und entsprechenden Fachkräften besteht.

Vor diesem Hintergrund sind der Vorschlag des Bundesrats zur Verbesserung der Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten sowie die angestrebte Gesetzesrevision zum Elektronischen Patientendossier (EPD) dringend nötig und gehen in die richtige Richtung. Allerdings ist unklar, was nach dem parlamentarischen Prozess umgesetzt wird – und wann.

Für den Aufbau eines Gesundheitsdatenökosystems sind zwei Aspekte zentral: Erstens muss die Politik ein nationales Regelwerk zur Förderung und Nutzung von Gesundheitsdaten schaffen. So gilt es zu klären, unter welchen Bedingungen Universitäten, Spitäler und Unternehmen diese Daten in der Forschung und der Therapie nutzen dürfen. Aus Sicht der Forschung sollten dabei Hürden abgebaut werden – beispielsweise im Rahmen eines Opt-out-Modells: Das heisst, der Patient gibt nicht die Zustimmung zum Elektronischen Patientendossier, sondern muss explizit darauf verzichten.

Zweitens braucht es substanzielle und langfristige Investitionen in den Aufbau und die Nutzung des Datenökosystems sowie die Schaffung von Anreizen. Beispielsweise könnten medizinische Leistungen nur noch dann vergütet werden, wenn die Leistungserbringer das Elektronische Patientendossier eingeführt haben.

Im Rahmen von Pilotprojekten trägt die forschende Industrie zum Aufbau eines Datenökosystems bei – wobei wir auf jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit sensiblen Patientendaten zurückgreifen können. Damit wir unsere Expertise weiterhin zum Nutzen von Patienten und des Standorts Schweiz einsetzen können, müssen die Rahmenbedingungen jedoch dringend angepasst werden. Wenn uns das gemeinsam gelingt, dann sehe ich hier eine Riesenchance für die Schweiz.

Zitiervorschlag: Schwan, Severin (2022). Gesundheitsdaten: Riesenchance für die Schweiz. Die Volkswirtschaft, 12. Juli.