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Markt oder Staat: Wer soll Gesundheitsdaten nutzen dürfen?

Reine Markt- oder Staatslösungen könnten unerwünschte Folgen haben. Doch es gibt auch Alternativen, wie die Covid-Tracing-App Swisscovid zeigt.
Daten sammeln ja, aber freiwillig und ohne Zugriff des Staats: Die Swisscovid-App ist ein Vorbild beim Umgang mit Daten. (Bild: Keystone)

Sie war von Anfang an umstritten – jetzt ist sie Geschichte: Per 1. April 2022 schaltete der Bund die Swisscovid-App ab, welche die Nutzer im Nachhinein informierte, wenn sie längeren Kontakt mit einer an Covid erkrankten Person hatten.

Keine Frage: Die App hat Infektionen verhindert. Dennoch wurde ihr Potenzial bei Weitem nicht ausgeschöpft. Teilweise war dies ein Versäumnis des Bundes, teilweise haben Infizierte nicht die notwendigen Codes in ihr Smartphone eingegeben, um andere zu warnen, und zu wenige Menschen haben die App überhaupt installiert.[1] Insgesamt war es nämlich nur gerade ein Viertel der Schweizer Bevölkerung.

Doch unabhängig vom Erfolg bei der Reduktion von Ansteckungen: Die App könnte in Zukunft als Referenz für den Umgang mit Gesundheitsdaten dienen. Denn die Frage, wer welche Gesundheitsdaten wofür nutzen darf, wird umso dringender, je mehr Daten anfallen. Und mit Zyklustrackern, Smartwatches zum Messen von Schritten oder Herzschlägen und Gensequenzierungen zum Aufspüren von potenziellen Krankheiten wird unsere Datenspur täglich grösser.

Alle diese Daten versprechen medizinischen Fortschritt. Gleichzeitig geht mit ihnen aber die Gefahr von Diskriminierung und Verhaltenskontrolle einher. Damit droht auch ein Verlust der Solidarität, auf der unser Gesundheitssystem basiert. Dies zeigt die am Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) durchgeführte Studie «Entsolidarisiert die Smartwatch?» – in Auftrag gegeben von der Stiftung Sanitas. Denn gerade bei steigendem Kostendruck im Gesundheitswesen könnte die zunehmende Datenflut genutzt werden, um Menschen zu gesundem Verhalten anzuhalten oder gar zu nötigen. In der GDI-Studie haben wir dazu vier mögliche Szenarien erstellt.

Kontrolle durch Staat und Unternehmen?

Verhaltenskontrollen werden meist mit autoritären Staaten assoziiert. Doch mit Impfzertifikat und Maskenpflicht hat der starke Staat auch in der Schweiz ein – demokratisch legitimiertes – Comeback erlebt. Unser Szenario «Big Government» zeigt, wie staatliche Kontrolle aussehen könnte: Gesunde Verhaltensweisen würden mit Punkten belohnt, ungesunde mit Abzügen bestraft. Je nach Höhe der Gesamtpunktzahl bedeutete das Privilegien oder Sanktionen.

Verhaltenskontrollen können aber auch auf dem freien Markt stattfinden. Das zeigt das Szenario «Big Business». Heute schon zahlt man bei manchen Krankenversicherern tiefere Zusatzversicherungsprämien, wenn man eine bestimmte Anzahl Schritte mit dem Schrittzähler registriert. In Zukunft könnten auch Daten von smarten Toiletten oder Schlaftrackern in die Prämienberechnung einfliessen. Wer sich ungesund verhalten, hohe Risiken eingehen und vor allem seine persönlichen Daten für sich behalten will, muss sich das im Marktszenario finanziell leisten können. Eine finanzielle Sanktionierung ungesunden Verhaltens fand sich auch in der Pandemieforderung wieder, Ungeimpfte selbst für Behandlungskosten aufkommen zu lassen.

Vereinzelte Verhaltenskontrollen, ob über preisliche Anreize oder staatliche Vorgaben, können durchaus sinnvoll sein. Das Rauchverbot in Restaurants ist ein Beispiel für eine allgemein geschätzte Regel. Doch je mehr Datenpunkte vorhanden sind, desto genauer könnten Staat oder Unternehmen das Verhalten der Individuen steuern. Bei zu feinmaschiger Kontrolle besteht jedoch die Gefahr, dass nur noch Kennwerte maximiert werden und das Hauptziel – eine bessere Gesundheit – dabei vergessen geht. So könnte sich beispielsweise eine per se attraktive neue Sportart nicht durchsetzen, wenn sie digital schlecht erfassbar ist. Die Folgen wären: Verlust an Mündigkeit, Verantwortung und an Solidarität mit «ungesunden» Personen.

Mehr Mündigkeit

Staatliche oder marktwirtschaftliche Kontrolle von Verhalten ist aber keine zwingende Folge der technologischen Entwicklung. Vielmehr ist es ein politisches Programm, welches von einem bestimmten Menschenbild ausgeht – nämlich, dass sich der Mensch ohne Zwang oder finanzielle Anreize nicht gesund verhält. Das steht im Widerspruch zur humanistisch-liberalen Sicht, die dem «Big Self»-Szenario zugrunde liegt. Hier bleibt die Kontrolle gänzlich beim Individuum, denn die meisten wollen grundsätzlich gesund leben. Daten werden nur genutzt, um Menschen zu befähigen, nicht um sie zu kontrollieren. Die Covid-Tracing-App ist ein Beispiel für diesen Ansatz. Sie informierte Nutzerinnen und Nutzer über Risiken – ohne die Daten zentral zu sammeln und so dem Staat, Krankenversicherungen oder sonst wem eine Kontrollfunktion zu geben. Man vertraute schlicht darauf, dass Menschen die Informationen verantwortungsvoll nutzen und bei einer Warnung einen Test machen oder sich in Quarantäne begeben.

Aber hat nicht die Pandemie gezeigt, dass dieser liberale Weg eben nur ungenügend funktioniert und es doch Überwachung und Druck braucht? Anstrengungen in Richtung eines humanistisch-liberalen Umgangs mit Gesundheitsdaten bedeuten nicht, dass Staat und Markt gar keine Rolle mehr spielen sollen. Vielmehr geht es darum, den richtigen Mix zu finden. Mit wie viel Freiheit können Menschen umgehen, und wo braucht es doch Leitplanken in Form von finanziellen Anreizen oder Vorschriften? Und vielleicht noch wichtiger: Was können wir tun, damit mehr Freiheit möglich und weniger Kontrolle nötig ist?

Damit Menschen ihre Gesundheitsdaten selbstbestimmt nutzen können, braucht es Gesundheits- und Datenkompetenz. Die Betroffenen müssen Statistiken lesen und Wahrscheinlichkeiten interpretieren lernen, um beurteilen zu können, was beispielsweise ein um 50 Prozent erhöhtes Thromboserisiko überhaupt bedeutet. Materielle, zeitliche und mentale Ressourcen sind zudem nötig, um sich mit Gesundheitsdaten und der eigenen gesundheitlichen Zukunft auseinandersetzen zu können. Denn wer nicht weiss, wie die nächste Miete bezahlen, hat keinen Kopf für mögliche zukünftige Erkrankungen. Finanzielle Unterstützung von Armutsbetroffenen ist deshalb auch Gesundheitsförderung.

Daten teilen als gesellschaftlicher Beitrag

Daten entfalten ihre Kraft besonders dann, wenn sie mit anderen Daten in Zusammenhang gesetzt werden. Das Individuum muss also nicht nur befähigt werden, selbst mit Daten umzugehen, sondern – wie im «Big Community»-Szenario – auch darin bestärkt werden, Daten freiwillig mit anderen zu teilen. Das bedeutet beispielsweise, dass es bei einer Infektion den Code in der Covid-Tracing-App eingibt und andere gewarnt werden können.

Doch um Daten zu teilen, ist Vertrauen nötig, dass diese nicht missbraucht werden. Dafür sind klare Datenschutzrichtlinien und deren Kenntnis in der Bevölkerung notwendig. Sollte dennoch ein Missbrauch stattfinden, müssen Menschen wissen, wo ihnen geholfen wird. Eine Datendiskriminierungsversicherung wäre eine mögliche Institution, die Opfern von Diskriminierung hilft. Dabei werden Menschen beispielsweise entschädigt, wenn gespendete Gesundheitsdaten an die Öffentlichkeit gelangen und das etwa bei der Stellensuche von Nachteil ist. Staat, Unternehmen oder Stiftungen könnten ausserdem Datengenossenschaften mittels Anschubfinanzierungen fördern. Diese erlauben es, Daten in Gemeinschaften zusammenzuführen und gemeinsame Regeln für deren Nutzung zu definieren. Gemeinsame Forschungsaktivitäten mit den geteilten Daten wären mittels sogenannter Citizen-Science-Projekte möglich.

Eine Kultur der Offenheit

Ausserdem braucht es eine Kultur der Offenheit. Wer von anderen Menschen das Teilen von Daten erwartet, sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Der Staat, Unternehmen wie auch die Wissenschaft könnten der Allgemeinheit mehr offene Daten zur Verfügung stellen: Daten zur Luftqualität, wissenschaftliche Publikationen oder Informationen über Nährwerte und den ökologischen Fussabdruck einzelner Produkte sollten in einem standardisierten Format frei zugänglich sein. Die Patentfreigabe für Covid-Impfungen ist ein solches «Big Community»-Beispiel im Pandemiekontext.

Menschen mit Übergewicht, Alkoholproblemen oder «Bewegungsmuffel» könnten durch das Teilen von Daten als Bereicherung angesehen werden. Denn: je breiter und diverser die Datengrundlage, desto robuster und aussagekräftiger das Datenmodell. Die Verdatung könnte so zu mehr und nicht zu weniger Solidarität führen.

Das mag vielleicht utopisch klingen. Wichtig ist jedoch, dass uns Technologie nicht einfach zustösst und zwangsläufig zu mehr Kontrolle durch Staat oder Markt führt. Die Zukunft ist nicht alternativlos. Die Covid-Tracing-App ist ein Gehversuch auf einem humanistisch-liberalen, europäischen Weg im Umgang mit Gesundheitsdaten. Er stellt eine Alternative dar zu staatlich-autoritärer Überwachung oder zu einer unsolidarischen, privatisierten Gesundheitsversorgung.

  1. Siehe «Watson» (2022). Der Bund schaltet SwissCovid ab – das musst du jetzt wissen[]

Zitiervorschlag: Jakub Samochowiec, Andreas Müller (2022). Markt oder Staat: Wer soll Gesundheitsdaten nutzen dürfen. Die Volkswirtschaft, 12. Juli.