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«Ohne Zement geht in entwickelten Volkswirtschaften gar nichts»

Der Zementverbrauch für die Herstellung von Beton ist in der Schweiz seit Jahren stabil. Gerade im Tiefbau gibt es keine Alternative, denn der Baustoff hat viele Vorzüge. Ein Wermutstropfen bleibt der hohe CO2-Ausstoss bei der Zementherstellung. Was tut die Branche dagegen? Stefan Vannoni, Direktor des Zementindustrie-Verbands Cemsuisse, erklärt.

«Ohne Zement geht in entwickelten Volkswirtschaften gar nichts»

Stefan Vannoni in seinem Büro in der Berner Altstadt: «Unsere Industrie braucht Planungssicherheit über viele Jahrzehnte.» (Bild: Keystone / Remo Nägeli)
Herr Vannoni, wie erklären Sie einem Laien, was Zement ist?

Ganz einfach: Zement ist das Bindemittel für Beton. Zusammen mit Kies, Sand und Wasser wird das Pulver zu hartem Beton.

Welche Bedeutung hat Zement für die Baubranche?

Ohne Zement geht in entwickelten Volkswirtschaften gar nichts. Beton ist mit Abstand der am häufigsten verwendete Baustoff. Der Zementverbrauch ist seit je stabil und ziemlich konjunkturunabhängig. In der Schweiz brauchen wir pro Jahr rund 5 Millionen Tonnen Zement beziehungsweise rund 15 Millionen Kubikmeter Beton. Die Schweiz ist also definitiv nicht fertig gebaut.

In der Schweiz wurden während der Corona-Krise schnell Schutzkonzepte entwickelt, um Baustellenschliessungen zu vermeiden. Blieb die Branche verschont?

Dass die Baustellen in der Schweiz während der Covid-Zeit offen blieben, war sehr wichtig. Wenn der Staat auch noch die Bauwirtschaft hätte finanziell unterstützen müssen, dann wäre das noch teurer geworden. Gleichzeitig haben wir als Zementindustrie auch unsere Entsorgungsleistungen – wir sind ja auch Partner der Abfallwirtschaft – erbringen können. Auch da gab es keine Einschränkungen.

Zur Rolle des Abfallverwerters kommen wir später. Wie verbreitet ist Beton?

Tiefbau wie Tunnel, Kanalisationen oder Staumauern ist ohne Beton unmöglich. Aber auch die Erstellung von Fundamenten für Häuser oder Windkrafträder ist ohne Beton und damit Zement nicht möglich. Im Hochbau – bei Ein- und Mehrfamilienhäusern – bestehen gewisse alternative Baustoffe wie Holz oder Ziegelsteine. Beton findet sich aber auch bei Strassen oder Brücken – und unter dem Asphalt. Strassenabschnitte, die grossen Gewichten und Kräften ausgesetzt sind – wie Bushaltestellen oder Kreisel –, werden in der Schweiz mehr und mehr mit Betonbelägen gebaut. Bei grosser Hitze verformt sich der Asphalt. Bei Beton passiert das nicht.

Beton ist mit Abstand der am häufigsten verwendete Baustoff

Welche weiteren Vorteile hat Beton im Hoch- und Tiefbau?

Beton ist extrem widerstandsfähig. Er hält sowohl grosse chemische wie auch mechanische Belastungen aus und weist zudem eine lange Lebensdauer – von bis zu 100 Jahren – auf. Zudem ist Beton faktisch unendlich oft recycelbar – man kann den Beton abtragen, zerkleinern und wieder als Kiesersatz einsetzen. Und er ist formbar, weshalb er sich auch bei Architekten grosser Beliebtheit erfreut. Der gegossene Stahlbeton weist sowohl eine hohe Druckfestigkeit wie auch Flexibilität auf.

Die Schweiz importiert rund zehn Prozent der heimischen Zementnachfrage. Haben Lieferengpässe bei Rohstoffen daran etwas geändert?

Nein. Denn die Rohstoffe für Beton kommen aus der Schweiz. Zement und Beton sind regionale Produkte. Zement ist gebrannter Kalkstein. In der Schweiz sind wir in der glücklichen Lage, dass wir sehr viel Kalkstein im Jurabogen vorfinden. Und auch Kies ist reichlich vorhanden. Die Gletscher haben so viel Kies in der Vergangenheit abgelagert, da haben wir eine ausgezeichnete Ausgangslage.

Warum ist der Selbstversorgungsgrad nicht 100 Prozent?

Das wäre problemlos möglich – die Kapazitäten der Schweizer Zementwerke reichen dafür aus. Doch natürlich sind wir in einem freien Markt tätig. Im grenznahen Ausland wird Zement importiert, zum Beispiel aus Deutschland und Italien. Generell werden aber grosse Distanzen derzeit noch vermieden. Auch wird der Kalkstein in der Nähe eines Zementwerks abgebaut. Zement weist ein hohes spezifisches Gewicht pro Einheit auf, weshalb lange Transportwege insbesondere auch ökologisch nicht sinnvoll sind.

In den Zementwerken werden zur Luftreinigung Reduktionsmittel verwendet. Gibt es durch den Ukraine-Krieg nicht Engpässe bei Ammoniak und Harnstoffen?

Ja, hier gibt es Unsicherheiten. Unsere Lieferanten haben signalisiert, dass sie die Lieferketten nicht zu 100 Prozent garantieren können. Das macht uns etwas Sorgen. Denn Reduktionsmittel sind für die Luftreinhaltung unabdingbar – um Schadstoffe wie Stickoxide zu reduzieren. Dabei ist vieles just in time: Wenn ein Lieferant nicht liefert, entsteht innerhalb von wenigen Tagen ein Engpass. Das Problem kann innerhalb von kürzester Zeit akut werden.

Dann überschreiten Sie nach drei Tagen die Grenzwerte und müssen die Werke schliessen?

Man muss dann eine Interessenabwägung vornehmen. Das Abschalten der Öfen ist für die Bauwirtschaft alles andere als vorteilhaft. Aber natürlich gilt es auch, die Luftreinhaltung sicherzustellen. Zusammen mit den Kantonen und dem Bund brauchen wir dann relativ rasch Lösungen. Da sind wir in Gesprächen.

Zement und Beton sind regionale Produkte

In der Schweiz ist die Zementindustrie für 5 Prozent des CO2-Ausstosses verantwortlich. Wann gibt es den klimaneutralen Zement?

Spätestens im Jahr 2050. Die Brennenergie für den Ofen macht etwa ein Drittel unseres CO2-Ausstosses aus. Zwei Drittel kommen jedoch aus dem Rohmaterial – beim Verbrennen des Kalksteins. Diese Emissionen entstehen also immer, wenn man Zement herstellt. Der Kalkstein wird in einem rund 80 Meter langen Ofen bei einer Flammentemperatur von 2000 Grad gebrannt. Um den Ofen zu beheizen, setzen wir heute schon 70 Prozent alternative Brennstoffe wie Altholz, Altreifen, getrockneten Klärschlamm ein. Die restlichen 30 Prozent sind fossile Brennstoffe, wie primär Kohle und wenig Erdöl.

Somit liegt das grösste Einsparpotenzial beim Verbrennen des Kalksteins?

Ja, genau. Wir können beispielsweise den Klinkerfaktor im Zement reduzieren, das heisst den Anteil gebrannten Kalkstein reduzieren. Früher lag dieser bei rund 95 Prozent, und entsprechend hoch war der CO2-Ausstoss. Diese Zementsorten machen heute nur noch rund 6 Prozent des Marktes aus. Wir haben also die klinkerreduzierten Zemente ausgebaut. Hier hat man noch einen gewissen Hebel. Der Spielraum beim Klinkerfaktor ist jedoch nicht unbegrenzt, weil der Zement eine gewisse Qualität und Leistung erbringen muss. Zusätzlich kann man in den Zementwerken das CO2 auffangen und in anderen Branchen weiter nutzen, zum Beispiel für synthetische Treibstoffe.

Sie sagen spätestens 2050 – wann ist es im besten Fall so weit mit dem CO2-neutralen Zement?

Wir haben das Ziel, dass wir bis 2030 erste CO2-Auffanganlagen in Betrieb setzen. Wie hoch der Anteil sein wird, ist schwierig abzuschätzen. Es bleiben offene Fragen: Wohin soll das abgeschiedene CO2? Kann es in ehemaligen Gasfeldern gespeichert werden? Verwerten wir es weiter für synthetische Treibstoffe? Antworten darauf müssen auch andere Akteure liefern. Das Hauptproblem aber liegt bei den Kosten dieser Anlagen und der Planungssicherheit. Eine dekarbonisierte Volkswirtschaft ist nicht gratis zu haben. Die Kosten werden langfristig auch in der Wertschöpfungskette der gesamten Bauwirtschaft anfallen: beim Betonhersteller, beim Baumeister, beim Bauherrn oder beim Mieter.

Die Zementbranche emittiert rund 2,5 Millionen Tonnen CO2. Wie funktioniert das Emissionshandelssystem?

Für jede emittierte Tonne CO2 müssen wir ein Emissionsrecht abgeben. Derzeit kosten diese etwa 80 bis 100 Franken pro Tonne. Um Produktionsverlagerungen zu verhindern, welche auch dem Klima nicht helfen würden, wird ein Teil der Emissionsrechte in der EU und der Schweiz derzeit noch kostenlos zugeteilt. Diese sollen nun gemäss Plänen in der EU wegfallen. Korrigiert man dann nicht mit Grenzausgleichsmassnahmen, wird die Zementproduktion in der EU und der Schweiz massiv teurer als ausserhalb dieser Länder. Denn die Konkurrenten ausserhalb der Schweiz und der EU müssen diese internalisierten Kosten durch das bereits existierende Emissionshandelssystem nicht tragen.

Es bleiben offene Fragen: Wohin soll das abgeschiedene CO2?

Was würde die Nichtbeteiligung der Schweiz am geplanten CO2-Grenzausgleichssystem für die Schweizer Zementindustrie bedeuten?

Das wäre eine Katastrophe. Das Ziel dieses Systems ist, dass Produktionsprozesse in Ländern mit fortschrittlicher Klimapolitik – durch einen CO2-Preis – nicht einer unfairen Konkurrenz aus Ländern mit weniger strengen Klimaschutzvorschriften ausgesetzt sind. Damit können gleich lange Spiesse geschaffen werden. Ansonsten wäre der Anreiz, Zement aus klimapolitisch weniger ambitionierten Ländern zu importieren, immens. Unsere Branche wäre nicht mehr konkurrenzfähig. Für die Unternehmen im Emissionshandelssystem braucht es die Grenzausgleichsmassnahmen. Wer bei einer konsistenten Klimapolitik «A» sagt, muss auch «B» sagen.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Wie plant die Zementbranche?

Ein wichtiges Element in der Zementherstellung ist die Planungssicherheit. Ich mache gerne den Vergleich mit anderen Branchen. Einige Unternehmen denken in Quartalen. Die Zementindustrie denkt in 25-Jahr-Schritten. Unsere Industrie braucht Planungssicherheit über viele Jahrzehnte. Hat man Rohmaterialreserven für 20 Jahre, geht das gerade noch in Ordnung. Aber besser wären 50 Jahre oder 100 Jahre.

Wie präsentiert sich die Planungssicherheit in der Schweiz?

Die Schweiz verfügt über eine hohe Bevölkerungsdichte. Viele Rahmenbedingungen und Schutzgebiete schränken unseren Abbau zusätzlich ein. Deshalb haben wir in der Schweiz oft eine kürzere Planungssicherheit als beispielsweise Unternehmen in Deutschland. Da gibt es Werke, die mit einer Rohstoffsicherheit von 125 Jahren planen können. Das führt zu komplett anderen Investitionsentscheiden, weil sie wissen, dass sie das voraussichtlich über eine viel längere Zeit amortisieren können.

Die Steinbrüche gehören den Gemeinden. Das Mitspracherecht der Bevölkerung erschwert die Planung ebenfalls, oder?

Die Schweiz ist erfreulicherweise ein sehr föderaler Staat. Das bedingt aber immer wieder auch viel Aufklärungsarbeit. Gerade vor zwei Jahren haben zwei Gemeinden über ein zentrales Erweiterungsprojekt im Kanton Aargau abgestimmt. Erfreulicherweise haben sie mit grossem Mehr der Erweiterung zugestimmt. Das ist wichtig, denn das betroffene Werk deckt einen zweistelligen Anteil des Schweizer Zementbedarfs ab. Diese Umstände zeigen die Herausforderungen für die so wichtige Planungs- und Investitionssicherheit – insbesondere auch im Vergleich mit einem Konkurrenten aus dem Ausland.

Die Proteste der Bevölkerung können auch sehr heftig sein, wie man im Waadtländer Werk Eclépens sieht.

In der Waadt sind die Diskussionen tatsächlich sehr aktiv und aktuell. Dabei ist aber das betroffene Werk auch bezüglich Ökologie sehr fortschrittlich. Es gilt immer zu reflektieren, was die Bedürfnisse einer Gesellschaft sind. Ohne Zement ist zum Beispiel kein verdichtetes Bauen möglich. Und die Rohstoffe müssen irgendwo gewonnen werden. Ohne Planungssicherheit bestehen dann wiederum grosse Unsicherheiten bezüglich Investitionen. Gerade auch in einer kapitalintensiven Industrie wie der Zementindustrie. Ein Zementwerk lässt sich nicht ohne Weiteres vom einen an den anderen Ort transferieren.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2022). «Ohne Zement geht in entwickelten Volkswirtschaften gar nichts». Die Volkswirtschaft, 12. September.

Stefan Vannoni
Der 46-jährige Stefan Vannoni ist seit 2017 Direktor von Cemsuisse, dem Verband der Schweizerischen Zementindustrie. Mitglieder von Cemsuisse sind Holcim, Jura Management und Ciments Vigier mit den Standorten in Siggenthal AG, Untervaz GR, Eclépens VD, Wildegg AG, Cornaux NE und Péry BE. Vor seiner Tätigkeit beim Verband war Stefan Vannoni stellvertretender Chefökonom beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Der promovierte Ökonom studierte an der Universität Basel.