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Stadt der Zukunft: Dichte benötigt mehr Raum

Klimakrise, Bevölkerungswachstum, Ressourcenknappheit: Wie kriegen Städte alle diese Anforderungen unter einen Hut? Verdichtung ist das Schlagwort – wichtig ist dabei allerdings, dass auch der Raum zwischen den Gebäuden nicht zu kurz kommt.
Verdichtetes Wohnen mit Begegnungsraum: Die Genossenschaftssiedlung Kalkbreite in Zürich. (Bild: Keystone)

Die Welt ist im Wandel. Klimakrise, Fluchtbewegungen, geopolitische Spannungen, Ressourcenknappheit oder Artensterben – sie betreffen uns alle und haben Auswirkungen auf unseren gebauten Lebensraum. Die Art und Weise, wie wir unsere Siedlungen planen und bauen, wird sich ändern müssen. Und auch bereits bestehende urbane Strukturen müssen zukunftsfähig umgebaut werden.

Die nachhaltige Stadt im postfossilen Zeitalter ist dicht. Sie bietet bezahlbaren Wohnraum für viele neu zugewanderte Menschen, sie ist dezentral organisiert und besticht durch einen produktiven Mix aus Gewerbe, Wohnen und gemeinwohlorientiertem Engagement. Ausserdem ist sie als wassersensible und hitzeangepasste sogenannte Schwammstadt ausgebildet, das heisst: Die Stadt kann Wasser speichern und in Hitzezeiten wieder abgeben. Begrünte Fassaden und Dächer, öffentliche Plätze und Wasserbecken dienen diesem Prinzip. Die Stadt der Zukunft verfügt auch über ausreichend Grünflächen und Frischluftschneisen, und die Bewohnenden sind aktive Stadtakteure. In Quartier- oder Gemeindezentren können sie gemeinwohlorientiert arbeiten und finden die notwendige Unterstützung bei der Gestaltung ihres Alltags.

Umbau mit vielen Anforderungen

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Die Herausforderungen für den Umbau der Stadt sind gewaltig. Aus den überwiegend bereits gebauten Strukturen müssen dichte, aber doch grüne und lebenswerte Städte werden. Ausserdem gilt es, einen klimafreundlichen und produktiven Lebensraum zu realisieren, der die Bewohnenden in ihrer Resilienz stärkt und sie dabei unterstützt, mit den «Herausforderungen des Lebens fertigzuwerden, sich anzupassen und zu gedeihen»[1]. Kurz gesagt: Ziel ist ein Siedlungsraum, der Stressfaktoren überwindet, der sich weiterentwickeln kann und der Handlungsmöglichkeiten für künftige Generationen schafft – auch in Zeiten von unvorhergesehenen Ereignissen.

Viele verstehen unter der «Stadt der Zukunft» vor allem verdichtetes Wohnen. Doch bauliche Dichte allein ist noch kein städtebauliches Leitbild. Es braucht eine Vorstellung davon, welche Dichte zu welcher Form von Zusammenleben beitragen soll. So ist etwa das Miteinander in einer historischen Altstadt ein anderes als in einem Neubaugebiet, in dem es erst noch entstehen und wachsen muss. In diesem Sinne argumentiert auch die «Neue Leipziger Charta 2020», das Leitdokument für gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung in Europa. Ihr zufolge unterstützt eine sorgfältige Verdichtung funktionierende Nachbarschaften und fördert soziale Interaktion.

Anonyme Stadt war gestern

Die Covid-19-Pandemie hat uns die Notwendigkeit von sorgfältig geplanten, dichten Strukturen deutlich vor Augen geführt. Wie viel Not wurde durch eine funktionierende Nachbarschaft und durch menschliche Nähe gelindert, die überhaupt erst durch eine gewisse soziale Dichte und eben auch verdichtete bauliche Strukturen entstehen konnte? Nur wer seinen Nachbarn kennt, kann auch helfen.

Doch dafür braucht es Raum: Raum für Austausch, Begegnung, aber auch für individuellen Rückzug im Freien. Gestaltet soll dieser Raum unterschiedlich werden: mal als Grünraum, mal als bebaute Fläche. Im Raum zwischen den Gebäuden entstehen so Nutzungsspielräume, die das Gefühl für verfügbaren Raum erweitern und Dichtestress vermeiden. Denn nicht die Dichte ist das Problem, sondern die beliebige Anordnung anonymer Baumassen, die den Bewohnenden keine Luft zum Atmen lassen und Anonymität und Isolation fördern.

Unbebauter Raum bestimmt das Stadtklima

Dichte verlangt gleichzeitig Entdichtung. Wer dichte Quartiere möchte, muss zunächst das «Dazwischen» denken. Denn der Raum zwischen den Gebäuden entscheidet über die Qualität und die Gestaltung des Lebensalltags im Quartier. Wir leben im Zwischenraum, und es ist dieses Dazwischen, das unser Stadtklima im weitesten Sinne prägt.

Verdichtete Strukturen benötigen deshalb nicht weniger, sondern mehr zusammenhängende Zwischenräume, mehr Begegnungszonen und weniger Vorschriften, wie sie genutzt werden dürfen. Anstelle eines einzigen zentralen Ortes braucht es eine Vielfalt von kleineren und dezentralen Orten für Begegnung und Erholung. Das nimmt Druck aus dem System, die Menschen können sich besser verteilen und organisieren.

Eine Stadt voller Dörfer

Die Pandemie und der Klimawandel verstärken den Ruf nach grösseren Ausweichmöglichkeiten und zusätzlichen Raumangeboten in urbanen Strukturen. Unsere Städte können daran angepasst werden, indem wir sie nachverdichten, zweckgebundene Flächen anders verteilen und sie in vielfältig nutzbare, für verschiedene Bevölkerungsgruppen verfügbare Zonen umwandeln. Das stärkt die Dezentralität. Die Agglomerationen und Vororte gewinnen so an Bedeutung und sind dafür als sozial und infrastrukturell gut funktionierende Wohn- und Arbeitsorte deutlich aufgewertet.

Nachverdichtung heisst auch: neue Räume anbieten, die soziale Arrangements stimulieren, und im Umfeld eine Wohnqualität schaffen, die über die private Wohnfläche hinausgeht. Die Systemgrenze ist das Quartier. Eine ausgeprägte Sharing-Economy schafft Mehrwert für viele. Geteilte Räume entlasten den Druck auf die eigene Wohnung, reduzieren den individuellen Flächenbedarf, fördern die Interaktion und schaffen finanziellen Freiraum.

Effiziente Mobilität schafft zusätzlichen Platz

Verdichtung kann nur in Kombination mit Mobilität gedacht werden. Bei der Gestaltung dichter Quartiere kommt dem Strassenraum eine Schlüsselrolle zu. Ziel ist es, eine Kombination aus öffentlichem Nahverkehr, Mietvelos und autonom fahrenden Sammeltaxis anzubieten, die den individualisierten motorisierten Verkehr in der Innenstadt obsolet macht. Dann kann man wertvollen öffentlichen Raum, der vorher als Verkehrs- und Parkfläche diente, zu begrünten Aufenthaltszonen für Mensch und Tier umgestalten.

Die neu eingekehrte Ruhe in der Stadt erlaubt dann mehr Freiheit bei der Gestaltung von Wohnungsgrundrissen, da es weniger lärmbelastete Zonen gibt, auf die man Rücksicht nehmen muss. Gleichzeitig erlauben die Frischluftschneisen eine dichte Bauweise in Gebieten, in denen gewohnt, gearbeitet und lokal produziert werden kann.

Wenn wir wollen, dass unsere Kinder und Kindeskinder eine lebenswerte Welt vorfinden, die ihnen ermöglicht, ihr Leben selbst zu gestalten, gibt es kein Zurück! Die Entwicklungen nehmen uns in die Pflicht, unsere Welt für eine postfossile Zukunft umzubauen. Dabei sind wir alle gefordert, zusammenzuarbeiten und Synergien zu nutzen: die Bauwirtschaft, die Immobilienbranche, die Planungsbüros, die Politik, die Verwaltung, die Gemeinden und Städte – und Sie!

  1. Siehe Jenny und McCay (2021). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Peter Schwehr, Judit Solt (2022). Stadt der Zukunft: Dichte benötigt mehr Raum. Die Volkswirtschaft, 13. September.