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«Die Elektromobilität ist vielleicht nur eine Übergangsphase»

Der Chef der SBB, Vincent Ducrot, ist sich nicht sicher, ob die Zukunft wirklich so elektrisch wird. Im Interview spricht er zudem über pünktliche Züge, die Strommangellage, multimodalen Verkehr und sagt, dass er seine Kinder bei Regen mit dem Auto zum Bahnhof bringt.
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«Wenn unser Eigentümer, der Staat, etwas anderes möchte, muss er die Spielregeln anpassen», erklärt Vincent Ducrot, Chef der SBB.
Herr Ducrot, die Mobilität der Zukunft ist elektrisch …

Für die Schiene trifft das heute zu, aber für die Strasse? Da bin ich mir nicht sicher. Die Elektromobilität ist vielleicht nur eine Übergangsphase. Das Problem ist, dass sich Strom schlecht speichern lässt.

Und was kommt danach?

Wasserstoff könnte wichtig werden. Weil man Strom in Wasserstoff umwandeln und ihn leichter speichern kann. Batterien, wie sie beispielsweise E-Lastwagen antreiben, sind extrem schwer. Sprich, entweder müssen kleinere und effizientere Batterien gebaut oder andere Lösungen gefunden werden.

Werden die SBB auf Wasserstoffzüge umsteigen?

Unsere Züge werden weiterhin mit Strom fahren. Die Schweiz ist ein Paradies: 100 Prozent unseres Eisenbahnnetzes sind elektrifiziert. Aber Deutschland hat seit Kurzem erste Regionalzüge mit Wasserstoffantrieb. Dies könnte eine Lösung sein, um mit fossiler Energie betriebene Züge zu ersetzen. In Europa ist das Eisenbahnnetz in einigen Ländern erst zu 60 Prozent elektrisch oder sogar noch weniger.

Werden die SBB bei Strommangel einen Teil ihres Stroms in das öffentliche Netz einspeisen?

Dies wäre ein Beschluss der politischen Entscheidungsträger, der sich einschneidend auf die Mobilität auswirken würde. Die SBB erzeugen einen grossen Teil des Stroms für ihr eigenes Netz. Unsere Wasserkraftwerke haben diesen Sommer aber wegen der Trockenheit nur wenig produziert. Die SBB werden daher im kommenden Winter Strom einkaufen müssen, so wie die restliche Schweiz auch.

Wie können die SBB ihre Stromproduktion erhöhen?

Wir konzentrieren uns hauptsächlich auf Sonnenenergie und Wasserkraft. Es steht aber ausser Frage, dass die Schweiz und auch die SBB im Winter mehr Strom erzeugen müssen. Gleichzeitig ist es wichtig, weniger Strom zu brauchen.

Ist Fotovoltaik eine Lösung für den Winter?

Wir haben zwei Orte, um Anlagen zu installieren: im Flachland auf unseren Gebäuden und in den Bergen. Es ist schwierig, den Output unserer Anlagen zu erhöhen und gleichzeitig im Winter mehr Strom zu erzeugen. Im Sommer ist es immer einfacher, Strom zu produzieren. Wir könnten uns vorstellen, in den Bergen Solarpanels aufzustellen, zum Beispiel auf den Staumauern unserer Wasserkraftwerke.

Müssten mehr Pumpspeicherkraftwerke wie jenes von Nant de Drance bei Finhaut im Wallis gebaut werden?

Diese Art von Kraftwerk ist eine Batterie mit kurzer Laufzeit. Wir füllen sie am Wochenende und leeren sie unter der Woche. Das Kraftwerk ist Teil des Versorgungssystems. Es reguliert die Stromproduktion und stabilisiert unser Stromnetz. In fünf Sekunden kann es eine Leistung von 900 Megawatt ins Netz einspeisen.

Sie können Ihre Stromproduktion herauffahren oder aber Ihren Verbrauch reduzieren.

Wir haben intensiv daran gearbeitet, Bremsenergie zurückzugewinnen und diese wieder ins Netz einzuspeisen. Wir wollen das System weiter optimieren, damit die Züge vor allem beim Anfahren weniger Strom verbrauchen. Wir ermuntern unsere Mitarbeitenden laufend, neue Ideen einzubringen.

 

Seit 2010 haben wir mit den realisierten Projekten gut 25 Prozent Strom eingespart.

 

Wie fördern Sie Kreativität?

Unsere Mitarbeitenden machen gerne Vorschläge. Ausserdem beobachten wir den Transportsektor weltweit und nehmen an internationalen Projekten teil, zum Beispiel im Silicon Valley. Es gibt viele tolle Ideen. Seit 2010 haben wir mit den realisierten Projekten gut 25 Prozent Strom eingespart.

Welche weiteren Projekte haben zu Stromeinsparungen geführt?

Züge brauchen beim Bremsen und Anfahren am meisten Energie. Wir führen nun ein System der grünen Welle ein. Dieses geht auf eine Idee der SBB-Lokführer zurück. Das System zeigt dem Lokführer in Echtzeit, wie schnell er fahren muss, damit er bei den Signalen bei Grün durchkommt. So können wir pro Jahr 7 bis 8 Prozent Strom sparen.

Man spricht heute oft von multimodaler Mobilität, sprich der Nutzung unterschiedlicher Transportmittel auf einem Weg.

Die meisten sind heute multimodal unterwegs. Leute, die ausschliesslich den Zug oder das Auto benutzen, sind eher selten. Heute zum Beispiel ist schönes Wetter. Meine Kinder sind zu Fuss oder mit dem Trottinett von zu Hause los. Wenn es aber regnet, sind sie doch recht froh, wenn der Papa sie mit dem Auto zum Bahnhof bringt.

Welche Rolle kommt hier den SBB zu?

Wir bei den SBB haben uns lange gefragt, ob wir aktiv oder integrativ sein wollen. Wir haben uns für die integrative Rolle entschieden: Über unser Verkaufssystem und unsere Apps bieten wir Zugtickets an, vermieten aber auch Trottinette oder Parkplätze.

Was ist der Unterschied zwischen Akteur und Integrierer?

Die SBB besitzen selbst keine Autos oder Trottinette. Wir schaffen aber Plattformen, auf denen wir die verschiedenen Anbieter von Mobilität integrieren. An unseren Bahnhöfen können Sie fast 150’000 Parkplätze reservieren. In naher Zukunft werden Sie diese Reservation mit dem Kauf eines Zugtickets kombinieren können. Auch können Sie über die SBB ein Mobility-Auto buchen.

Und in der Zukunft?

Wichtig ist, dass unsere Plattform den Leuten eine möglichst grosse Auswahl anbietet. Hier sehe ich Verbesserungspotenzial. Das Parlament diskutiert demnächst über eine Mobilitätsplattform. Diese wird den Austausch von Daten zwischen den einzelnen Akteuren in der Schweiz ermöglichen. Diesen Vorschlag unterstützten wir voll und ganz.

Ein Problem der multimodalen Mobilität scheint, dass Zug- oder Bustickets nicht überall verkauft werden können. Warum?

Der Zugang zum Ticketverkauf wird kontrolliert geöffnet. Kontrolliert bedeutet, dass Daten und Tarife geschützt bleiben müssen. Der Gesetzgeber wünscht einen gleichberechtigten Zugang bei einheitlichen Tarifen. Jedes x-beliebige Portal kann beispielsweise Zugtickets über Nova verkaufen. Dieses System gehört der Branche und wird von den SBB betrieben. Ein Ticket von Bern nach Zürich muss aber immer gleich viel kosten, egal welches Unternehmen es verkauft und wer die Linie betreibt.

 

Zug und Auto ergänzen sich perfekt.

 

Es heisst oft, das Auto stehe in Konkurrenz zum Zug …

Das stimmt nicht. Zug und Auto ergänzen sich perfekt. Man entscheidet sich je nach Aktivität für das eine oder das andere. Die Distanz gibt dabei nicht zwingend den Ausschlag. Ein bestimmter Skiort ist zum Beispiel einfacher mit dem Zug zu erreichen, während man an einem anderen Ziel schneller mit dem Auto ist.

Zwischen 2010 und 2019 haben sich die Staustunden auf den Strassen verdoppelt. In den Zügen gab es vor der Pandemie zu Stosszeiten kaum freie Plätze. Wie kam das?

Ganz einfach: Die Mobilität hat sich erhöht. Heute wohnen Menschen häufiger 80 oder gar 100 Kilometer von ihrem Arbeitsort entfernt. Die SBB haben das Zugfahren einfacher und praktischer gemacht. Das animiert zum Reisen. Wenn Sie einen guten Service anbieten, dann wird er genutzt. Wenn man heute immer noch in Autos aus den 50er-Jahren unterwegs wäre, würden weniger Kilometer auf der Strasse gefahren.

Entlasten SBB-Sparbillette stark frequentierte Züge?

Diese Tickets sind bei unseren Kunden sehr beliebt. Sie haben einen doppelt positiven Effekt: Sie erzeugen neue Mobilität und verschieben einzelne Zugreisen auf Randstunden. Wir werden unser Angebot an Sparbilletten in Zukunft erweitern, insbesondere auf den Regionalverkehr.

Sind Sparbillette eine Massnahme, um die maximale Zahlungsbereitschaft der einzelnen Kunden abzuschöpfen?

Diese Logik gilt bestimmt nicht für ein Massentransportmittel mit 1,1 Millionen Passagieren pro Tag. Unsere Preisdifferenzierung erfolgt gegen unten. Wir haben kein System des Yield-Managements, bei dem die Preise zu Spitzenzeiten erhöht werden. Wir senken sie zu Randzeiten.

Seit der Pandemie befördern die SBB weniger Passagiere. Wie viele werden es in fünf Jahren sein?

Wir erwarten ein steigendes Passagieraufkommen. Die Schweizer Bevölkerung wächst, und die Arbeit im Homeoffice betrifft nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmenden. Wir stellen aber fest, dass gerade diese Personen dafür öfter am Wochenende verreisen. Die Freizeitmobilität ist heute schon viel höher als 2019 und wird weiter steigen.

Haben die SBB genügend Platz für alle Passagiere?

Ja, unsere Züge sind länger, und wir haben neue zweistöckige Kompositionen gekauft. Wir können heute 400 Meter lange Züge einsetzen, die 1400 Personen befördern. Und wir arbeiten daran, die Frequenz der Züge weiter zu steigern.

Die SBB wollen bis 2030 Kosten senken und die Produktivität steigern. Wie?

Mithilfe der Digitalisierung. Heute verbringt ein Lokomotivführer nur ungefähr die Hälfte seiner Arbeitszeit mit kommerziellen Fahrten. In der übrigen Zeit führt er Leerfahrten durch, etwa indem er Züge verschiebt. Wenn wir unsere Tools für die Ressourcenplanung verbessern, steigt unsere Produktivität. Dies ist auch der Wunsch der Lokomotivführer: Sie möchten öfter kommerziell fahren.

 

Unser Grundauftrag lautet: Sicherheit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit.

 

Die SBB sind ein staatlich geschütztes Monopol. Sie haben keine Konkurrenz auf der Schiene. Gleichzeitig unterliegen sie strengen Regulierungen, um ihre Marktmacht einzuschränken. Wünschen Sie eine Deregulierung?

Nein, keinesfalls. Wir sind ein Akteur der Mobilität, ein Service public, der den Transport im Land gewährleisten muss. Wenn unser Eigentümer, der Staat, etwas anderes möchte, muss er die Spielregeln anpassen. Der Vorteil der heutigen Regeln besteht darin, dass der Zug intensiv genutzt wird. Nirgendwo wird mehr Zug gefahren als in der Schweiz und in Japan.

Was halten Sie vom Projekt «Cargo sous terrain», einem unterirdischen Warentransportsystem?

Dieser Ansatz ist sehr innovativ. Doch wir haben gerade beschlossen, unsere Beteiligung von 2 Prozent an diesem Projekt zu verkaufen. Wir wollen uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren: auf unser Schienennetz.

Wie pünktlich sind die SBB?

Wir haben die Pünktlichkeit der SBB deutlich verbessert. Diese müssen wir jetzt in den kommenden zwei bis drei Jahren bestätigen. Unser Grundauftrag lautet: Sicherheit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit.

Wohin möchten Sie die SBB in Zukunft führen?

Langfristig müssen wir den Güterverkehr auf der Schiene mit Suisse Cargo Logistics stärken und im Personenverkehr flexibler werden. Es gilt, den Personenverkehr einerseits in der Agglomeration auszubauen, andererseits aber auch auf interregionaler, nationaler und internationaler Ebene.

Zitiervorschlag: Interview mit Vincent Ducrot, SBB (2022). «Die Elektromobilität ist vielleicht nur eine Übergangsphase». Die Volkswirtschaft, 24. Oktober.

Vincent Ducrot

Vincent Ducrot, 60 Jahre, steht seit 2020 an der Spitze der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Er erwarb ein Diplom als Elektroingenieur der Ecole polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) und arbeitete danach als Informatiker in verschiedenen Anstellungen in der Schweiz und im Ausland (in Europa und den USA). Ducrot stammt aus dem Kanton Freiburg und war von 2011 bis 2020 Generaldirektor der Freiburgischen Verkehrsbetriebe. Die SBB gehören zu 100 Prozent dem Bund und beschäftigen 34’000 Mitarbeitende.