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Ein bisschen Stau gehört zu einem effizienten Verkehrssystem

Immer mehr Elektroautos auf Schweizer Strassen reduzieren zwar CO2-Emissionen, am Stauproblem ändern sie jedoch nichts. Ein überlastetes Verkehrssystem ist für Pendler und Camioneure ärgerlich, Zeitverluste auf der Strasse und Komfortverluste im ÖV sind die Folge. Das volkswirtschaftliche Optimierungspotenzial ist aber gering, die Schweizer Bevölkerung kann also auf eine sehr gute Verkehrsinfrastruktur zählen.
Elektroautos lösen das Stauproblem nicht. Verkehrschaos auf der Hardbrücke in Zürich. (Bild: Keystone)

Volkswirtschaftlich betrachtet, handelt es sich bei der genannten Verkehrsproblematik um ein sogenanntes Marktversagen. Die Kapazität der Strassen und Züge ist begrenzt. Jeder weitere Verkehrsteilnehmende raubt allen anderen Zeit, weil alle länger im Stau stecken. Auch in den Zügen führt jeder weitere Reisende dazu, dass es für die anderen weniger Platz gibt und darunter der Fahrkomfort leidet. Jeder zusätzliche Reisende verursacht also sogenannte externe Kosten, die er bei seiner Entscheidung, zu welcher Uhrzeit er unterwegs ist, nicht berücksichtigt. Diese Person gewichtet ihren Nutzen höher, zu einer bestimmten Uhrzeit am gewünschten Ort zu sein. Dies führt dazu, dass zu viele Menschen gleichzeitig unterwegs sind. Das Problem ist zum Beispiel am Auffahrtswochenende am Gotthard gut sichtbar. Wenn einige Autofahrende dazu gebracht werden könnten, zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt oder über eine andere Strecke zu fahren, würde dies allen anderen Zeit sparen.

Opportunitätskosten in Milliardenhöhe

Die vom Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) in Auftrag gegebene und von Infras/EBP durchgeführte Studie[1] befasst sich mit der Frage, wie viel die mangelnde Koordination in der Nutzung der Transportinfrastruktur kostet. In Fahrzeugstunden sind dies für das Jahr 2019 knapp 73 Millionen, Tendenz seit einigen Jahren stetig steigend. Die Opportunitätskosten, oder auch Zeitverlustkosten, belaufen sich auf etwa 3 Milliarden Franken. Sie repräsentieren die Zahlungsbereitschaft der Reisenden, um Reisezeit einzusparen.[2]

Mit 87 Prozent oder 2,7 Milliarden Franken tragen die Personenwagen den grössten Anteil an Zeitverlustkosten, schwere Nutzfahrzeuge und Lieferwagen teilen sich die verbleibenden 13 Prozent. Rund 88 Prozent der Zeitverlustkosten resultieren an Werktagen. Die Zahlen zeigen auch, dass die Schweiz im internationalen Vergleich über eine sehr leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur verfügt. Die Verspätungszeit pro Kopf liegt unter dem Schnitt der EU-Länder, und dies, obwohl die Schweiz vergleichsweise dicht besiedelt ist.

Optimierungspotenzial besteht

Bei weniger Belastungen zu Stosszeiten wären die Nutzengewinne der Personen, die weniger Zeit verlieren, grösser als die Verluste der Personen, die zu einer anderen als ihrer präferierten Zeit abfahren. So könnte die Gesellschaft 33 Millionen Franken jährlich einsparen, wenn der Verkehr auf den stark befahrenen Strecken besser über den Tag verteilt wäre. Der sogenannte Wohlfahrtsverlust würde schrumpfen. Dies bedeutet aber nicht, dass es gar keine Zeitverluste mehr geben würde. Denn der Zeitgewinn der Autofahrenden, die zu Spitzenzeiten dank weniger Verkehr schneller unterwegs sind, muss gegen den Nutzenverlust der Autofahrenden, die früher oder später losfahren müssen, abgewogen werden. Letztere könnten von denen, die schneller unterwegs sind, eine finanzielle Abgeltung erhalten.

Der Wohlfahrtsverlust verteilt sich je zur Hälfte auf Wochentage und auf Wochenenden. Die Erklärung dieser anderen Aufteilung im Vergleich zu den Zeitverlustkosten ist, dass es am Wochenende auf besonders überlasteten Streckenabschnitten wie dem Gotthard zu starken Staus kommt (siehe Abbildung 1), während die Überlastungen unter der Woche gleichmässiger und näher an einer optimalen Auslastung sind. Das Optimierungspotenzial konzentriert sich also auf einige kritische Streckenabschnitte wie den Gotthardtunnel, die Umfahrung Chur-Süd und den Tunnel unter Locarno.

Abb. 1: Durchschnittlicher täglicher Verkehr am Gotthardtunnel im Wochenverlauf (2016–2021)

Quelle: Astra (2022) / Die Volkswirtschaft

Die Studie quantifiziert die Komfortkosten in überfüllten Zügen, Regionalbussen und im städtischen Nahverkehr. Insgesamt wurden knapp 41 Millionen Personenstunden im ÖV mit einer Auslastung von über 90 Prozent verbracht. Dies entspricht rund 27 Millionen Franken. So viel wären die Verkehrsteilnehmenden bereit zu bezahlen, um in einem Verkehrsmittel mit einer weniger hohen Auslastung zu fahren. Diese Kosten sind das Pendant zu den 3 Milliarden Franken auf der Strasse, also erheblich weniger. Die Verspätungen der Züge sind übrigens nicht in erster Linie auf eine Überlastung der Infrastruktur zurückzuführen. Denn beim Erstellen des Fahrplans werden die Kapazitäten zugewiesen. Somit findet genau die Koordination statt, die bei den individuellen Entscheidungen der Autofahrenden fehlt.

Anreize als Teil der Lösung

Um Staus zu vermeiden, wäre es naheliegend, die Verkehrsinfrastruktur auszubauen. Diese ist jedoch nicht nur teuer, sondern beansprucht auch knappe Bodenfläche und zerschneidet Landschaften. Weiter führen mehr Strassenkapazitäten zu erhöhter Nachfrage und beheben das Problem daher nicht nachhaltig. Deswegen sind auch andere Lösungen gefragt, um die bestehende Infrastruktur gleichmässiger über den Tag auszulasten, so wie es der Sachplan Verkehr vorsieht.[3] Neben Massnahmen wie Geschwindigkeitsharmonisierungen auf Nationalstrassen könnte ein System analog jenem der Fluggesellschaften eingeführt werden. Sparbillette im ÖV setzen bereits heute Anreize, auf Randzeiten auszuweichen. Beispiele im Ausland (London, Stockholm) und Feldversuche in der Schweiz haben gezeigt, dass die Lenkung über den Preis funktioniert.[4] Der Bundesrat hat im Februar 2021 entschieden, ein Gesetz für Pilotprojekte in Städten und Regionen zu Mobility-Pricing in die Vernehmlassung zu schicken, um Erfahrungen zu sammeln.

Eine bereits im Jahr 2001 eingeführte Massnahme ist die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe. Ziel war es, das Wachstum des Strassenschwerverkehrs zu begrenzen, eine Verlagerung auf die Schiene zu fördern und dadurch negative Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit zu verringern. Die externen Kosten werden so zumindest teilweise von den Verursachern getragen.[5] Im November 2021 hat der Bundesrat entschieden die Schwerverkehrsabgabe weiterzuentwickeln.

Weitere Instrumente für ein zeitliches Nachfragemanagement sind möglich. Das Basisszenario der Verkehrsperspektiven 2050 beinhaltet solche Instrumente im Ansatz.[6] Vermehrtes Arbeiten im Homeoffice oder versetzte Startzeiten in Bildungsstätten tragen zu zeitlichen Verlagerungen bei. Sie vermögen der zunehmenden Mobilität aufgrund der wachsenden Bevölkerung aber nur teilweise entgegenzuwirken. So ist davon auszugehen, dass auch noch im Jahr 2050 in den Spitzenstunden zahlreiche wichtige Netzabschnitte auf den Autobahnen und Schnellstrassen von Überlastung geprägt sein werden (siehe Abbildung 2 für Stauspitzen im Jahr 2019). Weitere Massnahmen wie beispielsweise Anreize über den Preis sind daher notwendig. Elektrisch angetriebene und miteinander kommunizierende Autos werden ohne weitere Massnahmen nicht die Lösung bringen.

Abb. 2: Morgen- und Abendspitze auf Schweizer Strassen (2019)

Quelle: Infras / Die Volkswirtschaft
  1. ARE, 2022b. []
  2. ARE, 2017. []
  3. ARE, 2021a. []
  4. Hintermann et al., 2021. []
  5. ARE 2022a, S. 17. []
  6. ARE 2021b, Justen et al., 2022. []

Literaturverzeichnis
  • ARE (2017). Analyse der SP-Befragung 2015 zur Verkehrsmodus- und Routenwahl, September.
  • ARE (2021a). Mobilität und Raum 2050 – Sachplan Verkehr, Teil Programm, Oktober.
  • ARE (2021b). Schweizerische Verkehrsperspektiven 2050. Schlussbericht, 16. November.
  • ARE (2022a). Externe Kosten und Nutzen des Verkehrs, Publikation der Zahlen 2019, Juni.
  • ARE (2022b). Kosten der Überlastung von Transportinfrastrukturen Grundlagenstudie, Oktober.
  • ASTRA (2022). Verkehrsentwicklung und Verfügbarkeit der Nationalstrassen. Jahresbericht 2021, Juni.
  • Hintermann et al (2021). Empirical Analysis of Mobility Behavior in the Presence of Pigovian Transport Pricing. Forschungsprojekt Astra 2017/006, Juli.
  • Andreas Justen, Raphaël Lamotte, Nicole A. Mathys (2022). Verkehr im Jahr 2050: Gebremstes Wachstum. Die Volkswirtschaft, 09. März.

Bibliographie
  • ARE (2017). Analyse der SP-Befragung 2015 zur Verkehrsmodus- und Routenwahl, September.
  • ARE (2021a). Mobilität und Raum 2050 – Sachplan Verkehr, Teil Programm, Oktober.
  • ARE (2021b). Schweizerische Verkehrsperspektiven 2050. Schlussbericht, 16. November.
  • ARE (2022a). Externe Kosten und Nutzen des Verkehrs, Publikation der Zahlen 2019, Juni.
  • ARE (2022b). Kosten der Überlastung von Transportinfrastrukturen Grundlagenstudie, Oktober.
  • ASTRA (2022). Verkehrsentwicklung und Verfügbarkeit der Nationalstrassen. Jahresbericht 2021, Juni.
  • Hintermann et al (2021). Empirical Analysis of Mobility Behavior in the Presence of Pigovian Transport Pricing. Forschungsprojekt Astra 2017/006, Juli.
  • Andreas Justen, Raphaël Lamotte, Nicole A. Mathys (2022). Verkehr im Jahr 2050: Gebremstes Wachstum. Die Volkswirtschaft, 09. März.

Zitiervorschlag: Joséphine Leuba, Nicole A. Mathys, Anne Greinus, Frank Bruns (2022). Ein bisschen Stau gehört zu einem effizienten Verkehrssystem. Die Volkswirtschaft, 25. Oktober.