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Nobelpreis 2022: Von Banken und Krisen

Wann die nächste Finanzkrise kommt, lässt sich kaum vorhersagen. Wie man in einer solchen richtig reagiert, hingegen schon. Der diesjährige Nobelpreis ehrt drei Ökonomen für ihre Forschung zu Banken und ihrer Rolle bei der Entstehung von Finanzkrisen.
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Was, wenn plötzlich alle gleichzeitig ihr Geld beziehen wollen? Griechische Rentner belagern im Juli 2015 in Athen einen Bankangestellten. (Bild: Keystone)

«Warum hat das keiner kommen sehen?», fragte die unlängst verstorbene Queen Elizabeth II auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2007–08. Wie die Queen sehen viele Menschen die Aufgabe der Volkswirtschaftslehre darin, die ökonomische Zukunft vorherzusagen. Der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften 2022 wurde denn auch für wissenschaftliche Arbeiten über die Ursachen und Folgen von Finanzkrisen an die US-amerikanischen Forscher Ben Bernanke, Douglas Diamond und Philip Dybvig vergeben. Ihre Arbeiten illustrieren allerdings, dass einfache mathematische Modelle und eine gründliche Analyse der Vergangenheit grundlegende Einsichten vermitteln können, die für wirtschaftspolitische Entscheidungen relevanter sind als jeder Versuch hektischer Prognostik.

Banken als Brandbeschleuniger

Ben Bernankes wichtigster, 1983 veröffentlichter Aufsatz befasst sich mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre.[1] Die Grosse Depression, wie sie auch genannt wird, ist bis heute die grösste wirtschaftliche Katastrophe der Geschichte. Was im Oktober 1929 mit einem Aktiencrash begann, sah bis 1931 zunächst nach einem normalen Wirtschaftsabschwung aus. Dieser führte schliesslich dazu, dass die Banken reihenweise kollabierten. Der US-Wirtschaftswissenschaftler Bernanke geht in seinem Aufsatz der Frage nach, ob nicht der Zusammenbruch des Finanzsektors selbst der Hauptgrund gewesen sein könnte, dass aus einer normalen Rezession die ökonomische Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts wurde.

Er war damit nicht der Erste, der auf die Rolle des Bankensektors in der Grossen Depression hinwies. Die Ökonomen Milton Friedman und Anna Schwartz hatten bereits 1963 argumentiert, dass die restriktive Geldpolitik jener Jahre die Fähigkeit der Banken zur Kreditschöpfung beeinträchtigte und so zu einer Rezession führte.[2] Für Friedman und Schwartz waren Banken aber lediglich ein Zahnrad im Übertragungsmechanismus. Der entscheidende Impuls ging bei ihnen von der restriktiven Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank «Fed» aus. Bankenpleiten waren laut Friedman und Schwartz also Symptom, nicht Treiber der Krise.

Bernanke stellte seinen Ansatz bescheiden als Ergänzung der These von Friedman und Schwartz vor, zeigte zugleich aber messerscharf, dass sich Ausmass und Dauer der Depression nicht allein aus einer restriktiven Geldpolitik erklären lassen. Vielmehr wirkten die Bankenzusammenbrüche selbst wie ein Brandbeschleuniger.

Negativspirale setzt ein

Bernanke lenkt den Blick dabei auf die Rolle der Banken bei der Vergabe von Krediten an Haushalte und Firmen. Eine realistische Einschätzung der Kreditrisiken durch die Bank setzt qualifiziertes Personal und die Pflege langfristiger Beziehungen zu den Kunden voraus. Hierdurch baut sich ein Vertrauenskapital auf, das die für beide Seiten wirtschaftliche Vergabe von Krediten oft erst möglich macht. Bricht eine Bank zusammen, dann sind also nicht nur Sparer und Eigentümer der Bank betroffen, sondern auch die Kreditkunden, denn das bei «ihrer» Bank aufgebaute Vertrauenskapital lässt sich nicht ohne Weiteres auf eine andere Bank übertragen. Kundenberater der bankrotten Bank werden entlassen, das oft informelle Wissen über die Kunden und ihre Bonität geht verloren, bis schliesslich die Kreditversorgung der Kunden zusammenbricht. Auf die Bankenpleite folgt eine Pleitewelle bei den Bankkunden, und zwar insbesondere bei den kleinen Firmen, die für ihre Kreditversorgung besonders auf Banken angewiesen sind.

Doch es kommt noch schlimmer. Denn nun kommt ein sich selbst verstärkender Mechanismus in Gang, der als «Financial Accelerator» bezeichnet wird, denn er beschleunigt (englisch: «accelerate») das Übergreifen der Krise auf die gesamte Volkswirtschaft: Bankenpleiten reduzieren das gesamtwirtschaftliche Kreditangebot, und Firmenpleiten mindern die durchschnittliche Bonität der Bankkunden. Weil es schwieriger wird, die Ausfallrisiken ihrer Kunden richtig einzuschätzen, vergeben auch gesunde Banken nun weniger Kredite. Zugleich führen die Haushalts- und Firmeninsolvenzen zu Kreditausfällen, was zu neuen Bankenpleiten führt und so weiter…

Banken sind fragil – und das muss so sein

Die zweite Idee, die das Nobelkomitee heuer ausgezeichnet hat, könnte auf den ersten Blick methodisch gegensätzlicher nicht sein. Argumentierte Bernanke empirisch, entwarfen die beiden US-Wirtschaftswissenschaftler Douglas Diamond und Philip Dybvig in einer Arbeit aus dem Jahre 1983 ein überzeugendes theoretisches Modell, in dem Banken entweder wirtschaftlich nutzlos (aber stabil) oder gefährlich fragil (und wirtschaftlich nützlich) sein können.[3] Die Gefahr von Bankenkrisen, die gern als Ausnahmezustand, als Managementfehler oder gar als moralisches Problem betrachtet wird, gehört demnach also zum Kern des Bankwesens und des gesamten Finanzsektors.

Das Diamond-Dybvig-Modell erklärt mit wenigen mathematischen Formeln das wirtschaftliche Grundproblem, das Banken lösen: Einerseits möchten Haushalte «liquide» sein – also in der Lage, ihr Erspartes abzuheben, wann immer sie wollen. Andererseits benötigen Unternehmer für Investitionsprojekte langfristige Kredite. In einer Wirtschaft ohne Banken müssten Haushalte ihre Ersparnisse direkt in langfristige Kredite investieren, wären so aber nicht mehr liquide.

Banken lösen dieses Dilemma. Sie wandeln Sichteinlagen mit kurzer Laufzeit in Kredite mit langer Laufzeit um, indem sie nur einen kleinen Teil der Einlagen als Liquiditätsreserve vorhalten und den grösseren Teil langfristig verleihen. Das ist meist unproblematisch, da normalerweise nur wenige Kunden gleichzeitig ihre Sichteinlagen abheben wollen. Gesamtwirtschaftlich ist diese sogenannte Fristentransformation höchst willkommen, denn erst sie ermöglicht es, hochproduktive, aber langfristige Investitionen zu finanzieren. Allerdings: Fristentransformation macht Banken auch inhärent instabil.

Gefährliche Massenpanik

Denn kommen nun Zweifel an der Bonität der Bank auf, dann werden viele Kunden auf einmal versuchen, ihre Ersparnisse abzuziehen. Wenn die Liquiditätsreserven der Bank nicht reichen, um alle Einleger gleichzeitig zu befriedigen, kann ein solcher «Bank-Run» zum Zusammenbruch der Bank führen. Betroffen sind dann nicht «nur» die Einleger und Eigentümer der Bank, sondern auch die Kreditnehmer. Ihnen bricht die Finanzierungsquelle für neue Projekte weg – ein wichtiger Bezug zu den Arbeiten von Bernanke, der ja genau auf eine solche Kreditklemme hingewiesen hat.

Ein Bank-Run kann übrigens auch dann auftreten, wenn die Bank grundsolide ist und alle Zweifel an ihrer Bonität unbegründet sind. Genau das macht es so schwer, einen Run vorherzusagen. Es gibt zwar Indikatoren, die eine Krise mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Aber das genaue «Wann» und «Wie» einer Finanzkrise ist kaum prognostizierbar! Insofern liefern Diamond und Dybvig hier auch eine Antwort auf die Frage der Queen.

In einem weiteren einflussreichen Artikel aus dem Jahr 1984 analysierte Diamond (diesmal ohne Dybvig) die Rolle der Banken als Kontrolleur der Kreditnehmer.[4] Gäbe es keine Banken, müssten Sparer direkt in Kredite investieren und selbst kontrollieren, ob ihr Geld gut verwaltet wird. Diamonds Modell zeigt, dass Banken die Finanzierungskosten für Kreditnehmer verringern, indem sie diese wichtige Kontrollfunktion für die Sparer übernehmen. Das ist effizient, bedeutet aber auch, dass bei einer Bankenpleite diese Kontrollfunktion nicht mehr richtig wahrgenommen wird. Die Vermittlung von liquiden Ersparnissen in volkswirtschaftlich produktive Investitionen kommt zum Erliegen – mit den von Bernanke aufgezeigten Folgen.

Einsichten heute aktueller denn je

Die Arbeiten der drei Preisträger sind das intellektuelle Fundament, auf dem heute sowohl die Bankenregulierung als auch das wirtschaftspolitische Instrumentarium zur Eindämmung von Finanzkrisen aufbauen. Die Lösungsansätze von Diamond und Dybvig sind auch nach 40 Jahren hochaktuell. So erwägt man in der europäischen Währungsunion heute eine gemeinsame Einlagensicherung, um Runs auf einzelne nationale Bankensysteme zu vermeiden. Und Zentralbanken zögern mit der Einführung von Zentralbankkonten für Privatkunden unter anderem wegen Befürchtungen vor einem «Digital Run» (siehe Kasten).

In seiner Zeit als Vorsitzender des Fed von 2006 bis 2014 hat Bernanke die Nützlichkeit seiner eigenen Forschungsergebnisse selbst unter Beweis gestellt. Unter seiner Ägide hat das Federal Reserve in den Jahren 2008 bis 2010 zahlreiche Banken gerettet – nicht weil es moralisch richtig war, sondern um eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise von 1930 zu vermeiden. Das war 2008 durchaus umstritten. Um ein Exempel zu statuieren, liess man Lehman Brothers zunächst bankrottgehen, bevor man sich eines Besseren besann.

Queen Elizabeth II kann die Antwort nicht mehr hören. Aber die Einsichten der mit dem diesjährigen Nobelpreis geehrten Wirtschaftswissenschaftler haben sich gerade in den grossen Finanzkrisen der letzten 20 Jahre als durchaus hilfreich erwiesen.

  1. Bernanke (1983). []
  2. Friedman und Schwartz (1963). []
  3. Diamond und Dybvig (1983). []
  4. Diamond (1984). []

Literaturverzeichnis
  • Bernanke, Ben S. (1983). Nonmonetary Effects of the Financial Crisis in the Propagation of the Great Depression, American Economic Review 73, 257–276.
  • Diamond, Douglas W. und Philip H. Dybvig (1983). Bank Runs, Deposit Insurance, and Liquidity, Journal of Political Economy 91, 401–419.
  • Diamond, Douglas W. (1984). Financial Intermediation and Delegated Monitoring, Review of Economic Studies 51, 393–414.
  • Friedman, Milton und Anna J. Schwartz (1963). A Monetary History of the United States 1867–1960, Princeton University Press.

Bibliographie
  • Bernanke, Ben S. (1983). Nonmonetary Effects of the Financial Crisis in the Propagation of the Great Depression, American Economic Review 73, 257–276.
  • Diamond, Douglas W. und Philip H. Dybvig (1983). Bank Runs, Deposit Insurance, and Liquidity, Journal of Political Economy 91, 401–419.
  • Diamond, Douglas W. (1984). Financial Intermediation and Delegated Monitoring, Review of Economic Studies 51, 393–414.
  • Friedman, Milton und Anna J. Schwartz (1963). A Monetary History of the United States 1867–1960, Princeton University Press.

Zitiervorschlag: Ewerhart, Christian; Hoffmann, Mathias; Voth, Joachim (2022). Nobelpreis 2022: Von Banken und Krisen. Die Volkswirtschaft, 10. November.

Digitale Bank-Runs

Seitdem die prämierten Forschungsarbeiten veröffentlicht wurden, hat die digitale Transformation unser Geld- und Zahlungssystem laufend verändert. Insbesondere haben mit dem Aufkommen von Kryptowährungen Zentralbanker und Wissenschaftler damit begonnen, die Möglichkeiten zur Einführung einer digitalen Zentralbankwährung («CBDC») zu evaluieren. Für Privatkunden muss man sich darunter eine Art elektronisches Bargeld vorstellen. Allerdings existiert neben offenen Fragen zum Thema Datenschutz auch die Sorge, dass eine CBDC für Privatkunden das Risiko einer Bankenkrise dramatisch erhöhen könnte. Schliesslich wäre das Zentralbankgeld eine jederzeit sichere Alternative zu Bankeinlagen – unbeachtet der Einlagensicherung. Und da eine Übertragung der kompletten Sichteinlagen für einen besorgten Bankkunden mit nur wenigen Mausklicks möglich wäre, könnte ein solcher «Digital Run» im Vergleich zu einem traditionellen Bank-Run sehr viel schneller ablaufen und so potenziell noch mehr Schaden anrichten.