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«Die Bürokratie beim Bund war ein Kulturschock»

Ursprünglich habe sie in der Hotellerie arbeiten wollen, sagt die neue Chefin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), Helene Budliger Artieda. Mit der Bürokratie tue sie sich daher schwer. Im Interview spricht sie über das im Seco omnipräsente Thema «Handel und Umwelt», staatliche Eingriffe und nachhaltiges Einkaufen.

«Die Bürokratie beim Bund war ein Kulturschock»

Staatssekretärin Helene Budliger Artieda im Seco in Bern: «In meinen 37 Jahren in der Bundesverwaltung hatte ich noch nie das Gefühl: Oha, hier arbeiten wir bewusst gegen die Bevölkerung.» (Bild: Keystone / Susanne Goldschmid)
Frau Budliger Artieda, in Ihrem Büro hängt ein Bild mit Fidel Castro. Versprühen Sie revolutionäre Energie?

Ich bin eine komische Mischung – zum einen Bünzli und zwischendurch auch bürokratischer Punk. Bünzli, weil es mir auch recht ist, wenn es etwas langweilig ist. Und Punk, weil ich mich nicht immer an die Spielregeln halten möchte. Sieben verschiedene Unterschriften für ein Formular – diese Bürokratie macht mich manchmal wahnsinnig. Damit kann ich mich nicht abfinden.

Was hat Sie geprägt?

Da ich ursprünglich in die Hotellerie gehen wollte, bin ich sehr kundenorientiert. Die Bürokratie beim Bund war ein Kulturschock. Damals habe ich mir geschworen: Ich will keine Bundesbeamtin werden.

Es heisst, das Seco sei ein Club von Wirtschaftsliberalen. Wie wurden Sie empfangen?

Da gab es schon ein wenig Nervosität. Ich fand es auffallend, wie oft man mir in den ersten Tagen sagte, dass man hier im Seco eine liberale Ordnungspolitik vertrete. (lacht) Einige befürchteten wohl, dass ich interventionistisch veranlagt sein könnte. Ich kam vom Ausland und wurde im EDA sozialisiert. Aber: Die liberale Wirtschaft ist das Erfolgsrezept der Schweiz. Wir sind eine liberale soziale Marktwirtschaft.

Das heisst?

Das Subsidiaritätsprinzip ist zentral: Der Bürger und die Unternehmen sollen gute Rahmenbedingungen haben und in der Eigenverantwortung stehen. Staat nur dort, wo es ihn braucht. Diese schweizerische Tugend kommt aber langsam etwas unter Druck.

Also weiterhin keine Industriepolitik in der Schweiz?

Ich habe in vielen Ländern gelebt und verschiedene Systeme gesehen. Und je mehr ich gesehen habe, desto mehr begeistert mich das schweizerische Modell: Dazu gehört das Fehlen einer Industriepolitik oder eines 10-Jahres-Plans für Innovation. Allerdings gibt es Bereiche, in denen wir ruhig mehr unternehmen könnten.

Welche?

Beispielsweise beim Marktzugang. Gemäss Demokratieindex der Zeitschrift «The Economist» lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung in nicht demokratisch regierten Ländern. Schweizer Firmen versuchen, in solchen Märkten Fuss zu fassen. Wenn nun ihre Konkurrenz aus Ländern kommt, deren Präsidenten grosse Wirtschaftsdelegationen anführen und ihnen so Türen öffnen, dann finde ich, dass man Schweizer Firmen auch entsprechend unterstützen muss.

Wie sieht es mit staatlichen Interventionen in der Schweiz aus? Beispielsweise wurde das zögerliche Vorgehen des Seco zu Beginn der Corona-Krise kritisiert.

Ich habe die Covid-Krise in Thailand erlebt. Dort gab es gar keine Hilfen und wenn, dann erst Monate später. Die Schweiz hat Unternehmen für schweizerische Verhältnisse rasch, unbürokratisch und vor allem gezielt unterstützt. Das war Teamarbeit der gesamten Bundesverwaltung, der Bürgschaftsorganisationen, Kantone und Banken. Ich habe Mühe mit dieser Kritik.

 

Ich habe die Covid-Krise in Thailand erlebt. Dort gab es gar keine Hilfen und wenn, dann erst Monate später.

 

Bleibt Ihnen Zeit für grundlegende Themen wie Handel und Umwelt?

Im Seco ist das Thema omnipräsent. Es kommt bei mir jeden Tag in irgendeiner Form auf den Tisch, sei es im Zusammenhang mit der Entwicklungspolitik, den Freihandelsabkommen, unseren Beziehungen mit der EU oder der Wirtschaftspolitik.

Was heisst für Sie nachhaltig leben?

Dass wir den CO2-Ausstoss massiv verringern. Für mich geht der Weg dorthin vor allem über den technologischen Fortschritt. Aber es braucht auch einen gewissen Grad an persönlichem Verzicht. Oder dass wir unseren Ausstoss irgendwie kompensieren.

Gibt es einen Widerspruch zwischen Handelsliberalisierung und Umweltschutz?

Nein, das ist kein grundsätzlicher Widerspruch. Die Konzentration der Produktion auf Bereiche, in denen ein Land stark ist, erlaubt eben gerade eine ressourceneffiziente Produktion. Das wiederum erlaubt auch mehr Umweltschutz. Es ist aber wichtig, dass wir diesen Aspekt in künftigen Handelsabkommen gebührend berücksichtigen.

 

Bild: Keystone / Susanne Goldschmid

 

Achten Sie persönlich auf Ihren CO2-Fussabdruck?

Ja, ich probiere es. Aber ich bin nicht perfekt. Ich habe beispielsweise mein altes Auto durch ein Elektroauto ersetzt, und ich schaue, woher Früchte und Gemüse kommen. Bei Letzterem ist der Grund dafür teilweise auch ein anderer. Denn es freut mich, dass wir Bauern in der Region Sursee im Kanton Luzern haben – wo ich lebe.

Würden Sie sagen, regional kaufen ist besser als global?

Das würde ich so nicht sagen. Der internationale Handel hat unter dem Strich stark zum Wohlstand der Schweiz beigetragen. Regionale Produkte sind auch nicht immer umweltfreundlicher. Die Transportemissionen machen ja meist nur einen kleinen Teil der Gesamtemissionen eines Produkts aus. Persönlich achte ich auf die Herkunft. Aber wir sind ein liberales Land und wollen den Konsumenten nichts vorschreiben.

Also ist Eigenverantwortung die Antwort?

Ganz ehrlich: Als Konsumentin bin ich häufig etwas überfordert. Einerseits ist Solarenergie gut, aber dann stellt sich wiederum die Frage nach der Herkunft, der Herstellung und der Entsorgung von Solarpanels. Da ist die Wirtschaft gut beraten, einen Beitrag zu leisten, damit sich die Konsumenten sicher sein können, dass ihr Produkt tatsächlich umweltfreundlich ist.

 

Ganz ehrlich: Als Konsumentin bin ich häufig etwas überfordert.

 

Mit dem Palmölzertifikat im Freihandelsabkommen mit Indonesien könnten sich Konsumenten sicher sein. Trotzdem ist das Abkommen an der Urne fast gescheitert. Wieso?

Weil wir es versäumt haben, die Bevölkerung über die komplexen Prozesse hinter einem Freihandelsabkommen rechtzeitig zu informieren. Früher war das gar nicht gefragt. Firmen waren einfach froh über einen besseren Marktzugang. Ergo gab es in der Verwaltung auch kein Bewusstsein, die Bevölkerung proaktiv zu informieren. Heute sind die Bedürfnisse anders, weshalb unser Ansatz holistischer sein muss. Meine Vorgängerin hat dies gut erkannt und diese Überzeugung in die aktuelle Aussenwirtschaftsstrategie einfliessen lassen.

Wie sieht proaktive Information aus?

Ich bin eine Anhängerin von Transparenz. Wir haben nichts zu verstecken. In meinen 37 Jahren in der Bundesverwaltung hatte ich noch nie das Gefühl: Oha, hier arbeiten wir bewusst gegen die Bevölkerung.

Die Schweiz hat schon länger sogenannte Nachhaltigkeitskapitel in ihren Freihandelsabkommen. Ein Sanktionsmechanismus fehlt allerdings …

Erstens sind die Verpflichtungen in allen unseren Nachhaltigkeitskapiteln rechtlich verbindlich. Und zweitens stimmt auch die Aussage zum fehlenden Sanktionsmechanismus nicht ganz. Wenn etwas zertifiziert sein muss, wie beim Palmöl aus Indonesien, aber nicht ist – dann gibt es zumindest eine indirekte Sanktion, indem der präferenzielle Marktzugang nicht gewährt wird. Natürlich: Die Welt verbessern ist ein hehres Ziel – ich möchte das auch. Wenn man uns verpflichten will, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, dann überschätzt man uns aber. Wir tun, was wir können. Mir sind kleine Schritte, die das Papier wert sind, lieber als hehre Ziele, die wir nicht durchsetzen können.

Plastikmüll und verschmutzte Gewässer: Was macht das Seco konkret gegen die Umweltverschmutzung in Entwicklungsländern?

Ein Instrument ist die wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit. Wir unterstützen zum Beispiel regionale Entwicklungsbanken, setzen auf international anerkannte Nachhaltigkeitsstandards oder unterstützen Länder dabei, CO2-Steuern und Emissionshandelssysteme einzuführen.

Genügt das?

Noch einmal: Wenn wir weiter gehen wollten, würden wir unsere Möglichkeiten überschätzen. Zudem behandeln wir das Thema Nachhaltigkeit nicht einfach im Silo, sondern gehen es transversal an: über die Entwicklungshilfe, im Freihandel oder mit den OECD-Leitsätzen für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung.

Die Schweiz ist Mitglied einer kleinen initiativen Ländergruppe. Diese möchte unter anderem den Marktzugang für umweltfreundliche Produkte verbessern.

Das ist eine typisch schweizerische Lösung: Sie ist pragmatisch. In der WTO sind die Verhandlungen zum Thema blockiert. Deshalb erarbeitet nun eine «Koalition der Willigen» im Rahmen der ACCTS-Verhandlungen vorausschauende Ergebnisse zu verschiedenen Umweltthemen in der Handelspolitik. Das Ziel ist, mit einem Abkommen einen Trend auszulösen, damit sich weitere Länder dieser Gruppe anschliessen.

Die EU visiert einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus an. Dieser will CO2-Emissionen von Importgütern besteuern. Was hält das Seco von solchen Initiativen?

Die Idee ist nachvollziehbar, wobei ich hoffe, dass dieses Instrument nicht für neuen Protektionismus seitens der EU stehen wird. Noch ist ja nicht ganz klar, wie der Mechanismus genau aussehen wird. Schon jetzt beinhaltet er Aspekte, die aus Schweizer Sicht auf hohe Vollzugskosten und neue Handelshürden hindeuten.

Was meinen Sie konkret?

Ein solcher Grenzausgleichsmechanismus wird für Unternehmen mit umfangreichen zusätzlichen Dokumentationspflichten verbunden sein. Länder wie die Schweiz werden mit der EU möglichst pragmatische Lösungen anstreben, um unnötigen Mehraufwand zu vermeiden.

Sie waren Botschafterin in Südafrika und Thailand und kennen so auch eine andere Perspektive.

Ein Vorwurf, der in diesen Ländern immer wieder auftaucht: Ihr Industrieländer habt mit der Umwelt Schindluderei betrieben und seid auf Kosten der Natur reich geworden. Jetzt, wo wir an der Reihe wären, gelten plötzlich andere Voraussetzungen. Auch beim CO2-Grenzausgleichsmechanismus der EU vermuten diese Länder, dass es sich wieder um ein Handelshemmnis zur Marktabschottung handelt. Ich würde der EU-Kommission zumindest zugutehalten, dass ihre Absichten edel sind. Diesen Eindruck gewann ich bei meinem Treffen im November in Brüssel mit dem zuständigen Generaldirektor der EU-Kommission.

 

Die Beziehung zum Bund ist etwas distanziert.

 

Die EU ist für die Schweiz wichtig. Trotzdem haben Sie den chinesischen Botschafter in Bern zeitlich vor dem EU-Botschafter getroffen. Warum?

Das war nicht geplant. Da Bern kleinräumig ist, gibt es immer mehr als eine Gelegenheit, die Botschafter und Botschafterinnen anderer Länder zu treffen. Der chinesische Botschafter ist proaktiv auf mich zugekommen und war so der erste, den ich traf.

Es wird moniert, das Seco habe zu wenig Gewicht im Europa-Dossier. Stimmt das?

Wenn ich in meinen Kalender schaue, kann ich das nicht nachvollziehen. Wir sind hier sehr aktiv, unabhängig davon, dass wir nicht in allen Dossiers den Lead haben. Wir haben die Federführung bei den flankierenden Massnahmen und den staatlichen Beihilfen. Ich sehe meine Staatssekretärskolleginnen im EDA und SEM sehr häufig.

Sie haben in den ersten Tagen die kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren und die Sozialpartner getroffen. Gab es thematisch gemeinsame Nenner?

Ja, die Beziehung zum Bund ist etwas distanziert. Das ist einerseits klar, da wir in gewissen Bereichen Oberaufsicht sind, in anderen Bereichen verfügen wir über das Geld oder erlassen Weisungen. Diese Distanz müssen wir überwinden. Und das können wir in der Schweiz auch, weil wir so kleinflächig sind.

Seit 37 Jahren arbeiten Sie für die Schweiz …

Ja, ein Unfall. Eigentlich interessierte ich mich nach der Handelsmittelschule für die Hotellerie und habe dort ein Praktikum gemacht. Das Internationale und das Reisen gefielen mir. Die Hotellerie war aber damals eine Männerdomäne, und man sagte mir, eine Karriere könne ich in dieser Branche vergessen. Per Zufall habe ich bei einem langweiligen Abenddienst eine Annonce des EDA gesehen: «Wollen Sie im Ausland arbeiten?» Da dachte ich: Ja, warum nicht?

Zitiervorschlag: Guido Barsuglia, Matthias Hausherr (2022). «Die Bürokratie beim Bund war ein Kulturschock». Die Volkswirtschaft, 12. Dezember.

Helene Budliger Artieda

Die heute 57-Jährige leitet seit August 2022 das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Als 20-Jährige stieg sie als Assistentin beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein. 15 Jahre lang arbeitete sie in sechs verschiedenen Ländern. Im Jahr 2000 schloss sie in Kolumbien den MBA ab. Es folgte die Leitung der Direktion für Ressourcen im EDA sowie der Botschaften in Südafrika und in Thailand, bevor sie zur Staatssekretärin ernannt wurde. Das Seco ist mit seinen rund 800 Mitarbeitenden das Kompetenzzentrum des Bundes für die Kernfragen der Wirtschaftspolitik.