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Berufslehre: Wege zur beruflichen Identität

Lernende erhalten manchmal wenig soziale Anerkennung oder treffen auf schwierige Arbeits- und Lernbedingungen. Eine Studie hat nun untersucht, welche Strategien ihnen helfen, sich trotz dieser Hürden mit ihrem Beruf zu identifizieren.
Eine gute Begleitung während der Lehre kann die Identifikation mit dem Beruf fördern. Junge Maurerin an der Westschweizer Maurermeisterschaft Brickskills 2017. (Bild: Keystone)

Die Berufsbildung geniesst in der Schweiz ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Doch eine Lehre verläuft nicht immer reibungslos. Im Jahr 2021 betrug der Anteil Lehrvertragsauflösungen 22,4 Prozent[1]. Konkret heisst das: Beinahe jede vierte Lehre wird abgebrochen. Deshalb ist es wichtig, zu verstehen, wie Lernende den Einstieg in die Berufswelt erleben.

Forscherinnen der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) haben dies untersucht für Lernende in den Berufen Detailhändler, Maurer und Automatiker (siehe Tabelle). Gefragt haben sie, wie diese in ihrer Ausbildung eine berufliche Identität entwickeln. Mit anderen Worten: Wie haben sie gelernt, sich mit ihrem Beruf zu identifizieren und dahinterzustehen? Und welche Rolle spielen dabei berufsspezifische Anforderungen und die Erwartungen der Lernenden an die Arbeitswelt? Die vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie[2] wurde in 7 Berufsfachschulen der West- und der Deutschschweiz durchgeführt und stützt sich auf 92 Interviews und 16 Gruppendiskussionen mit Lernenden sowie 37 Interviews mit Fachleuten aus der Berufsbildung.

Merkmale der drei Lehren in der dualen Berufsbildung (2021)

* In den überbetrieblichen Kursen (ÜK) wird das erworbene berufliche Wissen in die Praxis umgesetzt.
Quelle: Berufsberatung.ch und Bundesamt für Statistik

 

Die Studie zeigt, dass insbesondere drei Faktoren die Entwicklung der beruflichen Identität stark beeinflussen: das Sozialprestige des Berufs, die Arbeitsbedingungen und die Lernbedingungen. Die Spannungsfelder hinsichtlich dieser drei Faktoren bewältigen die Lernenden an ihrem Arbeitsplatz mit unterschiedlichen Strategien.

Fehlendes Sozialprestige kompensieren

Damit die Lernenden eine positive berufliche Identität entwickeln, brauchen sie Anerkennung. Fehlt die gesellschaftliche Wertschätzung für einen Beruf, kann dies bei Lernenden zu einem schlechten beruflichen Selbstbild führen. Ein Beispiel ist der Detailhandel. Dort besteht beispielsweise das Vorurteil, die Ausbildung und die Arbeit seien nicht sehr anspruchsvoll. Auch lernende Maurer werden oft auf ihre Kraft und ihre körperliche Arbeit reduziert.

Lernende versuchen diese Vorurteile für sich selbst und gegenüber anderen zu entkräften. Beispielsweise indem sie ihre beruflichen Kompetenzen betonen. Junge Maurer etwa unterstreichen ihre kognitiven und mentalen Fähigkeiten. Jugendliche Berufsleute im Verkauf verweisen auf ihre Produktkenntnisse und ihre sozialen Kompetenzen, insbesondere in der Kundenberatung. Eine weitere Strategie besteht darin, positive Erfahrungen am Arbeitsplatz hervorzuheben. Mit anderen Worten: Die Lernenden identifizieren sich mit ihrem Beruf, wenn sie Freude an ihrer beruflichen Tätigkeit haben und einen Sinn darin sehen. So betonen etwa angehende Automatiker, dass ihre Aufgaben vielfältig und komplex sind. Eine letzte Strategie besteht darin, die beruflichen Perspektiven eines Berufs zu betonen. Das fördert ein langfristiges Engagement im gewählten Berufsweg.

Schwierige Arbeitsbedingungen meistern

Die Arbeitsbedingungen können für Lernende eine grosse Herausforderung sein. Kommen sie mit zeitlichen Vorgaben und der hohen Arbeitsintensität zurecht? All das hat einen wesentlichen Einfluss auf ihre berufliche Entwicklung. Um den Arbeitsalltag besser zu bewältigen, leisten einige Lernende auch Widerstand: etwa wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen, weil sie eine Aufgabe unter mangelnden Sicherheitsbedingungen ausführen müssen. Andere bevorzugen eine passivere Strategie, mit der sie das schwierige Umfeld relativieren und akzeptieren lernen.

Manche Lernende sehen darin auch eine Gelegenheit, sich mit der beruflichen Realität vertraut zu machen. Allerdings besteht die Gefahr, dass sie sich von der problematischen Situation so weit distanzieren, dass sie letztlich ihr Interesse am Beruf verlieren oder sogar ihre Berufswahl infrage stellen. Gewisse Lernende entscheiden sich, selbst initiativ zu werden: Sie sehen in solchen Situationen Lernmöglichkeiten und machen eigene Vorschläge. Damit gelingt es ihnen, ihrer Ausbildung einen Sinn zu geben und sich gleichzeitig in ihrem beruflichen Umfeld zu behaupten.

Enge Begleitung ist wichtig

Für Lernende ist die Betreuung im Lehrbetrieb zentral. Wird die Vermittlung von beruflichen Fertigkeiten begleitet und steht das gemeinsame Nachdenken im Vordergrund, ist es für sie einfacher, sich aktiv zu beteiligen. Das stärkt das Selbstvertrauen und vereinfacht die Identifikation mit dem Beruf. Mit verantwortungsvolleren und komplexeren Aufgaben perfektionieren Lernende zudem ihre Kompetenzen.

Das Gegenteil ist der Fall, wenn die Begleitung fehlt und die Lernenden kaum in die Tätigkeiten des Betriebs mit einbezogen werden. Zum Beispiel dann, wenn sie aus Produktivitätsüberlegungen nur einfache Aufgaben ausführen dürfen. Dies behindert ihre berufliche Entwicklung und Identität.

Möchten die Lernenden solche Arbeitsbedingungen verbessern, können sie mit ihrem Berufsbildner sprechen oder sich an ein Berufsinspektorat wenden. Wird die Situation nicht besser, engagieren sich die Auszubildenden manchmal stärker in den praktischen Kursen der Berufsfachschule oder in den überbetrieblichen Kursen (ÜK). Ein Teil dieser Lernenden entscheidet sich jedoch, die Lehrstelle zu wechseln oder die Lehre ganz abzubrechen.

Die Studie der EHB kommt zum Schluss, dass die Lernenden sehr vielfältige Strategien anwenden, um die Herausforderungen im Lehrbetrieb zu bewältigen und eine starke Bindung zu ihrem Beruf zu entwickeln. Alle Akteure in der Berufsbildung sollten jedoch stärker darauf hinwirken, dass die Lernenden die Möglichkeit haben, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Lehrbetriebe wiederum sollten die Lernenden so begleiten, wie es den Bedürfnissen der Lernenden entspricht. Das würde auch die Qualität der betrieblichen Ausbildung erhöhen.

  1. Siehe Bundesamt für Statistik. []
  2. Siehe Caprani, Duemmler und Felder (2022). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Isabelle Caprani, Kerstin Duemmler, Alexandra Felder (2023). Berufslehre: Wege zur beruflichen Identität. Die Volkswirtschaft, 09. Januar.