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Löhne von Grenzgängern: Grosse regionale Unterschiede

Im Tessin verdienen Grenzgängerinnen und Grenzgänger rund ein Fünftel weniger als die Wohnbevölkerung. In der Region Genf ist dieser Unterschied weit geringer, und in der Nordwestschweiz verdienen Grenzgänger sogar mehr als Einheimische. Eine neue Studie beleuchtet die Gründe.
Viele Grenzgänger arbeiten bei Essenslieferdiensten. Just-Eat-Mitarbeitende in Genf. (Bild: Keystone)

5740 Franken – so viel betrug im Jahr 2020 der Medianlohn der Wohnbevölkerung im Tessiner Privatsektor. Bei den Grenzgängerinnen und Grenzgängern betrug derselbe Lohn 4582 Franken. Dies entspricht einem Unterschied von 1158 Franken oder 20,2 Prozent. Der Lohnunterschied wird in der öffentlichen Debatte hauptverantwortlich für den Druck auf die Löhne der Tessiner Wohnbevölkerung gemacht. Da sich zahlreiche Grenzgänger mit niedrigeren Gehältern zufriedengeben, würden auch den Tessinern niedrigere Löhne angeboten, so das Argument. Doch die tieferen Grenzgängerlöhne lassen sich möglicherweise auch dadurch erklären, dass Grenzgänger häufig in traditionell schlechter bezahlten Berufs- und Wirtschaftszweigen arbeiten.

1191 Franken Lohnunterschied

Eine Studie[1] des Kantons Tessin hat dies untersucht. Die Autoren wollten wissen, zu welchem Teil sich die Lohndifferenz mit der Zusammensetzung der vom Ausland ins Tessin pendelnden Arbeitnehmenden erklären lässt. Dies sollte zeigen, ob Grenzgänger tendenziell andere und weniger gut bezahlte Berufe ausüben als die Tessiner Wohnbevölkerung oder ob der Arbeitsmarkt verzerrt ist. Die Studienautoren bedienten sich dazu einer sogenannten Matching-Methode, die es erlaubt, «vergleichbare Personen» zu vergleichen (siehe Kasten).

Gemäss dieser Methode belief sich die Differenz des Medianlohns zwischen der Wohnbevölkerung und den Grenzgängern (im Common Support, der einzig möglichen Vergleichsbasis) im Jahr 2020 auf 1191 Franken. Dieses Ergebnis unterscheidet sich von der beobachteten Lohndifferenz zu Beginn des Textes dadurch, dass nicht vergleichbare Lohnempfänger in der Studie ausgeschlossen wurden. Von der Differenz sind rund 60 Prozent auf strukturelle Unterschiede wie etwa unterschiedliches Alter, Geschlecht und Bildungsniveau der beschäftigten Grenzgänger zurückzuführen. Für die übrigen 40 Prozent gibt es allerdings keine Erklärung.

Die Analyse der Lohnverteilungskurve zeigt: Je höher die Löhne, desto höher der Lohnunterschied – und desto mehr lässt sich dieser durch die Beschäftigtenstruktur, also die Zusammensetzung der Arbeitnehmenden, erklären. Lässt sich bei den niedrigsten Einkommen noch gut ein Drittel der Lohndifferenz zwischen der Wohnbevölkerung und den Grenzgängern durch strukturelle Unterschiede erklären, so sind bei den Arbeitnehmenden mit den höchsten Löhnen rund drei Viertel erklärbar (siehe Abbildung 1).

Abb. 1: Lohnunterschied zwischen Wohnbevölkerung und Grenzgängern im Tessiner Privatsektor, nach Lohnhöhe (2020)

Anmerkung: Die Daten beziehen sich auf die Studienpopulation im Common Support (siehe Kasten).
Quelle: BFS, Schweizerische Lohnstrukturerhebung / Statistisches Amt des Kanton Tessin / Die Volkswirtschaft

Unterschiede bei Geschlecht und Branche

Die Ergebnisse variieren je nach Arbeitnehmerprofil und Branche. So sind etwa die Lohnunterschiede bei den Frauen grösser als bei den Männern. Hier spielt die Beschäftigtenstruktur eine entscheidende Rolle. Denn der unerklärte Teil des Lohnunterschieds ist bei den Männern (10,6%) grösser als bei den Frauen (6,0%). Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Grenzgängerinnen primär im Tessiner Produktionssektor arbeiten, wo sie 32 Prozent aller Stellen besetzen (nur 7% dieser Stellen sind von Tessinerinnen besetzt). Ausserdem werden in diesem Sektor relativ niedrige Löhne bezahlt – vor allem den dort tätigen Frauen. Kollektivverhandlungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: Arbeitnehmende mit individuell ausgehandelten Löhnen weisen höhere unerklärte Lohnunterschiede auf als Beschäftigte, deren Löhne mittels Kollektivverhandlungen festgelegt wurden.

Auch die Analyse nach Wirtschaftssektoren zeigt grosse Unterschiede. Allerdings: In der Baubranche und im Gesundheitswesen sind die Löhne von Einheimischen und Grenzgängern vergleichbar. Das liegt an den Kollektivverhandlungen und der Notwendigkeit, Arbeitskräfte für einen Sektor zu gewinnen, der auf dem lokalen Arbeitsmarkt nicht genügend Personal rekrutieren kann.

In der Finanzbranche hingegen existiert ein grosses Lohngefälle zwischen den beiden Gruppen. Die Gründe sind hier strukturell, da die Grenzgänger in weniger gut bezahlten Berufen tätig sind. Im Transport- und Lagerwesen, in den Informations- und Kommunikationsdiensten oder im Bildungswesen sind hingegen selbst unter Berücksichtigung der Beschäftigtenstruktur grosse Lohnunterschiede zu verzeichnen. Dies lässt sich insbesondere mit der steigenden Zahl an Grenzgängerinnen und Grenzgängern erklären, die in neuen Berufen wie dem Coaching, der Erteilung von Sprachkursen oder bei Essenslieferdiensten arbeiten.

Nordwestschweiz: Grenzgänger verdienen mehr

Die Besonderheiten der regionalen Arbeitsmärkte lassen sich mit den im Lauf der Jahre entstandenen wirtschaftlichen Realitäten und Strukturen erklären. Folglich unterscheiden sich auch die Lohnniveaus der Wohnbevölkerung und der Grenzgänger von Region zu Region in der Schweiz. Anhand der Daten der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE)[2] können die Löhne im Tessin mit den Löhnen im Kanton Genf und in der Nordwestschweiz (Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Aargau) verglichen werden (siehe Abbildung 2).

Im Kanton Genf und in der Nordwestschweiz ist das Lohnniveau generell höher und die Lohnunterschiede zwischen Wohnbevölkerung und Grenzgängern geringer als im Tessin. Im Tessin beträgt die Lohndifferenz rund 20 Prozent, in Genf lediglich rund 10 Prozent. Und in der Nordwestschweiz übersteigt der Medianlohn der Grenzgänger den der Wohnbevölkerung sogar um 4 Prozent.

Abb. 2:  Lohndifferenz zwischen Wohnbevölkerung und Grenzgängern im Privatsektor, nach Region (2020)

Anmerkung: Die Daten beziehen sich auf die Studienpopulation im Common Support (siehe Kasten). Negative Werte bedeuten, dass der Medianlohn von Grenzgängern über dem von Einheimischen liegt.
Quelle: BFS, Schweizerische Lohnstrukturerhebung / Statistisches Amt des Kanton Tessin / Die Volkswirtschaft

 

Die Profile der Grenzgänger im Kanton Genf und der Nordwestschweiz unterscheiden sich weniger stark von den Profilen der Wohnbevölkerung als im Tessin. Für einen Lohnvergleich ist es dennoch wichtig, die Struktur der lokalen Arbeitskräfte zu berücksichtigen. Denn sie könnte einen Grossteil der regionalen Lohnunterschiede erklären. In der Nordwestschweiz liegen die Grenzgängerlöhne etwas über den Löhnen der Einheimischen. Und auch unter Berücksichtigung der Beschäftigtenstruktur in der Region ist eine Differenz von 2,2 Prozent zu beobachten. In Genf tendieren die Ergebnisse eher in Richtung der Tessiner Resultate: Die Wohnbevölkerung verdient mehr, und auch bei konstanter Struktur ist ein Lohnunterschied zugunsten der einheimischen Genfer Beschäftigten (3,2%) zu verzeichnen.

Die regionalen Unterschiede lassen sich durch historische Faktoren wie die Umsetzung der bilateralen Verträge[3] oder strukturelle Faktoren wie die Profile der Grenzgänger erklären. In der übrigen Schweiz sind sich die Profile der Wohnbevölkerung und der Grenzgänger ähnlicher als im Tessin. Es gibt aber auch geografische Eigenheiten: Genf und Basel sind regionale Anziehungspunkte. Das Tessin hingegen ist kleiner als die Lombardei mit 10 Millionen Einwohnern und die anderen italienischen Nachbarprovinzen mit zusätzlich rund 2 Millionen Einwohnern. In diesen Regionen ist das grenzüberschreitende Pendeln ins Tessin somit nach wie vor eine Randerscheinung. Will heissen: Das Tessin beeinflusst die regionale Wirtschaft und die Löhne nicht so stark wie die regionalen Zentren Basel und Genf.

  1. Siehe Bigotta und Giancone (2022b). []
  2. Die LSE erlaubt die Datenanalyse auf Ebene der Grossregionen. Dank der Stichprobenverdichtung war es aber möglich, die Ergebnisse allein für den Kanton Genf zu vertiefen. []
  3. Siehe Losa et al. (2012). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Maurizio Bigotta, Vincenza Giancone (2023). Löhne von Grenzgängern: Grosse regionale Unterschiede. Die Volkswirtschaft, 19. Januar.

Die Studie im Detail

Für die Studie wurde eine sogenannte Matching-Methode verwendet. Dabei werden innerhalb der beiden zu vergleichenden Gruppen (Grenzgänger und einheimische Wohnbevölkerung) zunächst diejenigen Individuen identifiziert, deren Humankapitalcharakteristika (siehe Ende Kasten) gleich sind. Diese Schnittmenge stellt den sogenannten Common Support dar. In einem zweiten Schritt wird eine der beiden Gruppen so gewichtet, dass schliesslich beide Gruppen dieselbe Beschäftigungsstruktur aufweisen.a Konkret wurden folgende strukturellen Faktoren untersucht: Geschlecht, Alter, Bildungsniveau, berufliche Stellung, Art des Arbeitsvertrags (Einzel- oder Kollektivvertrag), Arbeitszeit und Branche.

 

a Siehe Petrillo und Gonzalez (2018) sowie Bigotta und Giancone (2022a) für die fachlichen Details.