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«Gerichts­ver­hand­lun­­gen sind kein Box­match»

Bundesanwalt Stefan Blättler ist seit gut einem Jahr im Amt. Nach den Aufregungen rund um seinen Vorgänger ist es ruhiger geworden. Im Interview erklärt er, warum seit der Einführung des Unternehmensstrafrechts vor 20 Jahren erst wenige Unternehmen verurteilt worden sind und warum es in seiner Arbeit nicht ums Siegen geht.
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Bundesanwalt Stefan Blättler: «Die Schweiz ist ein beliebtes Ziel für legal wie auch illegal erworbenes Geld.» (Bild: Keystone / Alessandro della Valle)
Herr Blättler, wie kriminell ist die Schweizer Wirtschaft?

Pauschal kann man das natürlich nicht sagen. Aber: Die Schweiz ist ein beliebtes Ziel für legal wie auch illegal erworbenes Geld.

Um wie viel illegal erworbenes Geld geht es?

Eine Summe zu beziffern, erscheint mir nicht wichtig. Es ist mir viel wichtiger, zu sagen, dass wir alles daransetzen müssen, dass der Finanz- und Wirtschaftsplatz Schweiz nicht mit Kriminalität assoziiert wird.

Wann schaltet sich die Bundesanwaltschaft ein?

Wir sind für die internationale Wirtschaftskriminalität zuständig – schwergewichtig Geldwäscherei und Korruption. Wir verfolgen auch Verbrechen und Delikte in den Bereichen Völkerstrafrecht, Terrorismus, Cyberkriminalität, Staatsschutz und sind für die Strafverfolgung von kriminellen Organisationen zuständig.

Wie teilen Sie sich die Arbeit mit den Kantonen?

Grundsätzlich sind die Kantone für die nationale Strafverfolgung zuständig. Handelt es sich jedoch um ein Delikt, das wesentlich im Ausland oder in mehreren Kantonen begangen wurde, fällt es unter die Bundesgerichtsbarkeit. Die Zuständigkeiten sind in der Strafprozessordnung geregelt. Bei Wirtschaftsdelikten gibt es natürlich auch Schnittmengen.

Sie sagten einmal, der internationale Informationsaustausch sei einfacher als der interkantonale.

Das Problem besteht vor allem bei der Polizei. Jeder Kanton hat sein eigenes Informationssystem. Ein Berner Polizist hat keinen Zugriff auf das Tessiner System. Deshalb ist es für uns manchmal einfacher, in Europa Informationen zu bekommen als in der Schweiz. Hier gibt es dringenden gesetzlichen Handlungsbedarf, und man ist auch schon dabei, dies zu ändern.

Die Aufgabe Ihrer Staatsanwälte ist es, zu ermitteln und dann Anklage vor dem Bundesstrafgericht zu erheben?

Ja. Bei hinreichender oder konkreter Verdachtslage müssen wir ein Strafverfahren eröffnen und dann ermitteln.

 

In gewissen Fällen müssen wir damit rechnen, dass das Gericht anders urteilt.

 

Sie müssen Anklage erheben? Auch wenn die Beweislage dünn ist?

Ja. Wenn wir auch nur den kleinsten Zweifel an der Rechtmässigkeit der Handlung haben, müssen wir Anklage erheben – das Prinzip nennt sich «in dubio pro duriore». Das Gericht beurteilt dann die Anklage und kann – im Zweifel für den Angeklagten, also in «dubio pro reo» – diesen freisprechen.

Das heisst, Sie haben von vornherein schlechte Karten, zu gewinnen.

So ist das System. In gewissen Fällen müssen wir damit rechnen, dass das Gericht anders urteilt. Es geht aber nicht darum, ob eine Staatsanwaltschaft vor Gericht gewinnt oder verliert. Gerichtsverhandlungen sind kein Boxmatch, wie das die Medien darstellen. Es geht um Rechtsfindung und um nichts anderes. Wäre es so, dass die Staatsanwaltschaft immer recht hat: Wozu brauchte es dann ein Gericht?

Wer macht die Detektivarbeit?

Das ist Aufgabe der Bundeskriminalpolizei. Sie ermittelt auf Anordnung einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwalts des Bundes. Wir müssen uns aber bewusst sein: Bei internationalen Zusammenhängen sind wir auf die Unterstützung anderer Länder und der dortigen Institutionen angewiesen. Rechtshilfe ist das zentrale Scharnier. Und es ist natürlich schon so: Es gibt Länder, die geben schlicht keine Antwort oder lassen uns Jahre warten. Das ist mitunter auch der Grund, weshalb Verfahren sehr lange dauern können oder wir Verfahren mangels Beweismittel einstellen oder sistieren müssen.

Gibt es Delikte, die stark zugenommen haben in letzter Zeit?

Grundsätzlich sehen wir eine Verlagerung in die digitale Welt, die sogenannte Cyberkriminalität. Früher kamen die Leute mit dem Auto, haben einen Einbruch begangen und sind wieder fortgefahren. Heute bleiben sie auf ihrem Sofa sitzen und räumen Ihr Bankkonto leer.

 

Bild: Keystone / Alessandro della Valle

 

Das heisst, Sie werden künftig mehr Staatsanwälte für Cyberkriminalität beschäftigen?

Ja. In der Tendenz müssen wir diesen Bereich ausbauen. Dieser Entwicklung dürfen wir nicht hinterherhinken. Es geht ja immer um dasselbe: Follow the money. Wir müssen das Geld finden und herausfinden, über welche verschlüsselten Wege es verschoben wurde. Diese Wege sind immer öfter digital, und es wird in Kryptowährungen bezahlt. Wir – aber auch die Strafverfolgungsbehörden in anderen Ländern – sind noch nicht dort, wo wir sein müssten.

Die Mafiabekämpfung ist für Sie zentral. Ihrem Vorgänger schien der Finanzplatz Schweiz wichtiger. Ein Richtungswechsel?

Das hängt zusammen. Es ist ja so, dass auch kriminelle Organisationen den Finanzplatz nutzen. Wir haben zunehmend kriminelle Organisationen in der Schweiz. Dazu gehören die bekannte italienische Mafia, aber auch Organisationen aus Südosteuropa, Afrika und Asien. Diese wollen illegal oder legal erworbenes Geld in den Wirtschaftskreislauf bringen.

Wieso gerade in der Schweiz?

Die Schweiz bietet eine hervorragende Ausgangslage: gute Infrastruktur, funktionierendes Bankwesen und dadurch jede Menge an Möglichkeiten zur Diversifizierung der Investitionen.

 

Es ist wie beim Krebs: Vom Moment an, wo wir kriminelle Organisationen sehen, ist es oft schon zu spät.

 

Was macht den Kampf gegen die Mafia so schwierig?

Eine kriminelle Organisation ist so gegliedert, dass die Ermittler fast nicht hineinkommen. Das sind in sich geschlossene Gesellschaften. Zudem ist organisierte Kriminalität oft unsichtbar. Eine Leiche sehen Sie. Da muss ein Täter vorhanden sein. Aber ob eine Geldtransaktion einen kriminellen Hintergrund hat, das ist nicht offensichtlich.

Trotzdem verursacht die Kriminalität gesellschaftlichen Schaden.

Ja, das ist so. Aber: Solange man Kriminalität nicht sieht, beschäftigt sie einen auch nicht. Es ist wie beim Krebs: Vom Moment an, wo wir kriminelle Organisationen sehen, ist es oft schon zu spät. Wir müssen deshalb Kriminalität frühzeitig entdecken und eliminieren, bevor sie sich breitmacht.

Das Unternehmensstrafrecht wurde vor 20 Jahren auf internationalen Druck hin in der Schweiz eingeführt. Seither hat die Bundesanwaltschaft in diesem Bereich ein gutes Dutzend rechtskräftiger Verurteilungen erwirkt – wieso so wenige?

Das Problem ist auch hier, dass man es mit international tätigen Unternehmen zu tun hat. Das heisst, man muss die Straftat oftmals auch im Ausland nachweisen und ist auf die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Behörden angewiesen. Manchmal ist das nicht unbedingt im Sinne dieser Länder. Denn vielleicht ist die Stelle, die Rechtshilfe leisten müsste, auch die Stelle, wo Schmiergelder bezahlt wurden.

Der Schweizer Industriekonzern ABB einigte sich Ende 2022 mit den US-Behörden auf einen Vergleich in Höhe von gut 300 Millionen Dollar für Schmiergeldzahlungen in Südafrika. Zusätzlich wurde der Konzern in der Schweiz zu 4 Millionen Franken Strafe verurteilt. Eine zu milde Strafe?

Die Maximalstrafe von 5 Millionen Franken in der Schweiz steht in keinem Verhältnis zu dem, was international gilt. Gleichzeitig gibt es in der Schweiz Konzerne, die Umsätze in Milliardenhöhe erwirtschaften. Das heisst: Für ein Korruptionsdelikt im In- und Ausland riskieren Unternehmen bei uns lediglich eine Busse von 5 Millionen Franken. Da stimmen doch die Proportionen nicht. Mit so geringen Strafen sendet die Schweiz zudem die Botschaft aus, dass uns das Thema nicht so wichtig ist.

Teilweise werden verurteilte Firmen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen. Wirkt das?

Diesen Ausschluss scheuen die Firmen am meisten, weshalb sie auch kein Interesse daran haben, an der Aufklärung mitzuwirken. Deshalb schlage ich auch immer wieder die Möglichkeit eines DPA vor.

Was ist ein DPA?

DPA steht für Deferred Prosecution Agreement oder auch «convention judiciaire d’intérêt public», wie es in Frankreich heisst. Was der bedingte Strafvollzug für physische Personen ist, ist der DPA für Firmen. Dadurch kann die Bundesanwaltschaft mit der Firma vereinbaren, dass man vorläufig auf eine Anklageerhebung verzichtet. Dies beispielsweise unter der Bedingung, dass die Firma während ein paar Jahren mit den Behörden zusammenarbeitet, ein Monitoring durchführen lässt oder zum Beispiel das Management auswechselt. ABB hat sich zum Beispiel mit den USA im Rahmen eines DPA geeinigt.

 

Man kann nicht alle Probleme mit dem Strafrecht lösen. Strafrecht ist immer die letzte Barriere.

 

Was ist der Vorteil eines DPA?

Ein DPA kann Unternehmen ermutigen, mutmassliche Fälle im Bereich des Unternehmensstrafrechts selbst anzuzeigen und mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren. Ohne Verurteilung riskieren sie nicht, von Ausschreibungen ausgeschlossen zu werden.

Die Strafen in der Schweiz scheinen tief, aber auch die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden.

Man kann nicht alle Probleme mit dem Strafrecht lösen. Strafrecht ist immer die letzte Barriere. Es gibt immer noch andere Checks und Balances. Beispielsweise die soziale Kontrolle. Am Schluss, wenn alles andere nichts nützt, ist das Strafrecht an der Reihe.

Was ist die Rolle der Medien?

Viele grössere Verfahren sind im In- und Ausland durch Journalisten in Gang gesetzt worden. Und dann ist eine Lawine ins Rollen gekommen. Es ist die Rolle der freien Presse, solche Berichterstattung zu leisten.

Stichwort Bankgeheimnis: Artikel 47 Bankengesetz verunmöglicht es Journalisten, geleakte Schweizer Bankdaten zu sichten…

Ich überlasse es dem Gesetzgeber, ob er die Notwendigkeit sieht, das zu ändern oder nicht.

Ihr Vorgänger ist 2020 zurückgetreten. In der Berichterstattung ging es zuletzt nur noch um seine Person. Jetzt scheint es ruhiger geworden zu sein.

Das sagen mir viele. Aber wir sind ja nicht dazu da, um Aufmerksamkeit in der Bevölkerung zu haben. Wir sind da, um unsere Arbeit zu tun. Diese ist vielfach nicht spektakulär. Es gibt spektakuläre Fälle, beispielsweise wenn berühmte Personen betroffen sind. Aber auch wenn sich diese beim Bundesstrafgericht in Bellinzona zeigen müssen, geht es nicht um die berühmten Köpfe, sondern darum, ob aus unserer Sicht strafbare Handlungen vorliegen oder vorliegen könnten. Es geht nicht um Darstellung oder um Effekthascherei.

Werden Sie sich im September dem Parlament für Ihre Wiederwahl stellen?

Ich bin jetzt gut 14 Monate im Amt. Damit ist die Einarbeitungszeit in etwa durch. Ich glaube aus dem Kosten-Nutzen-Verhältnis dieses Aufwands lässt sich erahnen, dass ich nicht gleich wieder abtreten möchte. (lacht) Ich werde mich der Wiederwahl stellen.

Zitiervorschlag: Interview mit Stefan Blättler, Bundesanwalt (2023). «Gerichts­ver­hand­lun­­gen sind kein Box­match». Die Volkswirtschaft, 10. März.

Stefan Blättler

Stefan Blättler, 63, ist promovierter Jurist der Universität Neuenburg. Im September 2021 wählte ihn das Parlament zum Bundesanwalt für den Rest der Amtsperiode. Sein Vorgänger legte 2020 sein Mandat nieder. Blättler war über 30 Jahre für die Kantonspolizei Bern tätig. 16 Jahre leitete er diese.

Die Bundesanwaltschaft zählt knapp 250 Vollzeitstellen – darunter 50 Staatsanwälte. Der Hauptsitz ist in Bern. Im September 2023 wird der Bundesanwalt für die Amtsperiode 2024–2027 gewählt.