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Im Kopf des Kriminellen

Wirtschaftskriminelle kalkulieren nicht einfach Kosten und Nutzen. Ebenso wichtig sind das soziale Umfeld sowie psychologische Faktoren. Ein verhaltensökonomisches Gutachten.

Im Kopf des Kriminellen

Der Financier und Anlagebetrüger Dieter Behring im Jahr 2004. (Bild: Keystone)

Sagt Ihnen der Name Dieter Behring etwas? Das Schweizer Pendant zu Bernie Madoff galt als scheinbares Finanzwunderkind, das Anleger um 800 Millionen Franken betrogen hat, bevor es erwischt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Aber warum werden Geschäftsleute wie Dieter Behring und Bernie Madoff angesichts solcher Strafen zu Wirtschaftskriminellen? Wovon hängt es ab, ob jemand der Versuchung des kriminell verdienten Geldes erliegt? Die klassische Wirtschaftstheorie würde antworten: von den zu erwartenden Vorteilen und Kosten[1], also zum Beispiel vom finanziellen Gewinn, von einem grösseren Marktanteil oder einem besseren Ruf.

Kostspielige Konsequenzen

Auf der anderen Seite wägen potenzielle Kriminelle gemäss der herkömmlichen Wirtschaftstheorie auch die potenziellen Kosten ab. Dazu zählen Geld- und Haftstrafen sowie Reputationsschäden, wenn man erwischt wird. Die Strafen für Wirtschaftskriminalität in der Schweiz können sehr hoch sein und bei einigen Delikten bis zu zehn Jahre Haft betragen. Sie können Geld- und Freiheitsstrafen sowie die Beschlagnahmung von Vermögenswerten umfassen. Privatpersonen müssen mit Zivilklagen und Rufschädigung rechnen. Zudem können Verbote ausgesprochen werden, in bestimmten Branchen tätig zu sein, oder Unternehmen werden von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen. Diese Strafen können lang anhaltende Folgen haben und sich erheblich auf das finanzielle und berufliche Ansehen einer Person oder eines Unternehmens auswirken. Andererseits sind die Bussen für Wirtschaftsdelikte in der Schweiz auf 5 Millionen Franken begrenzt, und die möglichen Gewinne sind viel höher.

Sowohl bei den Vorteilen als auch bei den Kosten sind die Wahrscheinlichkeit, dass sie eintreten, und der hierfür mögliche Zeitpunkt zu berücksichtigen. Veruntreuung oder Insiderhandel können beispielsweise schwer aufzudecken sein, da sie manipulierte Finanzunterlagen oder vertrauliche Informationen beinhalten. Ausserdem können viele Wirtschaftsdelikte wie Korruption oder Bestechung begangen werden, ohne eindeutige Beweise oder Spuren zu hinterlassen. Die finanziellen Vorteile daraus gelingen daher ziemlich oft und erfolgen sofort. Die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, ist jedoch gering, und die möglichen Strafen liegen weit in der Zukunft. Die Verbrechen von Madoff und Behring blieben jahrzehntelang unentdeckt und ungestraft.

Eine Frage der Kultur

Also hängt die Frage, ob man ein wirtschaftskriminelles Verbrechen begeht, einzig von dieser einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung ab? Nein. Dieser Ansatz genügt nicht, um alles zu erklären. Auch die eigene Psychologie spielt eine Rolle. Einige gewichten sozialen Status und Geld höher, was sie zu Wirtschaftskriminalität anspornt. Anderen ist Gesetzestreue mehr wert. Das erhöht die «wahrgenommenen» Kosten einer allfälligen Verurteilung und verstärkt die damit verbundene öffentliche Scham.

Mitentscheidend, ob jemand der kriminellen Versuchung erliegt, sind auch das wirtschaftliche und das soziale Umfeld. Wenn ein Unternehmen beispielsweise unter finanziellem Druck steht oder wenn es mittels hoher leistungsabhängiger Prämien seine Mitarbeitenden anspornt, dann sind Führungskräfte möglicherweise eher bereit, zu betrügen oder wegzuschauen. Umgekehrt kann eine Firma mit strengen ethischen Richtlinien und einer gesetzestreuen Kultur die Anreize für Wirtschaftskriminalität verringern. Solche psychologischen und sozialen Faktoren müssen berücksichtigt werden.

Erforschung des Irrationalen

Einen wertvollen Blickwinkel, um die Beweggründe für Wirtschaftskriminalität zu verstehen, bietet die Verhaltensökonomie. Dieser Zweig der Wirtschaftswissenschaften berücksichtigt, wie menschliches Verhalten von rationalen Entscheidungen abweicht und wie psychologische, soziale und emotionale Faktoren wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen. So haben Verhaltensökonomen herausgefunden, dass es eine Reihe von «kognitiven» und «emotionalen» Faktoren gibt, welche Menschen in der Tendenz zu unethischem Verhalten verleiten.[2]

Ein Beispiel für ein solches kognitives Phänomen ist die sogenannte Prospect-Theorie. Sie besagt, dass Menschen ihre Entscheidungen anhand der «wahrgenommenen» Eintretenswahrscheinlichkeit treffen. Diese kann allerdings von den objektiven Eintretenswahrscheinlichkeiten abweichen. Dadurch schätzen Unternehmen und Beamte die Aufdeckungswahrscheinlichkeit bei Wirtschaftskriminalität oft falsch ein. So hören wir in den Nachrichten beispielsweise nur von den Verbrechern, die gefasst wurden, aber nicht von denen, die unentdeckt blieben.

Ein anderes relevantes Konzept ist die Verlustaversion. Ihr zufolge reagieren Menschen empfindlicher auf Verluste als auf Gewinne. Das kann letztlich dazu führen, dass Menschen Entscheidungen treffen, die sie unter anderen Umständen als unethisch einordnen würden. Wenn sie beispielsweise der Meinung sind, dass ihnen ein grosser Jahresendbonus zusteht, werden sie sich möglicherweise kriminell verhalten, um die Quoten zu erreichen und den Bonus zu erhalten. Und schliesslich erklärt die sogenannte hyperbolische Diskontierung, weshalb Menschen allfälligen Konsequenzen ihrer Handlungen umso weniger Gewicht beimessen, je weiter diese in der Zukunft liegen. Da die Urteile für Wirtschaftsdelikte oft lange auf sich warten lassen, kann dies ihre präventive Wirksamkeit verringern.

Emotionen: Verführer und Verhinderer

Auch emotionale Faktoren spielen bei der Entscheidung für ein Verbrechen eine Rolle. Oftmals haben diese jedoch zwei Seiten. Sie wirken gleichzeitig fördernd und hemmend. Wut etwa kann Menschen dazu bringen, impulsiv zu handeln und Entscheidungen zu treffen, die sie später bereuen. Beispielsweise wenn jemand den eigenen Arbeitgeber bestiehlt. Umgekehrt kann Wut potenzielle Straftäter auch abschrecken, wenn sich diese vor den wütenden Reaktionen ihrer Freunde und Kollegen fürchten, sollte das Verbrechen ans Licht kommen. Auch das Schamgefühl, als Krimineller entlarvt zu werden, wirkt einerseits abschreckend. Andererseits könnte die Scham darüber, nicht genug Geld zu verdienen, auch zu mehr Wirtschaftskriminalität führen.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer verhaltensökonomischer Faktoren, welche im Zusammenhang mit Wirtschaftskriminalität von Bedeutung sind. Dazu gehören die Tendenz, so zu handeln, wie andere das tun[3], oder das Überschätzen der eigenen Fähigkeiten respektive der Illusion zu unterliegen, alles im Griff zu haben. Ein anderes Beispiel ist das Phänomen der «moralischen Lizenzierung», bei der Menschen, die sich in einer Situation ethisch korrekt verhalten haben, sich in einer anderen Situation berechtigt fühlen, sich unethisch zu verhalten. Dieses Phänomen tritt nachweislich bei Führungskräften auf, die sich sozial verantwortlich verhalten. Diese fühlen sich dann oft weniger schuldig, wenn sie kriminell werden.[4]

Strafen stören Moralkompass

Angesichts der Tatsache, dass die Aufdeckungswahrscheinlichkeit bei einigen Arten von Wirtschaftskriminalität gering ist und die zu erwartenden Strafen nicht so hoch sind, ist es vielleicht nicht überraschend, wie oft wir von Wirtschaftskriminalität in den Nachrichten hören. Aber es wäre noch häufiger, wenn die Menschen nicht durch intrinsische Motivation und andere Verhaltensfaktoren davor abgeschreckt würden. Deshalb sind die Einsichten der Verhaltensökonomie entscheidend, um wirksame Strategien zur Verhinderung zu entwickeln. Denn Menschen werden oft durch mehr als nur finanzielle Anreize motiviert. Auch Faktoren wie ein starker Moralkodex, soziale Normen und Reputationsbedenken spielen eine wichtige Rolle.

Heute werden oft explizite Anreize wie strafrechtliche Sanktionen eingesetzt, um Einzelpersonen von Wirtschaftsdelikten abzuhalten. Solche Anreize können jedoch auch unbeabsichtigte Folgen haben. Denn wenn Menschen durch äussere Belohnungen oder Strafen motiviert werden, kann dies ihre innere Motivation zu ethischem und verantwortungsvollem Verhalten untergraben. Dies kann dazu führen, dass sich der Einzelne ausschliesslich an der Androhung von Strafen orientiert. Letztlich verringert das die Wahrscheinlichkeit, sich ethisch zu verhalten, wenn niemand mehr hinschaut. Möglicherweise hat auch bei Dieter Behring oder Bernie Madoff dieser innere Moralkompass versagt.

  1. Siehe beispielsweise Draca und Machin (2015). []
  2. Siehe van Winden und Ash (2012). []
  3. Siehe Asch (1951). []
  4. Siehe Wang und Chan (2019). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Elliott Ash (2023). Im Kopf des Kriminellen. Die Volkswirtschaft, 13. März.