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Wirtschafts­krimi­nali­tät in der Schweiz: Die Ge­schich­te eines lan­gen Kampfes

Die Wirtschaftskriminalität ist so alt wie die Wirtschaft selbst. Der Kampf dagegen wurde allerdings nur schrittweise intensiviert. Historisch betrachtet, gleicht er einem Katz-und-Maus-Spiel.
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Die Hauptangeklagten am Prozess um die Texon-Affäre der Schweizerischen Kreditanstalt in Chiasso (v. l.): Elbio Gada, Ernst Kuhrmeier, Claudio Laffranchi und Alfredo Noseda im Mai 1979. (Bild: Keystone)

Das positive Recht der Schweiz enthält keine Definition des Begriffs «Wirtschaftskriminalität». Bereits 1975 sagte der Direktor des Bundesamts für Justiz: «Alle wissen ungefähr, was Wirtschaftskriminalität ist. […] Es handelt sich um einen neuen Begriff für eine alte Tatsache, einen Begriff, der namentlich Verstösse gegen das Gesellschafts- und Betreibungsrecht, Steuerbetrug, den unlauteren Wettbewerb, Zollvergehen, irreguläre Immobilientransaktionen und die Wirtschaftsspionage umfasst.»[1]

In jüngerer Zeit wurden mehrere Versuche unternommen, um Wirtschaftskriminalität klarer zu fassen.[2] Aus kriminologischer und soziologischer Sicht findet Wirtschaftskriminalität in einem wirtschaftlichen Umfeld statt, im Rahmen einer an sich legitimen Tätigkeit in einem privaten Unternehmen oder in einer staatlichen Organisation. Dies im Gegensatz zur sogenannten organisierten Kriminalität. In der Regel wird keine physische Gewalt, sondern betrügerische Praktiken angewendet. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist der Wunsch, Gewinn zu machen, wirtschaftliche Dominanz auszuüben oder das Überleben eines strauchelnden Unternehmens zu sichern. Wirtschaftskriminelle handeln im Wesentlichen im Rahmen ihrer Arbeit. Oft verfügen sie über ein gewisses soziales Prestige und ein Vertrauenskapital, das sie missbrauchen, um ihre Taten zu begehen.

Eine Kriminalität der Eliten

Diese Sicht auf die Wirtschaftskriminalität geht teilweise auf den in den 1930er-Jahren vom amerikanischen Soziologen Edwin Sutherland geprägten Begriff «white-collar crime» zurück. Ihm zufolge werden solche Taten von ehrenwerten und sozial angesehenen Personen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit begangen.[3] Elitekriminalität wurde also von wirtschaftlichen und politischen Machthabern mit weissen Hemdkragen verübt, in Abgrenzung zu den Arbeitern mit blauen Hemdkragen. Bereits davor, nämlich 1905, formulierte der marxistische niederländische Jurist Willem Bonger eine vergleichsweise ähnliche Definition. Darin behauptete er, es gebe die Täterschaft der besitzenden Klasse, die dem Wirtschaftssystem inhärent sei.

Die Diskussionen über diese Definitionen werden teilweise heftig geführt. Mal konzentrieren sie sich auf die Straftaten selbst (insbesondere ungetreue Geschäftsbesorgung, Urkundenfälschung und Betrug), mal auf das Profil und den Modus operandi der Täter. Trotzdem scheint eines klar zu sein: Wirtschaftskriminalität gibt es zwar schon seit Langem; wie sie wahrgenommen wird, hat sich aber im Laufe der Zeit verändert.

Uralte illegale Praktiken

Illegale oder illegitime Praktiken im Geschäftsleben sind so alt wie die Wirtschaft selbst. Die wirtschaftliche Entwicklung der USA im 19. Jahrhundert war von Korruption und monopolistischer Ausbeutung durch die als Räuberbarone bezeichneten Geschäftsleute geprägt. In der Schweiz sorgte 1869 der Fall eines Kassiers der Zürcher Filiale der Eidgenössischen Bank für Schlagzeilen: Er wurde der Unterschlagung von 3,2 Millionen Franken (heute rund 35 Millionen Franken) schuldig gesprochen.[4] Der an der italienisch-österreichischen Grenze verhaftete Beschuldigte wurde zu einer elfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

In den 1970er- und 1980er-Jahren erlebte die Wirtschaftskriminalität eine bedeutende Wende. Damals wurde man sich ihrer Besonderheiten stärker bewusst. Der Begriff wurde populärer und Gegenstand immer tiefgehender akademischer Forschung. Ein Beispiel ist eine vom Gottlieb-Duttweiler-Institut im Oktober 1970 in Zürich organisierte internationale Konferenz zum Thema. Unter den Teilnehmenden fanden sich mehr als 150 Sachverständige und Rechtsgelehrte aus elf Ländern.

Der Kampf wird verstärkt

Auch die Justiz ging immer stärker gegen Wirtschaftskriminalität vor. In mehreren Kantonen wurden in den 1970er-Jahren spezialisierte Strafverfolgungsbehörden geschaffen, zur Untersuchung und Bekämpfung von Wirtschaftsstraftaten (Sondereinheiten der Justiz oder Fachabteilungen der Polizei).

Neben diesen Verbesserungsmassnahmen auf kantonaler Ebene wurden auch auf Stufe Bund und interkantonaler Ebene erste Überlegungen angestellt und mehrere Arbeitsgruppen eingesetzt. Geleitet wurden diese vom Bundesamt für Justiz oder von der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Die Harmonisierung der einzelnen Vorgehensweisen und der interkantonalen Zusammenarbeit kam jedoch kaum vorwärts. In jener Zeit nahmen auch die internationalen Rechtshilfegesuche an Schweizer Behörden im Bereich der Wirtschaftskriminalität zu.[5]

Berühmte Fälle waren Auslöser

Zwischen 1965 und 1999 erschütterten etliche Fälle von Wirtschaftskriminalität die Schweiz (siehe Tabelle). Oft waren solche Fälle der Ausgangspunkt für Versuche, den rechtlichen und gesetzlichen Rahmen zu reformieren, um sowohl auf kantonaler als auch auf eidgenössischer Ebene besser gegen Wirtschaftskriminalität vorgehen zu können. So sind die Bemühungen um eine Spezialisierung der Justizbehörden in Zürich auf parlamentarische Vorstösse nach den Zürcher Bankdebakeln von 1965 und 1974 zurückzuführen. Auch die Empörung über den Skandal der Schweizerischen Kreditanstalt in Chiasso 1977 (siehe Kasten) löste eine breite Diskussion über die Rolle der Banken in der Schweiz aus.

Und schliesslich spielten Affären in den 1980er-Jahren wie die Pizza Connection, später die Libanon Connection sowie die vom ehemaligen philippinischen Diktator Ferdinand Marcos unterschlagenen Gelder eine wichtige Rolle bei der Erarbeitung einer Rechtsnorm für die Bekämpfung von Geldwäscherei: Im März 1990 wurde das Strafgesetzbuch um zwei neue Straftatbestände ergänzt (Art. 305bis und Art. 305ter), und im Oktober 1997 folgte das Geldwäschereigesetz.

20 Wirtschaftskriminalitätsfälle in der Schweiz, insbesondere im Bankensektor (1965–1999)

IBZ Finanz AG, Werner Fuchs, Zürich, 1965
Azad-Bank, Meinrad Kälin und Fritz Berger, Zürich, 1965
Aiutana Bank, Felix Wyler, Zürich, 1965
Banque genevoise de commerce et de crédit, Julio Muñoz und Hermann Hug, 1965
Arbitrex AG/Aeschenbank, Max Tröndle, Basel, 1967
United California Bank Basel AG, Paul Erdmann, 1970
Investors Overseas Services (IOS), Bernard Cornfeld, Genf, 1970–71
Metro-Bank/Profinanz AG, Hugo Stürchler, Zürich, 1974
Banque de crédit international, Genf, Tibor Rosenbaum, 1974
Atlas-Bank, René Eugen Lins, Zürich, 1974
Banque privée Leclerc, Robert Leclerc, Genf, 1977
Schweizerische Kreditanstalt, Affäre Texon, Ernst Kuhrmeier, Claudio Laffranchi und Meinrad Perler, Chiasso, 1977
Weisscredit, Rolando Zoppi, Renzo di Piramo und Elvio Zoppi, Lugano, 1977
Pizza Connection, Paul Edouard Waridel, Franco della Torre und Enrico Rossini, Lugano, 1985
Plumey AG, André Plumey, Basel, 1986
Libanon Connection, Mohammed Shakarchi, Jean und Barkev Magharian, 1988
Banque de crédit et de commerce international (BCCI) / Banque de commerce et de placements, Genf, 1991
Raphael Huber, Wirte-Affäre, Zürich, 1995
Jean Dorsaz / Walliser Kantonalbank, Sitten, 1998
Omni Holding, Werner K. Rey, Zürich, 1999
Anmerkung: Das Datum verweist auf das Jahr der Aufdeckung des Falls. Der Überblick endet an der Wende zum 21. Jahrhundert, als die Bundesanwaltschaft mit der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität betraut wurde.
Quellen: Schmid (1980) / Rossier (2019) / Queloz (2001)

Und die Strafverfolgung?

Die Strafverfolgung bestimmter Wirtschaftsdelikte liegt erst seit 2002 in der Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft. Zuvor waren allein die kantonalen Justizbehörden für die Untersuchung und Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten verantwortlich. Diese Reorganisation geht auf die 1990er-Jahre zurück. In seiner Botschaft vom 28. Januar 1998 stellte der Bundesrat klar, dass sich die Zuständigkeit des Bundes (Art. 24 der Strafprozessordnung) auf das organisierte Verbrechen, die Terrorismusfinanzierung und die Wirtschaftskriminalität erstrecke. Letztere umfasst auch Vermögensdelikte oder Bestechungstatbestände, wenn die Taten zu einem wesentlichen Teil im Ausland oder in mehreren Kantonen begangen wurden.

Guten Ruf des Finanzplatzes wahren

Mit etwas geschichtlichem Abstand lässt sich feststellen: Die Wirtschaftskriminalität und die Reaktion der Behörden auf die aufgedeckten Fälle haben stets auch Fragen nach dem Vertrauen in die Institutionen und in ihre Reputation aufgeworfen. Für die Bankenwelt bestand das Hauptziel der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität darin, den Ruf der Schweiz als seriöser und solider Finanzplatz im Ausland zu schützen. Für die politischen Behörden stand hingegen das Vertrauen in die Institutionen auf dem Spiel. Pierre-Henri Bolle, Leiter der Sektion Strafrecht der Division Justiz im Justiz- und Polizeidepartement, drückte diese grundlegende Herausforderung bereits im April 1975 aus: «Angesichts dieser wahren sozialen Plage, die die Wirtschaftskriminalität darstellt, sieht sich der Staat in allen westlichen Ländern mit einem Vorwurf konfrontiert. Nämlich, dass er sich nicht an die dicken Fische heranwage, sondern nur ein paar kleine Fische fange. Damit lasse der Staat eine gravierende Ungleichbehandlung vor dem Strafgesetzbuch zu, die in der Öffentlichkeit zu einem anhaltenden Unbehagen und zum Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz und die Organe führt, die generell mit der Kriminalitätsbekämpfung betraut sind.»[6]

  1. Siehe Voyame (1975). Vortrag der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und ‑direktoren. Basel, (6.–7. November), S. 17, Zitat aus dem Französischen übersetzt. []
  2. Siehe Queloz (2002), Augsburger-Bucheli (2010), Augsburger-Bucheli und Tirelli (2020) sowie Cassani (2020). []
  3. Siehe Sutherland (1940). []
  4. Siehe Schmid (1980) und Kunz (1965). []
  5. Siehe auch Giddey (2022). []
  6. Siehe Bundesarchiv (1975). Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, Brief von Pierre-Henri Bolle (Division Justiz, Sektion Strafrecht) an Kurt Furgler (BR), E4110B#1988/166#148* (16. April), Zitat aus dem Französischen übersetzt. []

Literaturverzeichnis
  • Augsburger-Bucheli I. (2010). La criminalité économique: ses manifestations, sa prévention et sa répression, Paris: L’Harmattan.
  • Augsburger-Bucheli I. und L. Tirelli (2020). De l’utilité d’une définition de la criminalité économique, de son usage et du besoin de s’en affranchir, Droit pénal et criminologie: mélanges en l’honneur de Nicolas Queloz, Basel: Helbing & Lichtenhahn, S. 169–79.
  • Cassani U. (2020). Droit pénal économique: éléments de droit suisse et transnational, Basel: Helbing Lichtenhahn, S. 3–4.
  • Giddey T. (2022). The Institutionalization of the Fight Against White-Collar Crime in Switzerland, 1970–1990, Business History, 64:7, S. 1185–1210.
  • Kunz W. (1965). Kleiner Schweizer Pitaval. Zwanzig Kriminalfälle aus Städten und Dörfern der Schweiz, Hamburg: Kriminalistik, S. 155-162.
  • Queloz N. (2001). Délinquants ‹en col blanc› en Suisse: âge des cheveux gris, réactions sociales privilégiées et intérêt scientifique à y prêter attention, Wirtschaft und Strafrecht: Festschrift für Niklaus Schmid zum 65. Geburtstag, Zürich: Schulthess, S. 107–108.
  • Queloz N. (2002). Criminalité économique et criminalité organisée, L’Économie politique 15, Nr. 3, S. 58–67.
  • Rossier R. (2019). La Suisse et l’argent sale: 60 ans d’affaires bancaires, Les routes de l’histoire, Neuenburg: Alphil.
  • Schmid N. (1980). Banken zwischen Legalität und Kriminalität: zur Wirtschaftskriminalität im Bankenwesen, Heidelberg: Kriminalistik Verlag.
  • Sutherland E. (1940). White-Collar Criminality, American Sociological Review 5, Nr. 1, S. 1–12.

Bibliographie
  • Augsburger-Bucheli I. (2010). La criminalité économique: ses manifestations, sa prévention et sa répression, Paris: L’Harmattan.
  • Augsburger-Bucheli I. und L. Tirelli (2020). De l’utilité d’une définition de la criminalité économique, de son usage et du besoin de s’en affranchir, Droit pénal et criminologie: mélanges en l’honneur de Nicolas Queloz, Basel: Helbing & Lichtenhahn, S. 169–79.
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  • Schmid N. (1980). Banken zwischen Legalität und Kriminalität: zur Wirtschaftskriminalität im Bankenwesen, Heidelberg: Kriminalistik Verlag.
  • Sutherland E. (1940). White-Collar Criminality, American Sociological Review 5, Nr. 1, S. 1–12.

Zitiervorschlag: Giddey, Thibaud (2023). Wirtschafts­krimi­nali­tät in der Schweiz: Die Ge­schich­te eines lan­gen Kampfes. Die Volkswirtschaft, 10. März.

Der Chiasso-Skandal der Schweizerischen Kreditanstalt 1977
Am 14. April 1977 räumte die Schweizerische Kreditanstalt (SKA) über eine Pressemitteilung ein, dass ihre Tessiner Filiale in Chiasso grosse Probleme eines wichtigen Firmenkunden verschleiert hatte. Die Verluste wurden auf 1,4 Milliarden Franken geschätzt. Die überraschte Öffentlichkeit erfuhr, dass dieser sogenannte Firmenkunde namens Texon mit Sitz in Liechtenstein in Tat und Wahrheit eine Bank in der Bank war, die im Wesentlichen dazu diente, die Kapitalflucht aus Italien zu erleichtern. Erschwerend kam hinzu, dass Filialleiter E. Kuhrmeier für die Geschäfte der Firma Texon eine Bürgschaft der SKA angeboten hatte, die so hoch gewesen wäre wie das gesamte Kapital und die statutarischen Reserven der Bank. Ende April wurden Kuhrmeier und zwei seiner Kollegen wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung verhaftet. Die Affäre, die eine der grössten Banken des Landes betraf, erschütterte den gesamten Schweizer Finanzplatz und sorgte im In- und Ausland für Schlagzeilen. Dennoch konnte die Finanzwelt verhindern, dass der Skandal zu einer Verschärfung des Bankengesetzes führte: Die von der Sozialdemokratischen Partei eingereichte Volksinitiative «Gegen den Missbrauch des Bankgeheimnisses» wurde 1984 deutlich abgelehnt und das Ergebnis als Zustimmung zum Bankgeheimnis gewertet.