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Berufsberatung im Wandel der Zeit

Die Geschichte der Berufsberatung beginnt vor über 200 Jahren. Ihr Beratungsfokus wechselte von fürsorgerisch motivierter Tätigkeit über die Vermittlung hin zur Beratung, wie wir sie heute kennen.
Einen Beruf zu wählen, ist nicht immer ganz einfach: Lernende an der Geigenbauschule Brienz im Jahr 1969. (Bild: Keystone)

Zu Beginn der Industrialisierung, Anfang des 19. Jahrhunderts, zerfiel die Zunftordnung. Parallel dazu entwickelte sich die Gewerbe- und Berufswahlfreiheit in der Schweiz. Eine Gesetzgebung zur Regelung von Ausbildungsverhältnissen fehlte. Private – zu Beginn meist Pfarrer – initiierten daher sogenannte Lehrlingspatronate zum Schutz von Lehrlingen. Die Unterstützung von Jugendlichen zielte darauf ab, eine berufliche Qualifizierung und daran anknüpfend eine gesicherte Beschäftigung und Entlöhnung zu gewährleisten. Das war notwendig, um Jugendliche der unteren sozialen Schichten vor Armut zu bewahren. [1]

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich aus den Lehrlingspatronaten ein schweizweites Beratungsnetz, welches 1902 in der Gründung des Verbandes Schweizerischer Lehrlingspatronate mündete.[2] Parallel dazu entwickelte sich das Schweizer Berufs-/Bildungssystem. Neue Schulformen entstanden, und erste kantonale Gesetze regelten den Lehrlingsschutz und die Ausbildungsverhältnisse. Im Kanton Neuenburg trat 1890 das erste kantonale Berufsbildungsgesetz in Kraft.

Bestrebungen, das Berufsbildungssystem auf Bundesebene zu regeln, sowie die Forderung des Schweizerischen Verbandes für Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung (SVBL), die Berufsberatungen zu subventionieren, mündeten in Zeiten der Weltwirtschaftskrise im ersten Schweizer Berufsbildungsgesetz I 1930/33.[3] Von da an bis ins Jahr 1995 wurden die Bundesstatistiken zur Berufsberatung in «Die Volkswirtschaft» veröffentlicht. Diese Daten erlauben einen Einblick in die Beratungstätigkeit und deren Wandel (siehe Kasten).

 

Berufswünsche und Lehrstellenvermittlung im Zentrum

Die Erfassung der Berufswünsche und der Lehrstellenvermittlung stand zunächst im Zentrum der statistischen Erhebung. Beide Kategorien wurden jeweils in Berufsgruppen und -untergruppen dargestellt, was den nahen Zusammenhang zwischen Fragen des Arbeitsmarktes und der Arbeitsmarktpolitik aufzeigte. Die Darstellung der Lehrstellenvermittlung unterschied zudem zwischen Angebot und Nachfrage, sprich Anzahl angemeldeter oder durch die Berufsberatung beschaffter Lehrstellen sowie Anzahl Lehrstellensuchender. Zusätzlich wurden die erfolgreich platzierten Lehrlinge erfasst. Diese Übersicht legitimierte die Berufsberatung als erfolgreiche vermittelnde Institution, die Unternehmen bei der Rekrutierung des Nachwuchses aktiv unterstützte.[4]

In den Daten spiegeln sich der Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre, die wachsende Bevölkerung sowie die stetige Reglementierung von Berufen – insbesondere in Gewerbe- und Industriezweigen – wider. Über gut zwei Jahrzehnte hinweg verdreifachte sich das Lehrstellenangebot in Gewerbe- und Industriezweigen; die Platzierungen durch die Berufsberatungsstellen verdoppelten sich (siehe Abbildung 1).

 

Abb. 1: Lehrstellenvermittlung der Berufsberatungsstellen (1934–1958)

Quelle: Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (1935-1959) / Die Volkswirtschaft

 

Beratungstätigkeit neu konzipiert

Ab den 1950er-Jahren bemühten sich einzelne kantonale Berufsberatungsstellen, dem Wandel der Arbeitswelt und der beginnenden Bildungsexpansion mit einer strukturierten Berufswahlvorbereitung am Ende der Sekundarschule zu begegnen.[5] Auch der Gesetzgeber reagierte im Rahmen der Gesamtrevision des ersten Berufsbildungsgesetzes[6], indem er die Zusammenarbeit zwischen Berufsberatung, Eltern, Schule und Wirtschaft über neue Aufgabenfelder der Berufsberatung gesetzlich verankerte. Gleichzeitig setzte der SVBL eine Kommission ein, welche ein Konzept und einen Bericht über die Berufswahlvorbereitung verfasste. Der Bericht beinhaltete Empfehlungen, die sich an Berufsberatungsstellen, Lehrpersonen sowie ihre Ausbildungsverantwortlichen richteten.[7]

Die flächendeckende Neukonzipierung zeigte sich nicht nur in der Umbenennung des Verbandes, der ab 1966 Schweizerischer Verband für Berufsberatung (SVB) hiess, sondern auch in der geänderten Erhebungs- und Darstellungspraxis der Bundesstatistiken ab dem Jahr 1970. Fortan erhoben der Bund und der SVB gemeinsam Daten. Sämtliche Kategorien zu Berufswünschen und der Lehrstellenvermittlung fielen weg. Stattdessen rückten pädagogische Angebotsstrukturen in den Fokus, was in «Die Volkswirtschaft» wie folgt begründet wird: «Weggefallen ist vor allem der Fragebogen betreffend die Berufswünsche der Ratsuchenden nach erfolgter Beratung. Die Fachleute waren der Ansicht, dass bei dieser Frage vielfach eher die Ansicht der Berater als die Berufswünsche der Ratsuchenden zum Ausdruck kommen.»[8]

In den Bundesstatistiken zeigte sich dies vor allem in der Kategorie «Art der Aufklärung», die neben einer Vermittlungstätigkeit im Rahmen der individuellen Einzelberatung (Berufsbesichtigungen und Berufspraktika bzw. Schnupperlehren) auch kollektive Veranstaltungen umfasste (siehe Abbildung 2).

 

Abb. 2: Kollektive Veranstaltungen (1971–1983)

Quelle: Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (1972–1984) / Die Volkswirtschaft

 

Zu kollektiven Veranstaltungen zählten insbesondere Elternveranstaltungen und Klassenbesprechungen, bei welchen Eltern, Schülerinnen und Schüler auf die Berufswahl vorbereitet wurden und Informationen zum Berufsbildungssystem erhielten. Innerhalb von knapp fünf Jahren (1971–1975) verdreifachten sich die pädagogischen Beratungsangebote. Im Fokus stand somit nicht mehr die «Hinberatung» in eine Lehrstelle, sondern die Befähigung, mittels pädagogischer Angebote eine Berufswahl selbstständig zu treffen.

Lehrlingspatronat, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung, Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung – die Wandlungsfähigkeit der Berufsberatung lässt sich auch an ihrem mit der Zeit ändernden Namen festmachen. Die Hauptadressaten bleiben aber seit mehr als 200 Jahren dieselben: Jugendliche am Übertritt vom obligatorischen ins nachobligatorische Bildungssystem. Dabei reagiert die Berufsberatung nicht nur auf den gesellschaftlichen Wandel, sondern gestaltet diesen aktiv mit. Kantonale Berufsberatungsstellen sowie der Verband positionierten sich immer wieder neu. Dies nicht zuletzt über die weitreichende Pädagogisierung ihrer Beratungstätigkeit und die konzeptionelle Fassung der Berufswahlvorbereitung, was sich in den Bundesstatistiken zwischen 1971 und 1983 zeigt.

Und heute? Statistische Erhebungen, ähnlich denjenigen der damaligen Bundesstatistiken, werden aktuell über das Nahtstellenbarometer des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation erfasst und in den Statistikberichten  der Schweizerischen Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung dargestellt.

  1. Siehe Bonoli (2021) und Heiniger (2003). []
  2. Siehe Heiniger (2003). []
  3. Siehe SWA PA 533[]
  4. Siehe Mazzarella und Kessler (2022)[]
  5. Siehe u. a. Beiträge der ehemaligen Verbandszeitschrift «Berufsberatung und Berufsbildung»; SWA PA 533[]
  6. Bundesgesetz über die Berufsbildung (BBG) II 1963/65. []
  7. Siehe SWA PA 533[]
  8. Siehe Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit  (1971). Die Volkswirtschaft, Jg. 44, Heft 4, S.168–170. []

Literaturverzeichnis
  • Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (1934–1993/94). Bundesstatistiken zur Berufsberatung (erschienen unter verschiedenen Titeln). In: Die Volkswirtschaft. Wirtschaftliche und sozialstatistische Mitteilungen. Monatlich herausgegeben vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement, [7–68].
  • Bonoli, L. (2021). The Origin of Vocational Guidance in Switzerland: Between Promotion of Aptitudes and Social Reproduction. In P. Eigenmann, P. Gonon und M. Weil (Hrsg.). Opening and Extending Vocational Education (S.75–98). Bern: Peter Lang.
  • Heiniger, F. (2003). Vom Lehrlingspatronat zum Kompetenzzentrum für Berufsberatung. 100 Jahre SVB. Zürich: Schweiz. Verband für Berufsberatung, SVB.
  • Mazzarella, J. und Kessler, S. (2022). Bundesstatistik über die Tätigkeit der Berufsberatungsstellen (1933–1993/94). Dokumentation zur inventarisierten Statistik. Zürich: Universität Zürich.

Bibliographie
  • Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (1934–1993/94). Bundesstatistiken zur Berufsberatung (erschienen unter verschiedenen Titeln). In: Die Volkswirtschaft. Wirtschaftliche und sozialstatistische Mitteilungen. Monatlich herausgegeben vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement, [7–68].
  • Bonoli, L. (2021). The Origin of Vocational Guidance in Switzerland: Between Promotion of Aptitudes and Social Reproduction. In P. Eigenmann, P. Gonon und M. Weil (Hrsg.). Opening and Extending Vocational Education (S.75–98). Bern: Peter Lang.
  • Heiniger, F. (2003). Vom Lehrlingspatronat zum Kompetenzzentrum für Berufsberatung. 100 Jahre SVB. Zürich: Schweiz. Verband für Berufsberatung, SVB.
  • Mazzarella, J. und Kessler, S. (2022). Bundesstatistik über die Tätigkeit der Berufsberatungsstellen (1933–1993/94). Dokumentation zur inventarisierten Statistik. Zürich: Universität Zürich.

Zitiervorschlag: Jennifer Mazzarella (2023). Berufsberatung im Wandel der Zeit. Die Volkswirtschaft, 25. April.

Das SNF-Infrastrukturprojekt «Bildung in Zahlen»

Im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Infrastrukturprojekts «Bildung in Zahlen» (SNF-Projekt Nr. 198049) werden am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich unter der Leitung von Professor Lucien Criblez für alle Bildungsstufen und Bildungsangebote der Allgemein- und Berufsbildung im 19. und 20. Jahrhundert in der Schweiz statistische Langzeitreihen generiert, kommentiert und kontextualisiert. Ziel des Projekts ist die Anlegung einer Datensammlung zur Analyse der Entwicklung der kantonalen Schulsysteme und des schweizerischen Berufsbildungswesens. Die Zeitreihen sind frei zugänglich.