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Infrastruktur in Latein­amerika: Mit der Schweiz auf neuen Wegen?

Lateinamerika will seine Infrastruktur ausbauen und erneuern. Es besteht ein hoher Nachholbedarf. Der Markt ist auch für Schweizer Anbieter interessant.

Infrastruktur in Latein­amerika: Mit der Schweiz auf neuen Wegen?

Strassenbau in Peru zwischen der Stadt Arequipa und der Hafenstadt Mollendo. (Bild: Keystone)

In kaum einer Region ist der Nachholbedarf für Infrastruktur so gross wie in Lateinamerika und der Karibik. 2220 Milliarden US-Dollar – diese gigantische Summe müssten die Staaten gemäss der Inter-American Development Bank bis 2030 in ihre Infrastruktur investieren, um die UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen.[1] Denn der Ausbau der Verkehrswege, der Strom- und Wasserversorgung, der Abfallentsorgung und der Telekommunikations­verbindungen ist zentral für die Region: Eine leistungsfähige Infrastruktur trägt einerseits zum physischen Wohlergehen der Bevölkerung bei, andererseits ist sie zentral für das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit auf den globalen Märkten.[2] Eine funktionierende Infrastruktur ermöglicht, an der Weltwirtschaft zu partizipieren, wodurch sich Unternehmen spezialisieren und auf wertschöpfungsintensive Aktivitäten konzentrieren und dadurch die Gesamtwirtschaft weiterentwickeln können.

 

Geringe Investitionen in Infrastruktur

 

Trotz seiner Bedeutung ist der Infrastruktur-Bereich in Lateinamerika und der Karibik seit Jahrzehnten unterfinanziert. Hatten die Staaten in den frühen 1980er-Jahren durchschnittlich noch über 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für die Infrastrukturfinanzierung aufgewendet, sank dieser Wert bald auf unter 1 Prozent.[3] Lediglich in Subsahara-Afrika wurde in den letzten Jahren weniger in den Ausbau und den Unterhalt der Infrastruktur investiert.[4]

Wesentlich zur Unterfinanzierung beigetragen hat die Wirtschaftskrise in den späten 1980er-Jahren. Diese Dekade wird als «La Década Perdida» – «das verlorene Jahrzehnt» – bezeichnet. Es war geprägt durch wirtschaftliche Stagnation und anhaltend hohe Staatsschulden. Im damaligen Hochzinsumfeld sahen sich viele Staaten der Region nicht in der Lage, ihre Schulden zu bedienen, und mussten sich mithilfe internationaler Finanzinstitutionen refinanzieren. Staatliche Ausgaben und Investitionen wurden zurückgefahren, einschliesslich jener in die Infrastruktur. In der Hoffnung, die staatlichen Lücken zu füllen, folgten vielerorts Privatisierungen der Infrastruktur. Doch die privaten Investitionen konnten den Rückgang der staatlichen Mittel nicht kompensieren. Der Ausbau und die Weiterentwicklung der Infrastruktur in Lateinamerika und der Karibik stagnierten.[5] Daran änderte auch das zwischenzeitliche Ansteigen der Investitionen im Zuge hoher Rohstoffpreise in den 2000er-Jahren nichts.

Durch den angestrebten Wandel hin zu einer grünen und digitalen Wirtschaft kommen neue Bedürfnisse hinzu. Zudem sind die Staaten in Lateinamerika und der Karibik mittlerweile mit weiteren wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Während die aktuell hohen Preise für Rohstoffe und Agrargüter einzelnen Ländern durchaus Mehreinnahmen versprechen, trüben steigende Zinsen die wirtschaftlichen Aussichten. Dies, nachdem die Covid-Pandemie die Region bereits wirtschaftlich zurückgeworfen hatte. Investitionen in den Ausbau und Unterhalt der Infrastruktur zurückzufahren, ist aber der falsche Weg. Aufgrund ihres hohen Multiplikatoreffekts können gerade sie dabei helfen, Volkswirtschaften zu stabilisieren und den Folgen der gegenwärtigen multidimensionalen Krise zu begegnen.

 

Die Schweiz im Nachteil

 

Schweizer Firmen könnten die Infrastrukturdefizite in Lateinamerika mitbeheben. Beispielsweise im Bereich der urbanen Mobilität, in der Wasserversorgung sowie der Abfallentsorgung bieten sie hoch entwickelte Lösungen an. Auch im Tunnelbau, dem Schienenfahrzeugbau und dem Bahnbetrieb haben Schweizer Unternehmen erprobtes Know-how, ebenso im Bereich der Energie- und Umwelttechnik.[6] Doch in den vergangenen Jahrzehnten haben Schweizer Anbieter in vielen Märkten trotz der hohen Qualität ihrer Lösungen an Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst – auch in Lateinamerika. Denn die internationale Konkurrenz arbeitet koordinierter. Dafür gibt es zwei Hauptgründe.

Erstens dominieren im Infrastrukturbereich generell sogenannte Engineering-Procurement-and-Construction-Firmen (EPC), die den Kunden schlüsselfertige Lösungen anbieten. In der Schweiz gibt es kaum noch solche Generalunternehmer. Schweizer Firmen wie Elektrowatt und Motor-Columbus, die einst aus Finanzierungsgesellschaften der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft hervorgegangen waren und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in enger Zusammenarbeit mit Schweizer Unternehmen global Grossinfrastrukturprojekte realisiert hatten, sind längst in anderen Unternehmen aufgegangen.[7] Im Feld der EPC übernahmen andere Nationen die Führung: Südkoreanische, türkische und insbesondere chinesische Firmen gewannen auf Beschaffungsmärkten weltweit bedeutende Anteile. EPC aus diesen Ländern bevorzugen oft Subunternehmen und Zulieferer aus dem eigenen Land – zum Leidwesen von Schweizer Firmen.

Zweitens können zahlreiche nicht schweizerische Anbieter im Infrastrukturbereich auf aktive staatliche Unterstützung zurückgreifen. Insbesondere durch staatlich gedeckte Kredite oder gar Government-to-Government-Vereinbarungen wie jene zwischen Peru und dem Vereinigten Königreich. Der Vertrag sieht unter anderem die Planung, das Management und die Kontrolle über 130 verschiedene Projekte vor: von Schulen über Gesundheitseinrichtungen bis hin zu komplexen Versickerungs- und Abwassersystemen zur Prävention von Flutkatastrophen.[8] Die Schweiz hat keine vergleichbaren Instrumente. Mit relativ geringem staatlichem Beistand und ohne EPC sahen sich Schweizer Anbieter in den vergangenen Jahren bei Ausschreibungen von Infrastrukturprojekten folglich zunehmend im Nachteil.

 

Position der Schweiz stärken

 

Damit in diesem Umfeld wieder gleich lange Spiesse für Anbieter aus der Schweiz gewährleistet sind, entschied der Bundesrat am 21. April 2021, den Zugang der Schweizer Wirtschaft zu bedeutenden ausländischen Infrastrukturprojekten zu verbessern. Er leitete in Ergänzung zu den Anstrengungen der Privatwirtschaft zusätzliche Unterstützungsmassnahmen in Bereichen wie der Wirtschaftsdiplomatie, der Exportrisikoversicherung und der Exportförderung ein. Um die Koordination zwischen privaten Unternehmen, den Förderinstrumenten des Bundes und den relevanten Stellen der Bundesverwaltung zu verbessern und das Dienstleistungsangebot der Schweizer Lieferanten zu bündeln, baute er darüber hinaus das im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) angesiedelte Liaison Office auf. Dieses bearbeitet im Verbund mit der Exportförderungsorganisation Switzerland Global Enterprise, der Schweizerischen Exportrisikoversicherung und den Wirtschaftsverbänden Swissmem, Swissrail und Suisse.ing als «Team Switzerland» ausgewählte Märkte, identifiziert potenziell interessante Projekte und verschafft so Schweizer Zulieferern Zugang zu EPC.

In der schweizerischen Botschaft in Brasilien arbeitet überdies neu ein Verantwortlicher für Infrastrukturprojekte, der den gesamten lateinamerikanischen Markt beobachtet und potenziell interessante Projekte identifiziert. Im Rahmen der Wirtschaftsmissionen des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung und des Seco werden ferner diplomatische Kontakte genutzt, um eine massgeschneiderte und sektorspezifische Promotion der Schweizer Produkte und Dienstleistungen in den Zielmärkten zu erwirken. Damit will die Schweiz hiesige Unternehmen beim Export in schwierige Märkte unterstützen und zugleich zum Ausbau der Infrastruktur in Lateinamerika beitragen.[9]

  1. Brichetti et al. (2021). []
  2. Ganelli G. und J. Tervala (2015). []
  3. Cepal (2016), S. 5. []
  4. Weltbank (2017), S. 7. []
  5. Cepal (2016), S. 5. []
  6. Roth M. und A. Klasen (2020). []
  7. Unter den 250 grössten EPC finden sich heute keine Schweizer Firmen mehr. Seco (2019), S. 31. []
  8. British Embassy Lima (2023). []
  9. Roth M. und A. Klasen (2020). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Marcel Brengard (2023). Infrastruktur in Latein­amerika: Mit der Schweiz auf neuen Wegen. Die Volkswirtschaft, 13. April.