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Bildungs­abschluss: Ein langer Weg bis zum 95-Prozent-Ziel

In der Schweiz starten rund 90 Prozent mit einem nachobligatorischen Bildungsabschluss ins Erwerbsleben. Bund und Kantone streben eine höhere Quote an. Der Bildungsbericht Schweiz 2023 liefert Analysen zu Hindernissen und Chancen.

Bildungs­abschluss: Ein langer Weg bis zum 95-Prozent-Ziel

Lehrabschluss oder Matura: Die Schweiz misst dem nachobligatorischen Bildungsabschluss eine hohe Bedeutung zu. Eine junge Frau übt sich an der Berufsmesse in Lausanne in der Kunst der Uhrmacherei. (Bild: Keystone)

Für Bund und Kantone ist der Bildungsbericht ein zentrales Instrument, um die gemeinsamen bildungspolitischen Ziele zu überprüfen (siehe Kasten). Im März ist er zum vierten Mal erschienen. Gestützt auf den Bildungsbericht 2018, hatten Bund und Kantone 2019 ihre gemeinsamen bildungspolitischen Ziele formuliert. Eines dieser insgesamt acht Ziele soll hier näher beleuchtet werden: Mindestens 95 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner sollen im Alter von 25 Jahren über einen nachobligatorischen Schulabschluss verfügen (Sekundarstufe II genannt), sei dies ein Lehrabschluss oder ein Abschluss eines Gymnasiums oder einer Fachmittelschule. Dieses Ziel war schon definiert, bevor die Schweiz 2006 mit der Überprüfung des Bildungswesens begann.

Quote ist stagnierend – und heterogen

Sozialpartner, Bund und Kantone hatten sich auf diesen Wert geeinigt im Wissen um dessen Bedeutung: Ein nachobligatorischer Bildungsabschluss ist Voraussetzung, dass sich Jugendliche nachhaltig in den Arbeitsmarkt integrieren und damit ein selbst bestimmtes Leben führen können. Die Schweiz hat zwar im internationalen Vergleich seit vielen Jahren eine respektable Erfolgsquote vorzuweisen: Rund 90 Prozent schliessen nach der obligatorischen Schulzeit eine weitere Ausbildung ab. Mit Blick auf die Bedürfnisse des heimischen Arbeitsmarktes formulierte man aber ambitioniertere Vorgaben.

Der Bildungsbericht 2018 legte erstmals Verlaufsdaten des Bundesamtes für Statistik vor: Die Überprüfung des obgenannten Ziels bestätigte den Wert von 90 Prozent und stellte gleichzeitig fest, dass grosse Unterschiede einerseits zwischen den Kantonen und andererseits bezüglich der Herkunft der Personen bestehen. Der aktuelle Bildungsbericht 2023 hat eine Quote von nur leicht über 90 Prozent nochmals bestätigt. Das bedeutet, dass bei der Abschlussquote auf Sekundarstufe II keine merklichen Fortschritte erzielt worden sind. Der Bericht 2023 liefert aber zusätzlich zwei neue Befunde – und bestätigt einen «alten» Befund.

Schulische Defizite hallen nach

Zwischen Schweizerinnen und Schweizern und jungen Menschen mit Migrationshintergrund bestehen sehr unterschiedliche Erfolgsquoten. Früher liess sich nur darüber spekulieren, welche Faktoren hier eine Rolle spielen. Nun aber liegen dank der Kohorte, die 2012 den Pisa-Test absolvierte, Daten vor. Der Test lieferte Angaben zu den schulischen Kompetenzen am Ende der obligatorischen Schulzeit. Es zeigt sich, dass rund die Hälfte der Unterschiede beim späteren Erfolg auf Sekundarstufe II auf diese unterschiedlichen Kompetenzen zurückzuführen ist (siehe Abbildung).

Daraus lässt sich schliessen: Personen mit Migrationshintergrund aus der ersten wie auch der zweiten Generation hatten später dann Erfolgsquoten von leicht oder deutlich über 90 Prozent, wenn sie am Ende der obligatorischen Schulzeit über durchschnittliche Kompetenzen verfügt hatten. Kompetenzdefizite verhinderten aber bei zahlreichen Migrantinnen und Migranten bessere Ergebnisse. Diese Erkenntnis veranschaulicht nicht nur die Bedeutung der obligatorischen Schule für den weiteren Bildungserfolg. Sie zeigt auch, dass die Sekundarstufe II zwar viele, aber nicht alle schulischen Defizite am Ende der obligatorischen Schulzeit kompensieren kann.

Wahrscheinlichkeitsquote eines Sek-II-Abschlusses im Alter von 22/23 Jahren

Lesebeispiel: Unter Personen, die ungefähr 300 Pisa-Punkte in Mathematik erreichten und zum Zeitpunkt der Pisa-Befragung planten, eine Berufslehre zu machen, haben 81 Prozent im Alter von 22 bis 23 Jahren einen Abschluss auf der Sekundarstufe II. Unter Personen mit denselben Mathematikkompetenzen, die aber nicht wussten, was sie nach der obligatorischen Schule tun sollen, liegt die Abschlusswahrscheinlichkeit lediglich bei 48 Prozent.
Quelle: Bildungsbericht 2023 / Die Volkswirtschaft

 

Allgemeinbildung versus Berufsbildung

Der aktuelle Bildungsbericht liefert einen weiteren Befund im Bereich des nachobligatorischen Schulabschlusses: Kantone haben im Total aller Jugendlichen eine deutlich höhere Erfolgsquote, wenn sich eher mehr Jugendliche für eine berufliche Grundbildung entscheiden. Umgekehrt weisen Kantone mit hohem Anteil an Jugendlichen, die eine allgemeinbildende Ausbildung wählen, eine niedrigere Quote aus. Da allgemeinbildende Ausbildungen fast immer mit der Maturität enden, offenbart sich hier ein unerwünschter «Trade-off»: Tiefe Maturitätsquoten gehen mit hohen Erfolgsquoten einher – und umgekehrt. Offensichtlich ist es noch keinem Kanton gelungen, ein Rezept dafür zu finden, beide Werte gleichzeitig zu maximieren. Dies wäre aber wünschenswert, denn der jüngste Bildungsbericht zeigt auf, dass der Arbeitsmarkt zunehmend auch tertiäre Bildungsabschlüsse verlangt. Somit sollte nicht nur eine höhere Quote der nachobligatorischen Bildungsabschlüsse angestrebt werden, sondern auch, dass möglichst viele Jugendliche den Abschluss mit einer Maturität machen – sei es gymnasial oder eine Berufs- oder Fachmaturität. Denn diese garantiert ihnen den Zugang zur Hochschullandschaft.

Auch Persönlichkeitseigenschaften sind wichtig

Es mehren sich Forschungsergebnisse, die belegen, dass neben den klassischen Schulkompetenzen (verkürzt: kognitive Kompetenzen) zunehmend auch Persönlichkeitseigenschaften (nicht kognitive Kompetenzen) über Bildungs- und Arbeitsmarkterfolg entscheiden. Der Bildungsbericht 2023 ergänzt diese Erkenntnis mit einem neuen Befund in Bezug auf das 95-Prozent-Ziel. Die Personen der oben erwähnten Pisa-2012-Kohorte, deren Werdegang bis ins Alter von 23 Jahren verfolgt werden konnte, wurden beim Test – also wenige Monate vor Ende der obligatorischen Schulzeit – auch nach ihren Plänen für die Zeit danach befragt.

Die Schlussfolgerung aus der Kombination der Daten zu diesen Plänen und den Pisa-Testergebnissen: Schülerinnen und Schüler, die im Alter von 15 Jahren schulische Kompetenzen über dem OECD-Durchschnitt (500 Punkte) erzielten, verfügten unabhängig von ihren Plänen acht Jahre später grossmehrheitlich über einen Sekundarstufe-II-Abschluss (siehe Abbildung). Sie hatten das 95-Prozent-Ziel erreicht oder gar übertroffen. Diese Erfolgsquote sank aber deutlich und schnell, wenn die schulischen Leistungen tiefer lagen – und dies besonders deutlich bei jenen, die die obligatorische Schule ohne konkrete Pläne für ihre weitere Bildungslaufbahn verlassen hatten. Jugendliche mit ebenfalls schlechten schulischen Leistungen, aber mit konkreten Bildungsplänen waren hingegen, gemessen an ihren Kompetenzen, erfolgreicher unterwegs.

Vom Ziel- zum Massnahmenmonitoring

Es ist davon auszugehen, dass Bund und Kantone weiter an dem vor rund zwanzig Jahren formulierten 95-Prozent-Ziel festhalten werden. Um dieses zu erreichen, braucht es mehr als nur ein Monitoring der Abschlussquoten. Gefragt ist auch eine Überprüfung der Massnahmen, die uns dem Ziel näher bringen sollen. Die Analysen im aktuellen Bildungsbericht verweisen auf erfolgversprechende Wege: Es gilt, die Zahl der Jugendlichen zu erhöhen, welche die Grundkompetenzen in der obligatorischen Schule erreichen, und gleichzeitig eine Persönlichkeitsbildung anzustreben, welche die jungen Menschen befähigt, den nachobligatorischen Bildungsweg zu meistern.

Zitiervorschlag: Stefan C. Wolter (2023). Bildungs­abschluss: Ein langer Weg bis zum 95-Prozent-Ziel. Die Volkswirtschaft, 02. Mai.

Bildungsbericht Schweiz

Der Bildungsbericht Schweiz wird seit 2010 im Auftrag von Bund und allen Kantonen alle vier Jahre durch die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung verfasst. Der Bericht enthält Informationen und Analysen zu über 500 Themen aus allen vier Bildungsstufen und neun Bildungstypen. Er ist als PDF-Datei frei verfügbar: www.bildungsbericht.ch.