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Handelspolitik ist Geopolitik: Ein Spannungsfeld

Immer öfter greifen Staaten mit sicherheitspolitischen Begründungen in die freie Welthandelsordnung ein. Dies fordert vor allem kleine, offene Volkswirtschaften wie die Schweiz heraus.
Die Weltwirtschaftsordnung am Gängelband: Staatliche Eingriffe in den freien Handel nehmen zu. Ein Kreuzfahrt-, ein Container- und ein Schleppschiff in Southampton, Vereinigtes Königreich. (Bild: Keystone)

Es sei eine «Angelegenheit der nationalen Sicherheit». Dies entgegneten die USA, nachdem die Welthandelsorganisation (WTO) zusätzliche Zölle der USA auf Stahl- und Aluminiumprodukte für unrechtmässig erklärt hatte.[1] In einem anderen Fall unterstrich die niederländische Handelsministerin Liesje Schreinemacher, Exportkontrollen für gewisse Produktionsanlagen für Halbleiter seien «notwendig für die (inter)nationale Sicherheit», was auch seitens des Sicherheitsberaters des Weissen Hauses in Washington D.C., Jake Sullivan, unterstrichen wurde. Mehrere Länder verboten den chinesischen Dienst Tiktok auf Endgeräten von Verwaltungsangestellten mit Verweis auf die Sicherheit. Zudem betonte EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen, die EU müsse «bestimmter und weniger naiv» sein, wenn es um die Sicherung des Zugangs zu «strategischen Rohstoffen» gehe. Diese Beispiele stehen für einen Trend: Wirtschafts- und Handelspolitik werden zunehmend mit sicherheitspolitischen Überlegungen verflochten.

Die offene, aussenhandelsorientierte Schweiz ist fundamental auf Rahmenbedingungen angewiesen, die sie nicht allein garantieren kann. Hierzu gehört das regelbasierte Handelssystem, in dessen Zentrum die WTO steht. Unter der Führung der USA hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich die nationalen Märkte dem internationalen Handel wieder geöffnet. Die Rahmenbedingungen der daraus resultierenden Welthandelsarchitektur beruhen auf den Grundsätzen der Wirtschaftsfreiheit des Einzelnen und des Wettbewerbs zwischen privaten Akteuren. Dies ermöglichte Effizienzgewinne, Spezialisierung, hohe Wertschöpfung und damit anhaltendes Wirtschaftswachstum.

Staatliche Eingriffe nehmen zu

Doch diese Grundlagen werden heute teilweise infrage gestellt, zahlreiche Staaten greifen verstärkt in den Aussenhandel ein. Die Palette an Eingriffen ist breit und umfasst die Verschärfung von Export- und Investitionskontrollen, politisch motivierte Netzsperren und Lokalisierungsanforderungen im digitalen Raum,[2] staatliche Beihilfen für Sektoren, die als strategisch definiert werden, wie auch Anforderungen an den lokalen Produktionsanteil, wie sie der US-amerikanische Inflation Reduction Act für Elektrofahrzeuge vorsieht. Die Eingriffe erfolgen dabei nicht nur in Entwicklungs- und Schwellenländern und anderen Staaten mit einer entsprechenden politischen Tradition. Gerade auch in den lange dem freien Handel verpflichteten USA wie auch in der EU gewinnen sie an Bedeutung.

Die Gründe sind unter anderem geopolitischer Natur und hängen mit der damit einhergehenden Beurteilung wirtschaftlicher und technologischer Abhängigkeiten zusammen. Die amerikanisch-chinesischen Spannungen, Verwerfungen infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und die Erfahrungen mit Lieferengpässen während der Covid-Pandemie sind treibende Ereignisse. Sie fördern die Bildung politischer Koalitionen, die staatliche Eingriffe befürworten und diese untereinander koordinieren wollen. Die Reaktionen zeugen auch von einem abnehmenden Vertrauen in die internationale Arbeitsteilung. An die Stelle der wirtschaftlichen Effizienz tritt zunehmend der Ruf nach Verlässlichkeit. Letzteres wird geografisch oder politisch gefasst und ausgelegt. Die Folge ist ein Streben nach «nearshoring» beziehungsweise «friendshoring»: In beiden Fällen begründen etwa die US-Regierung und die EU-Kommission ihr Handeln ausdrücklich mit der Reduktion von Abhängigkeiten – und die Verschärfung von Investitions- und Exportkontrollregimes mit Sicherheit.[3]

Immer mehr Güter werden als «strategisch relevant» definiert

Die Definition dessen, was als relevant für die nationale Sicherheit gilt und deshalb als Gegenstand politischer Kontrolle betrachtet wird, erfährt in wichtigen Handelsnationen eine Ausweitung. Namentlich geht sie über den Bereich der Rüstungs- und Dual-Use-Güter hinaus. Immer mehr Sektoren und Güterkategorien werden als «kritisch» oder «strategisch» eingestuft. Dazu gehören sowohl in der EU wie auch in den USA die für die moderne industrielle Produktion und die Rüstungsindustrie unabdingbaren Halbleiter, die für die E-Mobilität und innovative Energielösungen zentralen Batterien sowie die für beide Kategorien zentralen «kritischen» Rohstoffe. Die EU spricht überdies auch dann von «strategischen» Rohstoffen, wenn sie für «grüne» und digitale Technologien wie auch für Verteidigung und Raumfahrt bedeutend sind.

China nimmt in vielen dieser Sektoren derzeit eine Vormachtstellung ein. Das Land dominiert insbesondere die Verarbeitung von Rohstoffen sowie die Veredelung in Halbfabrikate – teilweise mit Weltmarktanteilen von über 90 Prozent. Sowohl die USA als auch die EU betrachten dies als Versorgungsrisiko. Im Streitfall könnte China den globalen Handel im Bereich der Hochtechnologie praktisch unterbinden. Nach territorialen Streitigkeiten mit Japan erliess China bereits 2010 Ausfuhrbeschränkungen auf seltene Erdmetalle. Seither versuchen die Regierungen der USA, die EU, aber auch Australien, Kanada und vor allem Japan, die Lieferketten von Rohstoffen und anderen «strategischen» Gütern zu diversifizieren.

Ungleich verteilte Risiken

Dies geht einher mit staatlichen Fördermassnahmen. Öffentliche Investitionen in ein europäisches Ökosystem für seltene Erdmetalle – vom Abbau bis hin zum Recycling – belaufen sich auf geschätzte 1,7 Milliarden Euro. Bilaterale Handelsabkommen mit Staaten wie Chile – ein wichtiger Rohstofflieferant insbesondere für Lithium – ergänzen die Bemühungen im europäischen Binnenmarkt.[4] Anders sieht es bei der Halbleiterlieferkette aus, wo China von den USA und auch von der EU abhängt. Dennoch sollen in der EU über 40 Milliarden Euro und in den USA über 50 Milliarden US-Dollar an Steuergeldern in diesen Sektor fliessen.

Deuten diese Entwicklungen bereits auf ein Ende der auf fortwährende Liberalisierung[5] ausgerichteten Weltwirtschaftsordnung hin? Die Handelsvolumen erweisen sich als resilient. Doch der Ausblick ist ungewiss[6] und die Risiken ungleich verteilt: Der Aussenhandel hat für grosse Volkswirtschaften insgesamt einen vergleichsweise geringeren Stellenwert. Bei den USA liegt dieser bei 25 Prozent, bei China sind es 37 und der EU (insgesamt) 93 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Kleinere Länder, wie die Schweiz mit einem deutlich höheren Aussenhandelsanteil von 131 Prozent am BIP, stellen die Eingriffe der grossen Wirtschaftsmächte vor Herausforderungen. Werden Handelspräferenzen und Ausnahmen von staatlichen Eingriffen gestützt auf Erwägungen der nationalen Sicherheit selektiv erteilt, geht dies zulasten der Rechtssicherheit und der Effizienz. Zudem können restriktive Massnahmen einer grossen Handelsmacht – etwa US-Beschränkungen für Technologieexporte nach China – Druck erzeugen, etablierte Handelsbeziehungen zu unterbinden. Immerhin hat sich die US-Regierung in jüngster Zeit gegen eine umfassende wirtschaftliche Loslösung («Decoupling») von China ausgesprochen, will aber in «strategischen» Sektoren umso bestimmter vorgehen.

Es zeichnet sich ein internationales Umfeld ab, das für die Schweiz, die auf offenen Marktzugang auf Grundlage des Rechts angewiesen ist, herausfordernd ist und sein wird. Dazu kommt, dass die eng von der US-Aussenpolitik abhängende Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung unklar bleibt. Die Lage in der Taiwanstrasse trägt zusätzlich zu dieser Unsicherheit bei. Die Schweiz ist als mittelgrosse, offene Volkswirtschaft auf funktionierende grenzüberschreitende Produktions- und Lieferketten angewiesen. Umso bedeutender ist es für sie, mit ihren Handelspartnern einen konstruktiven Austausch zu pflegen, Kanäle offen zu halten und Mittel zur Absicherung ihrer Handels- und Investitionsbeziehungen zu finden.

  1. Statement from USTR Spokesperson Adam Hodge | United States Trade Representative[]
  2. Vgl. etwa WTO, Report on G20 Trade Measures, 14. November 2022[]
  3. Trade and Security: Work to Defend EU Interests and Values (Europa.eu). []
  4. Lithium: Neues Handelsabkommen zwischen EU und Chile (NZZ.ch). []
  5. WTO, Principles of the Trading System. []
  6. WTO, Goods Barometer Declines Further, Hinting at Fourth Quarter Trade Slump, 1. März 2023. []

Zitiervorschlag: Philippe Lionnet, Linda Maduz, Julian Kamasa, Marcel Brengard (2023). Handelspolitik ist Geopolitik: Ein Spannungsfeld. Die Volkswirtschaft, 25. Mai.