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Viele Arbeitnehmende können kaum lesen

Lesen, schreiben, rechnen – kann doch jeder und jede in der Schweiz. Eben nicht, wie die Zahlen zeigen. Bund, Kantone, Städte und Gemeinden setzen viel daran, die Grundkompetenzen zu fördern.
400’000 Erwachsene in der Schweiz haben Schwierigkeiten bei Grundkompetenzen wie einfacher Alltagsmathematik. (Bild: Keystone)

Um selbstbestimmt am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, braucht es grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten. Zu diesen sogenannten Grundkompetenzen gehören Lesen, Schreiben und mündliche Ausdrucksfähigkeit in einer Landessprache, Grundkenntnisse der Mathematik sowie Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien. Grundkompetenzen sind Voraussetzung für das lebenslange Lernen. Trotzdem haben in der Schweiz rund 800’000 Erwachsene Mühe, fliessend zu lesen, zu schreiben und einen Text zu verstehen. Dazu kommen mehr als 400’000 Erwachsene mit Schwierigkeiten mit einfacher Alltagsmathematik, und gemäss Schätzung des Bundesamtes für Statistik verfügt rund ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung über geringe oder gar keine digitalen Grundkenntnisse.[1]

Nicht nur diese hohen Zahlen überraschen, sondern auch die grosse Heterogenität der Personen mit Förderbedarf. Untersuchungen des Beratungsunternehmens Interface, im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation, des Staatssekretariats für Migration sowie der Interkantonalen Konferenz für Weiterbildung, zeigen, dass sowohl Kaderleute und Migrantinnen als auch Arbeitnehmende mit oder ohne Lehrabschluss betroffen sind.[2] Indem diese Personen ihre Grundkompetenzen verbessern, gewinnen sie an Sicherheit, Flexibilität und Autonomie am Arbeitsplatz. Deswegen ist eine entsprechende Förderung wichtig. Die Herausforderung liegt nach wie vor darin, die Betroffenen zu erreichen und für eine Weiterbildung zu motivieren.

Im Gesetz verankert

Seit der Verankerung im Weiterbildungsgesetz SR 419.1 im Jahr 2017 hat die Grundkompetenzförderung in der Schweiz zunehmend an Bedeutung gewonnen. Standen den Kantonen in der Förderperiode der Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik des Bundes (BFI) von 2017 bis 2021 rund 15 Millionen Franken zur Verfügung, beträgt das Budget in der aktuellen Förderperiode (2021 bis 2024) mit 42,8 Millionen Franken beinahe das Dreifache. Gemäss dem verbindlichen Grundsatzpapier 2021–2024 der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren müssen die Kantone mindestens doppelt so viel an Fördergeldern ausschütten wie der Bund. Somit erhält die Grundkompetenzförderung insgesamt eine noch grössere Summe.

Neben dem Weiterbildungsgesetz gelten weitere Bundesgesetze als Grundlage für die Förderung von Grundkompetenzen. Beispielsweise das Bundesgesetz über die Berufsbildung, über das die Kampagne «Einfach besser!…am Arbeitsplatz» gefördert wird, oder das Arbeitslosenversicherungsgesetz.

Die Sozial- und Bildungspolitik zwischen Bund und Kantonen hat dem Thema Grundkompetenzförderung sowie dessen Steuerung jüngst zusätzliche Aufmerksamkeit geschenkt: Die Interkantonale Konferenz für Weiterbildung liess 2021 das Projekt «Triage I: Entwicklung von Abklärungsinstrumenten im Bereich Grundkompetenzen» durchführen. Das Projektergebnis ist eine Übersicht: Welche Instrumente gibt es in der Schweiz, um den Förderbedarf an Grundkompetenzen abzuklären?[3] Das Nachfolgeprojekt Triage II wurde kürzlich lanciert. Das Steuergremium der nationalen interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) – zusammengesetzt aus mehreren Bundesämtern, kantonalen Konferenzen und Verbänden – beauftragte ebenfalls im Jahr 2021 die beiden Staatssekretariate für Bildung, Forschung und Innovation sowie für Migration mit dem IIZ-Projekt «Förderung der Grundkompetenzen – Schnittstellen und Qualität».[4] Dieses Projekt wurde von Interface durchgeführt und verfolgte die Ziele, Lösungsansätze für den Umgang mit den vorhandenen Schnittstellen zu entwickeln und zu erheben, wie die kantonalen Umsetzungsstellen mit Qualitätsstandards und -grundlagen umgehen.

Unterschiedliche Auslegung der Definition, gleiche Ziele

Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass die verschiedenen privaten und öffentlichen Akteure ihre Zielgruppen, also die Personen mit Förderbedarf, unterschiedlich definieren. Zudem bestehen bei den befragten Verwaltungsstellen und Weiterbildungsanbietern unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Kompetenzen relevant sind. So werden beispielsweise je nach Akteur sehr unterschiedliche Teile der Lese- und Schreibkompetenzen in einer Landessprache abgeklärt, während die Teilkompetenzen wie beispielsweise flüssiges und korrektes Verschriften von eigenen Wörtern, Sätzen und Texten unbeachtet bleiben. Das ist problematisch, weil diese Teilkompetenzen eine literale Grundfertigkeit sind, die zuerst vorhanden sein muss, um erweiterte Schreibkompetenzen – beispielsweise wie man mit einem Text eine andere Person informiert – erwerben zu können.[5] Hier stellt sich die bis heute offene Frage, wie die involvierten Akteure mit den unterschiedlichen Definitionen umgehen respektive wie die Definition der Grundkompetenzen und der Zielgruppen vereinheitlicht werden kann.

Zwar unterscheiden sich die Förderakteure bezüglich ihrer Auffassungen, was Grundkompetenzförderung alles beinhaltet, sie verfolgen aber dasselbe Ziel: die Arbeitsmarktintegration. Dieses Ziel wurde bei der Untersuchung am häufigsten genannt (75 Prozent), gefolgt von den Zielen Einstieg in eine Berufslehre oder in ein berufsvorbereitendes Angebot (64 Prozent), der Wiedereinstieg ins Berufsleben (53 Prozent) oder der Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit (52 Prozent). Die weiteren Ziele, wie soziale Teilhabe und Alltagsbewältigung, wurden mit jeweils rund 40 Prozent von den Befragten etwas weniger häufig erwähnt, besonders selten von den Vertretern der Logistik arbeitsmarktliche Massnahmen, den IV-Stellen und den IIZ-Koordinatorinnen. Demgegenüber gab mehr als die Hälfte der Vertreter der Integration und der Sozialhilfe an, dass sie mit der Grundkompetenzförderung auch diese Ziele verfolgen.

Die Gründe für das priorisierte Ziel der Arbeitsmarktintegration sind vermutlich neben sozial- und bildungspolitischen Argumenten – wie am lebenslangen Lernen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können – hauptsächlich finanzpolitischer Art. Eine Studie des Büros Bass zeigt, dass allein der finanzielle Gesamtnutzen der Verringerung der Leseschwäche für die öffentliche Hand rund 305 Millionen Franken pro Jahr entspricht.[6] Dabei setzen sich die 305 Millionen Franken zusammen aus der Entlastung der öffentlichen Beiträge an die Arbeitslosenversicherung (178 Mio. Franken) einerseits und den entgangenen Steuereinnahmen (127 Millionen Franken) andererseits. Dieser Betrag würde allenfalls um ein Vielfaches steigen, wenn die anderen Grundkompetenzbereiche mit einbezogen würden.

Mehr Betroffene erreichen

Trotz vielfältigen und zielgruppenorientierten Angeboten[7] besteht die grösste Herausforderung darin, die Betroffenen zu erreichen. Daher empfiehlt es sich bei der Weiterentwicklung der Grundkompetenzförderung unter anderem, niederschwellige Angebote auszubauen, Grundkompetenzangebote zentral zu koordinieren und damit einhergehende finanzielle Mittel zusammenzulegen. Der Qualitätsdialog soll kantonal, regional und national gefördert und Impulse für eine Qualitätsentwicklung gesetzt werden. Gleichzeitig ist es sinnvoll, ein nationales Aus- und Weiterbildungskonzept für Kursleitende zu erstellen. Inwiefern diese Empfehlungen dazu beitragen können, mehr Betroffene zu erreichen, wird sich im Laufe der Zeit zeigen.

  1. Siehe Bundesamt für Statistik (2021). []
  2. Siehe Feller et al. (2023). []
  3. Siehe Feller et al. (2022). []
  4. Siehe Feller et al. (2023). []
  5. Siehe Baumert, J. (2001) sowie Kruidenier, J. R., MacArthur, C.A. und Wrigley, H. S. (2010). []
  6. Siehe Bass (2007), S. 27. []
  7. Beispielsweise das Bildungsgutscheinsystem im Kanton Luzern oder die Lernstuben im Kanton Zürich. []

Literaturverzeichnis
  • Bass (2007). Volkswirtschaftliche Kosten der Leseschwäche in der Schweiz.
  • Baumert, J. (2001). Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. Vortrag. Köln.
  • Bundesamt für Statistik (2021). Ungleiche Verteilung digitaler Kompetenzen bei Internetnutzerinnen und -nutzern in der Schweiz. Neuchâtel.
  • Feller, Ruth; Schwegler, Charlotte; Bourdin, Clément; Büchel, Karin (2023). IIZ-Projekt: «Förderung der Grundkompetenzen – Schnittstellen und Qualität». Interface Politikstudien. Luzern.
  • Feller, Ruth; Lussi, Isabella; Büchel, Karin; Fritzsche, Deborah; Stehlin, Carole; Imbach, Lars (2022). Projekt Triage – Instrumente zur Abklärung und Beratung im Bereich Grundkompetenzförderung. Bericht zuhanden der Interkantonalen Konferenz für Weiterbildung (IKW) der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Interface Politikstudien. Luzern.

Bibliographie
  • Bass (2007). Volkswirtschaftliche Kosten der Leseschwäche in der Schweiz.
  • Baumert, J. (2001). Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. Vortrag. Köln.
  • Bundesamt für Statistik (2021). Ungleiche Verteilung digitaler Kompetenzen bei Internetnutzerinnen und -nutzern in der Schweiz. Neuchâtel.
  • Feller, Ruth; Schwegler, Charlotte; Bourdin, Clément; Büchel, Karin (2023). IIZ-Projekt: «Förderung der Grundkompetenzen – Schnittstellen und Qualität». Interface Politikstudien. Luzern.
  • Feller, Ruth; Lussi, Isabella; Büchel, Karin; Fritzsche, Deborah; Stehlin, Carole; Imbach, Lars (2022). Projekt Triage – Instrumente zur Abklärung und Beratung im Bereich Grundkompetenzförderung. Bericht zuhanden der Interkantonalen Konferenz für Weiterbildung (IKW) der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Interface Politikstudien. Luzern.

Zitiervorschlag: Karin Büchel, Ruth Feller, Deborah Fritzsche (2023). Viele Arbeitnehmende können kaum lesen. Die Volkswirtschaft, 04. Mai.