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Elektrizität: Wie viel Markt darf es sein?

Mit der Transformation zu einem erneuerbaren Stromsystem braucht es auch ein neues Marktdesign. Zur Auswahl stehen dabei verschiedene Modelle mit unterschiedlicher Verteilung von Risiken und Verantwortung.
Windturbinen nahe dem Nufenenpass. Mit zunehmendem Anteil erneuerbarer Energien, wird es zu mehr Schwankungen in der Stromversorgung kommen. (Bild: Keystone)

Der Schweizer Strommarkt – der Teil des europäischen Strommarkts ist – besteht aus einem Geflecht verschiedener Teilmärkte. Der Grund dafür ist eine technische Notwendigkeit. Denn im Stromnetz müssen Angebot und Nachfrage jederzeit ausgeglichen sein. Ansonsten drohen Ausfälle des Stromnetzes, welche erhebliche Kosten verursachen können.

So funktioniert der Strommarkt

Da Strom im Moment des Verbrauchs erzeugt werden muss, wird auf den eigentlichen Energiemärkten nicht das physische Gut per se gehandelt, sondern die erwartete Stromnachfrage und -erzeugung. Wie auf anderen Rohstoffmärkten wird dies durch eine Mischung aus lang- und kurzfristigen Handelsaktivitäten erreicht. Die kurzfristigen Märkte – insbesondere der Day-Ahead-Markt – folgen dabei dem sogenannten Grenzkosten- oder Merit-Order-Prinzip: Der Marktpreis wird hier durch die Kosten der letzten noch benötigten Stromeinheit bestimmt.[1] Konkret heisst das: Kann die Stromnachfrage durch Erneuerbare oder andere Kraftwerke mit niedrigen Grenzkosten gedeckt werden, sind die Marktpreise tief; muss bei der Produktion als letzte Einheit ein Gaskraftwerk mit hohen Grenzkosten einspringen, entsprechen dessen Grenzkosten dann dem Marktpreis auf dem kurzfristigen Markt.

Auch beim kurzfristigen Handel, der sich an der erwarteten Stromerzeugung und -nachfrage orientiert, ergeben sich zwangsweise Abweichungen zu den tatsächlichen Lieferungen. Daher wird neben den Energiemärkten ein zweiter Marktzweig benötigt, welcher es ermöglicht, diese Abweichungen zu managen und das System stabil zu halten: die Regelleistungsmärkte. Hier werden Kraftwerks- oder Nachfragekapazitäten erworben, welche Abweichungen von der tatsächlichen Nachfrage zeitnah ausgleichen können. Die Bereitstellung dieses Service ist vergleichbar mit einer Versicherung, welche alle Teilnehmer (z. B. über die Netztarife) finanzieren müssen.

Damit Energie nicht nur im eigenen Land, sondern auch international gehandelt werden kann, ist schliesslich auch Netzkapazität nötig. In den meisten europäischen Strommärkten werden Strom und Netzkapazitäten implizit, das heisst gemeinsam gehandelt. Teilweise – so etwa an der Schweizer Grenze – geschieht das allerdings noch explizit, sprich: Händler erwerben diese Kapazität getrennt von der zu transportierenden Energie. Dies ist jedoch ineffizienter als integrierter impliziter Handel.

Wie viel Wettbewerb steckt in Strommärkten?

In diesen kurz- und langfristigen Teilmärkten herrscht in unterschiedlichem Masse Wettbewerb. Das physische Stromnetz stellt ein natürliches Monopol dar. In den meisten Ländern wird das Höchstspannungsnetz – auch Übertragungsnetz genannt – daher durch einen zentralen Netzbetreiber geführt, der einen sicheren Betrieb des Netzes gewährleistet und einer strikten Regulierung unterliegt. In der Schweiz ist dieser zentrale Netzbetreiber Swissgrid.

Die feingliedrigen Verteilnetze (von Hochspannung herunter bis auf Niederspannung) werden meist von regionalen Versorgern betrieben. Auch hier liegt kein Wettbewerb vor, und der Netzbetrieb ist von den übrigen Geschäften der Versorger getrennt. Die für den Betrieb des Netzes notwendigen Dienstleistungen werden vom Netzbetreiber eingekauft. Hier gibt es begrenzten Wettbewerb in Form von Ausschreibungen, Auktionen oder den oben beschriebenen Regelleistungsmärkten.

Die eigentlichen Märkte für Energie – die langfristigen Futuremärkte sowie die kurzfristigen Day-Ahead- und Intraday-Märkte – sind durch stärkeren Wettbewerb geprägt. Prinzipiell reflektieren dort die Preise erwartete oder aktuelle Knappheiten. In den meisten Ländern gibt es aber auch in diesen Märkten Interventionen: so etwa Abnahmepflichten, Handelspriorisierungen, direkte Subventionen (z. B. für erneuerbaren Strom) oder indirekte Subventionen (in Form von nicht internalisierten externen Kosten fossiler Energieträger oder gesellschaftlich getragene Kernenergierisiken). Diese Interventionen führen zu verzerrten Marktpreisen und sind insbesondere dazu gedacht, Investitionsentscheidungen zu lenken.

Schliesslich sind da noch die Endkundenmärkte. Je nach Land sind sie durch mehr oder weniger Wettbewerb gekennzeichnet. Bei Grosskunden finden sich oft wettbewerbliche Strukturen, die Knappheitssignale an die Verbraucher weitergeben. Bei Kleinkunden sind starre Preisstrukturen ohne Knappheitssignale noch die Regel. So auch in der Schweiz, wo nur Grosskunden (ab 100 MWh Verbrauch pro Jahr) ihren Anbieter frei wählen können.

Zukünftige Herausforderungen

Insbesondere zwei zukünftige Trends werden grundlegende Auswirkungen auf die Organisation des Stromsystems in der Schweiz haben: der zunehmende Anteil an erneuerbaren Energien und die steigende Elektrifizierung.

Der zukünftige Strommix wird einen hohen Anteil an Elektrizität aus Wind- und Sonnenenergie beinhalten. Einerseits wird die Erzeugung dadurch wetterabhängiger als bisher. Um Schwankungen in der Versorgung ausgleichen zu können, benötigt es mehr Back-up-Kapazität, das heisst Lückenfüller, die einspringen, wenn die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht. Das kann in Batterien gespeicherter Überschussstrom aus Sonnen- und Windenergie sein oder Kraftwerke mit emissionsfreien Brennstoffen.

Mit den erneuerbaren Energien verändert sich andererseits auch die Kostenstruktur des Systems. Denn Windturbinen und Fotovoltaikanlagen haben kaum variable Erzeugungskosten. Wird die Stromnachfrage also allein durch Wind oder Sonnenenergie gedeckt, fällt der Marktpreis auf den Energiemärkten gemäss Merit-Order auf nahe null. Je höher der Anteil der Erneuerbaren, desto öfter wird das künftig der Fall sein. Hier stellt sich die Frage, ob bei diesem Preismechanismus ausreichend Deckungsbeiträge für Investitionen erzielt werden können.

Der zweite Trend ist die Elektrifizierung im Wärme- und Mobilitätssektor, die bisher durch fossile Energien gedeckt wurde. Dadurch wird die Gesamtnachfrage nach Strom deutlich ansteigen, und es braucht gute Anreize für mehr Flexibilität auf der Nachfrageseite. Die Gestaltung von effizienten Strommärkten wird deshalb immer bedeutsamer.

Drei mögliche Marktformen

Doch welches Strommarktdesign steuert das neue Stromsystem am besten? Aktuell werden drei Stossrichtungen diskutiert:

Eine Möglichkeit ist der Energy-Only-Markt. Hier werden alle Investitions- und Nutzungsanreize dem eigentlichen Energiemarkt mit Future-, Day-Ahead- und Intraday-Handel überlassen. In einem solchen Markt wird das Preisbild deutlich wetterabhängiger und volatiler: An sonnigen Sommertagen ist Strom nahezu kostenfrei, an dunklen Wintertagen deutlich teurer. Zudem müssen die Unternehmen im Markt auch genügend hohe Deckungsbeiträge für die Investitionskosten für Erneuerbare und Back-up-Kapazitäten erwirtschaften. Eine Back-up-Anlage, wie etwa wasserstoffbetriebene Gasturbinen, welche nur alle paar Jahre für wenige Stunden benötigt wird, braucht daher sehr hohe Preisspitzen. In einem solchen System spielen Preiserwartungen und Risikobereitschaft zentrale Rollen.

Eine zweite Möglichkeit sind Kapazitätsmärkte. Sie stellen einen Zusatz zu den Energiemärkten von heute dar. Vergleichbar mit den Regelleistungsmärkten wird auf einem Kapazitätsmarkt das Vorhalten reiner Erzeugungskapazität vergütet. Solange die über den Kapazitätsmarkt vorgegebene Kapazität über der erwarteten Lastspitze liegt, wird es nicht zu hohen Preisspitzen im Energiemarkt kommen. Zudem werden die Deckungsbeiträge über den Preis im Kapazitätsmarkt erwirtschaftet. Die Definition des gewünschten Kapazitätslevels ist daher das zentrale Element dieses Systems und wird die Investitionsentscheidungen massgeblich beeinflussen.

Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Versorgungssicherheit als privates Gut zu handeln. Wie in anderen Märkten mit Nullgrenzkosten (z. B. beim Mobilfunk) könnte die Versorgungsqualität (beim Mobilfunk die Netzabdeckung oder -geschwindigkeit) bepreist und zur Finanzierung von Investitionskosten verwendet werden. Die Energie selbst würde nur noch einen geringen Preis haben. Ein solches neues Marktsystem könnte viele der heutigen Interventionen wie die Förderung von Erneuerbaren oder die Ausschreibungen für langfristige Reservekapazitäten überflüssig machen, da es Anreize für Nachfrageflexibilität und Investitionssicherheit für Erneuerbare bietet und klare Verantwortung für die Versorgungssicherheit zuordnet. Es wäre aber ein grundlegender Systemwechsel. Denn die Versorgungssicherheit würde nicht mehr für alle gleich, sondern nach individuellen Präferenzen bereitgestellt. Technisch wäre dies mittels Smart Grid und Smart Meters bereits heute möglich, weil damit gewisse Stromkreise von Kunden abgeschaltet werden könnten. Insbesondere für Kunden mit eigenen Speichern (Batteriespeicher für PV oder Elektrofahrzeug, Wärmespeicher) könnten Tarife mit reduzierter Versorgungssicherheit interessant sein.

Welches der Systeme am Ende den Vorzug erhält, ist ein politischer Entscheid. Soll das Stromsystem durch staatliche Lenkung von Investitionen geprägt sein? Sind Vorgaben zur Versorgungssicherheit (Kapazitätsmarkt) gewünscht? Soll den Marktakteuren mehr Risiko, aber auch die individuelle Wahl ihrer Versorgungssicherheit zugestanden werden? Wenn dieser politische Entscheid getroffen worden ist, kann die Wissenschaft Vorschläge für ein geeignetes Marktdesign liefern.

 

  1. Zum Grenzkostenprinzip siehe auch den Artikel von Sven Kreidelmeyer und Almut Kirchner in diesem Schwerpunkt. []

Zitiervorschlag: Frank Krysiak, Hannes Weigt (2023). Elektrizität: Wie viel Markt darf es sein. Die Volkswirtschaft, 20. Juni.