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«Es braucht Nachbarn, die exportieren können»

Turbulente Zeiten für die Elcom – die Schweizer Strommarktregulatorin: Stromproduzenten könnte das Geld fehlen und der Schweiz ein Stromabkommen mit der EU. Urs Meister, Leiter der Elcom, erklärt, wie es um unsere Abhängigkeit von den Nachbarländern steht.

«Es braucht Nachbarn, die exportieren können»

Elcom-Chef Urs Meister zur Frage, wer Strom erfunden hat: «Ich bin Ökonom und nicht Physiker. Ich gehe aber davon aus, dass er eher entdeckt als erfunden wurde, da Strom ein Naturphänomen ist.» (Bild: Keystone / Remo Nägeli)
Herr Meister, mal ganz banal gefragt: Was ist Strom?

(lacht) Strom wird durch Umwandlung aus anderen Energieformen erzeugt. Strom ist eine hochwertige Form der Energie, da er vielseitig und mit geringen Verlusten genutzt werden kann.

Und wer hat ihn erfunden?

Ich bin Ökonom und nicht Physiker. Ich gehe aber davon aus, dass er wohl eher entdeckt als erfunden wurde, da Strom ein Naturphänomen ist.

Bereitet Ihnen der kommende Winter schlaflose Nächte?

Ich schlafe eigentlich gut. Diese bewegten Zeiten sind eine spannende Herausforderung. Natürlich denken wir bereits jetzt schon intensiv an den kommenden Winter. Weiterhin bestehen bedeutende Versorgungsrisiken, weshalb wir weiter an den Massnahmen arbeiten. Dazu gehören etwa die Weiterentwicklung oder Tests der Abläufe und der technischen Bereitschaft der Reserven.

Werfen wir einen Blick auf den letzten Winter. Warum hätte der Strom knapp werden können?

Die Herausforderung ergab sich aus der Kombination unterschiedlicher Faktoren: der historisch tiefen Verfügbarkeit französischer Kernkraftwerke, der reduzierten Gaslieferungen aus Russland als Folge des Krieges und der ausgeprägten Trockenheit in weiten Teilen Europas.

Als Strommarktregulatorin prüfte die Elcom die Systemrelevanz des grossen Stromkonzerns Alpiq im Jahr 2021. War das eine klare Sache?

Nein. Ob ein Unternehmen oder bestimmte Funktionen davon als systemkritisch einzustufen sind, hängt von vielen Faktoren ab: der Grösse, der Vernetzung über Handels- und Lieferbeziehungen sowie dem Geschäftsmodell und der damit verbundenen Rolle, etwa bei Einsatz und Vermarktung der Kraftwerke. Daneben ist der marktliche Kontext relevant. In einer angespannten Situation mit extrem hohen Preisen und geringer Liquidität an den Märkten sind die Probleme eines Akteurs kritischer für die Stabilität des gesamten Systems. Es kam schliesslich zu keinem formellen abschliessenden Entscheid, zumal die Alpiq ihr Gesuch aufgrund sinkender Preise zurückzog.

Und wie sah das beim Stromkonzern Axpo aus?

Die Axpo stellte ihr Gesuch Anfang September 2022. Einerseits waren zu diesem Zeitpunkt die Märkte noch angespannter als Ende 2021. Anderseits bestanden da bereits ein Gesetzesentwurf und eine Botschaft für einen finanziellen Rettungsschirm für systemkritische Unternehmen. Die Erfahrungen aus der Behandlung des Alpiq-Gesuchs stellten einen wichtigen Input für die rasche Erarbeitung dieses Gesetzes bzw. einer kurzfristigen Verordnung während einer Übergangsphase dar, auch hinsichtlich der Bestimmung der Systemkritikalität.

Heute gelten Alpiq, Axpo und BKW als systemkritisch, oder?

Diese drei Unternehmen erfüllen die entsprechenden Voraussetzungen gemäss Bundesgesetz über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft – kurz Fireg. 

Wie abhängig ist Europa vom Gas aus Russland?

Auch wenn in Europa der Anteil der Stromproduktion aus Gaskraftwerken keine 20 Prozent ausmacht, so spielt sie für die Versorgungssicherheit eine entscheidende Rolle – vor allem bei der Abdeckung von Bedarfsspitzen. Obschon die russischen Lieferungen weitgehend durch alternative Importe wie Flüssiggas kompensiert wurden, fliesst weiterhin russisches Gas nach Europa – hochgerechnet auf einen grob geschätzten Jahresbedarf in der EU, dürfte der Anteil von russischem Pipeline-Gas noch etwa zwischen 4 und 8 Prozent liegen.

 

Mit wachsender Abhängigkeit von Importen gehen steigende Risiken einher.

 

Mit der Verlagerung auf erneuerbare Energien wird die Stromproduktion stärker vom Wetter abhängig. Ein Risiko?

Unsicherheit bezüglich der Produktionsverfügbarkeit ist nichts Neues. Auch die Produktion der Wasserkraft variiert im Jahresvergleich je nach Niederschlagsmenge. Und auch sonst bestehen Ausfallrisiken, die den Markt und die Versorgungssicherheit als Ganzes tangieren können. Die französische Kernkraft im vergangenen Jahr zeigte dies. Dennoch stellt der wachsende Anteil fluktuierender Energie eine zusätzliche Herausforderung auch für die Netze dar. Der Bedarf an Flexibilität nimmt zu – sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite.

Und wie schätzen Sie unsere Abhängigkeit von Importen ein?

Mit wachsender Importabhängigkeit gehen zweifellos steigende Versorgungsrisiken einher. Einerseits sind die Importmöglichkeiten auf die Kapazitäten im grenzüberschreitenden Übertragungsnetz beschränkt. Andererseits braucht es Nachbarländer, die exportieren können. Hier sind die Unsicherheiten gross.

Ist Autarkie ein gangbarer Weg?

Nein, Autarkie kann bei der Stromversorgung kein Ziel sein – erst recht nicht für ein kleines Land. Im Gegenteil: Wie in anderen Märkten auch machen komparative Kostenvorteile in der Produktion – gerade bei erneuerbaren Energien – den Handel sinnvoll. Daneben ist Handel ein wichtiger Pfeiler für die Versorgungssicherheit, etwa wenn grosse Kraftwerksblöcke über längere Phasen ausfallen.

Bei welchen Technologien sehen Sie einen komparativen Kostenvorteil für die Schweiz gegenüber anderen Wirtschaftsstandorten?

Die Schweiz hat aufgrund ihrer Topografie offensichtliche komparative Vorteile bei der Wasserkraft. Rund 60 Prozent der Schweizer Stromerzeugung stammen aus Wasserkraft. Vor allem bei der Windkraft verfügen andere Länder in Europa wohl über bessere Standorte. Das spricht für einen grenzüberschreitenden Handel, auch weil die Verfügbarkeit der erneuerbaren Energien zeitlich und geografisch unterschiedlich ist.

 

Elcom-Chef Urs Meister. (Bild: Keystone / Remo Nägeli)

 

Der Bundesrat beschloss vor einem Jahr, jeweils für den Winter eine Wasserkraftreserve auszuschreiben. Wie sieht diese für den kommenden Winter aus?

Grundsätzlich bleibt das Modell das gleiche. Wiederum gibt es Ausschreibungen für die Teilnahme an der Reserve. Mit dem so ermittelten Entgelt erhalten die Wasserkraftbetreiber eine Entschädigung für die Zurückhaltung des Wassers und die damit verbundenen entgangenen Ertragsmöglichkeiten. Was sich ändern wird, ist, dass wir die Reserve in Tranchen ausschreiben werden. Letzten Winter war das nicht möglich, weil die rechtliche Grundlage erst relativ spät stand.

Was bringt eine Ausschreibung in Tranchen?

Weiterhin sind die Preise am Terminmarkt volatil. Bei einer einzigen Ausschreibung bestünde die Gefahr, dass der Zuschlag in einer Phase besonders hoher Preise erfolgt. Durch die Verteilung auf mehrere Zeitpunkte wird dieses Preisrisiko reduziert. Allein aufgrund der Grössenordnung ist das bedeutend: Die Gesamtkosten für die Reservevorhaltung im Winter 22/23 betrugen 296 Millionen Euro.

Da die Reserve nicht angezapft wurde, konnten die Versorger den Strom nun im Mai verkaufen. Haben sie somit doppelt verdient?

Nein, denn mit der Ausschreibung wurde das Wasser nicht gekauft. Das in der Auktion festgelegte Entgelt entschädigt für die Zurückhaltung des Wassers. Es kann nicht im früheren Winter zu höheren Preisen verkauft werden. Bleibt die Reserve ungenutzt, erhalten die Betreiber das Wasser im Frühling zurück und können es frei vermarkten. Um Anreizverzerrungen zu vermeiden, würde umgekehrt auch ein Abruf mit dem Marktwert des Wassers vom Frühling entschädigt – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt im Winter der Abruf erfolgt. Die Betreiber berücksichtigen diese Ertragsmöglichkeit bei ihren Geboten in der Auktion.

Die Reserve entsprach 400 Gigawattstunden. Wie lange würde das reichen, um die Schweiz zu versorgen?

Das kann im konkreten Fall variieren und hängt vom Verbrauchsniveau zum Zeitpunkt der Auslösung der Reserve, der übrigen verfügbaren Produktion sowie von den noch möglichen Importen ab. Die Winterreserveverordnung verlangt, dass die Wasserkraftreserve in Kombination mit der ergänzenden thermischen Reserve die Versorgung im Knappheitsfall während weniger Wochen im Winter oder Anfang Frühling sicherstellen kann. Auch wenn das keine exakte Vorgabe ist, orientieren wir daran die Dimensionierung der Reserve.

Ein Stromabkommen mit der EU fehlt. Welche Auswirkungen hat dies?

Ab 2026 könnten sich insbesondere die europäischen Regelungen zur Berechnung und Nutzung von grenzüberschreitenden Netzkapazitäten negativ auf die Schweiz auswirken. Konkret besteht dann die Gefahr, dass ihre Import- und Exportmöglichkeiten empfindlich eingeschränkt werden – was sich negativ auf die Handelsmöglichkeiten und die Versorgungssicherheit auswirkt.

Und wie steht es um die sogenannten Balancing-Plattformen?

Daneben droht der Schweiz ein Ausschluss aus den europäischen Balancing-Plattformen, also den koordinierten Mechanismen und Märkten zur Bereitstellung von Regelreserven für den kurzfristigen Ausgleich von Angebot und Nachfrage zur Systemstabilisierung. Dadurch würde das System in der Schweiz nicht nur weniger resilient, sondern auch kostspieliger. Das bezahlten schliesslich die schweizerischen Endverbraucher.

 

Wir werden auch eine Stromversorgung ohne Stromabkommen mit der EU haben.

 

Das Fazit ist also: Wir brauchen dieses Abkommen?

Wir werden auch eine Stromversorgung ohne Stromabkommen mit der EU haben. Damit verbunden sind aber Nachteile in Bezug auf die Versorgungssicherheit sowie eine geringere Effizienz, also höhere Kosten.

Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld. Sie überwachen den Strompreis und die Versorgungssicherheit. Letztere hat Kosten zur Folge. Welche Preiserhöhungen sind zumutbar?

Zweifellos ist Versorgungssicherheit nicht kostenlos. Andererseits wären die volkswirtschaftlichen Kosten einer Mangellage oder gar eines Blackouts enorm hoch. Welche Preiserhöhungen zumutbar sind, hat die Politik zu entscheiden – nicht die Elcom. Als Regulierungsbehörde ist es unsere Aufgabe, bei der Umsetzung staatlich verordneter Massnahmen – wie etwa der Winterreserve – auch auf Effizienz zu achten, damit die Belastung der Verbraucher so tief wie möglich ist.

Die Strompreise für Endkunden variieren in der Schweiz je nach Anbieter enorm. Wie erklären Sie Spannbreiten von 9 bis 70 Rappen pro Kilowattstunde?

Die hohe Spannbreite ist das Resultat sehr unterschiedlicher Produktions- und Beschaffungsportfolien der Anbieter.

Könnten Sie das bitte noch ausführen?

Bei Netzbetreibern mit hohem Anteil an Eigenproduktion sowie längerfristigen Beschaffungsverträgen, die noch vor 2022 abgeschlossen wurden, fielen die Tarifsteigerungen für 2023 tiefer aus als bei solchen, die keine Eigenproduktion aufweisen und die nötige Energie für 2023 mehrheitlich im Laufe des Jahres 2022 beschaffen mussten.

Im August ist es wieder so weit: Die Netzbetreiber melden ihre Tarife für 2024. Gibt es Anzeichen, wohin die Entwicklung führt?

Im Moment gehen wir davon aus, dass für 2024 vielenorts die Tarife noch einmal ansteigen werden. Dies aus mehreren Gründen: Erstens werden die Netztarife steigen, weil das Uvek den kalkulatorischen Zinssatz für das im Stromnetz gebundene Kapital anhob. Zweitens werden die Kosten für die nun eingeleiteten Massnahmen zur Versorgungssicherheit überwälzt. Und drittens erfolgte bei vielen Versorgern ein bedeutender Teil der Beschaffungen für 2023 noch vor dem Preisanstieg am Terminmarkt.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2023). «Es braucht Nachbarn, die exportieren können». Die Volkswirtschaft, 19. Juni.

Urs Meister

Urs Meister hat an der Universität Zürich Volkswirtschaftslehre studiert und dissertiert. Nach verschiedenen Tätigkeiten unter anderem bei Beratungsunternehmen und als Projektleiter beim Thinktank Avenir Suisse arbeitete der 48-Jährige sechs Jahre beim Stromkonzern BKW AG, zuletzt als Leiter Märkte und Regulierung. Seit November 2021 leitet Urs Meister die Eidgenössische Elektrizitätskommission (Elcom). Die unabhängige staatliche Aufsichtsbehörde hat ihren Sitz in Bern.