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Ist die Energiestrategie 2050 umsetzbar?

Der Ausstieg aus der Kernenergie und der Ausbau der erneuerbaren Energien sind machbar – zumindest im Sommer. Im Winter könnte die Schweiz auf erhebliche Importe aus dem Ausland angewiesen bleiben. Die Unsicherheit bleibt gross.
Schwimmende Solaranlage auf dem Stausee Lac des Toules im Wallis. Wie kann man das schwache Solarangebot im Winter überbrücken? (Bild: Keystone)

Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 haben Bundesrat und Parlament beschlossen, dass die Schweiz aus der Kernenergie aussteigen soll. Dieser Entscheid sowie verschiedene andere tiefgreifende Veränderungen im internationalen Energiesektor führten dazu, dass das gesamte Energiesystem der Schweiz neu strukturiert werden musste. Zu diesem Zweck hat der Bundesrat eine neue Energiepolitik mit dem Titel «Energiestrategie 2050» erarbeitet. Die Strategie umfasst vier Hauptelemente: (1) die Stilllegung aller vier Kernkraftwerke bis 2034, (2) den Ausbau der Fotovoltaik um das 20-Fache gegenüber 2017, (3) die Elektrifizierung der Raumheizung in Wohn- und Geschäftshäusern, vor allem mit Wärmepumpen, und (4) die Elektrifizierung des gesamten Verkehrs mittels elektrischer Fahrzeuge und synthetischer Flüssigtreibstoffe, die mit erneuerbarem Strom hergestellt werden.

Gemäss einer Studie in einem Buch des Nationalrats und ehemaligen Präsidenten von Swissolar, Roger Nordmann[1], werden die Punkte 3 und 4 den Strombedarf um rund 37 Prozent erhöhen. Die Energiestrategie hat eine lebhafte Debatte darüber ausgelöst, ob ihre Umsetzung realistisch ist oder nicht. In einer aktuellen Studie haben wir sie deshalb auf den Prüfstand gestellt.[2]

Inländische Stromlücke im Winter

In der Studie haben wir die Schweizer Netzversorgung für die Monate Januar und Juli 2017 rekonstruiert und damit das Netz im Jahr 2050 simuliert, indem wir die oben beschriebenen Hauptelemente sowie den von Nordmann berechneten Anstieg der Stromnachfrage berücksichtigt haben.[3] Auch die Auswirkungen auf die Stromimporte im Sommer und im Winter haben wir analysiert.

Für Juli 2050 nehmen wir an, dass die Kernkraft und die fossil-thermische Erzeugung abgeschaltet und durch Fotovoltaik (PV) ersetzt wurden. Die offensichtlichste Veränderung sind die grossen Tagesspitzen im PV-Angebot, welche die Nachfrage weit übersteigen (siehe Abbildung 1). Das wirkt sich auch auf den Einsatz von Wasserkraftwerken aus: Heute speisen Stauseen und Pumpspeicherseen die Nachfragespitzen des Tages. Im Jahr 2050 wird die Wasserkraft auf die nächtliche Produktion verlagert. Überschüssige Solarenergie füllt die Pumpspeicherseen tagsüber, und diese Energie wird nachts ins Netz zurückgespeist. Die derzeitige Strompreisstruktur im Sommer wird vermutlich auf den Kopf gestellt: niedrige Preise am Tag und höhere Preise in der Nacht. Wir kommen zum Schluss, dass die Strategie 2050 im Juli 2050 technisch umsetzbar ist, allerdings mit unvorhersehbaren Risiken bei der Preisstruktur.

Im Winter ist die Situation ganz anders: Im Januar 2050 sind die prognostizierten Stromimporte viel höher als im Januar 2017 (siehe Abbildung 2). Der enorme Anstieg der Importe ist eine Folge des Ausstiegs aus der Kernenergie, des schwachen Solarangebots im Winter (und damit des Ausfalls der Pumpspeicherkraftwerke) und der gestiegenen Nachfrage. Ob die Energiestrategie 2050 im Winter realisierbar ist, hängt stark davon ab, ob genügend Importe verfügbar sind. Wir schätzen die notwendigen Importe auf insgesamt 6 Terawattstunden (TWh) allein für den Monat Januar. Zum Vergleich: Das ist mehr, als alle Wasser- und Kernkraftwerke im Januar 2022 zusammen produziert haben. Damit liegt die Energiesicherheit der Schweiz also hauptsächlich in den Händen ausländischer Staaten.

Abb. 1: Sommer: Elektrizitätsnachfrage und -angebot (Juli 2017 und Juli 2050)

Links: Rekonstruiertes Schweizer Stromnetz für 1. bis 7. Juli 2017. Rechts: Simuliertes Netz für 1. bis 7. Juli 2050.
Quelle: Mearns und Sornette (2023) / Die Volkswirtschaft

 

Abb. 2: Winter: Elektrizitätsnachfrage und -angebot (Januar 2017 und Januar 2050)

Links: Rekonstruiertes Schweizer Stromnetz für 1. bis 7. Januar 2017. Rechts: Simuliertes Netz für 1. bis 7. Januar 2050.
Quelle:  Mearns und Sornette (2023) / Die Volkswirtschaft

 

Ungewisse Importe

Manche sagen, dass die Schweiz im Winter bereits heute viel Strom importiert und dies auch in Zukunft tun kann. Aber stimmt das? Gegenwärtig importiert die Schweiz hauptsächlich zuverlässigen Atomstrom aus Frankreich sowie Kohle- und Gasstrom aus Deutschland. Da Deutschland wie die meisten europäischen Länder ein Netto-null-Ziel verfolgt und vor Kurzem sein letztes Kernkraftwerk abgeschaltet hat, können diese Importe nicht mehr sichergestellt werden.

Und auch die Verfügbarkeit von überschüssigem Windstrom ist nicht gewährleistet. In einer Studie zur europaweiten Windenergie im Oktober 2015 zeigen wir, dass es in den meisten Ländern Europas gleichzeitig zu Windflauten kommen kann und dann viele Länder um knappe oder gar nicht vorhandene Lieferungen kämpfen müssen.[4]

Unsere Erkenntnisse beinhalten zahlreiche wirtschaftliche, soziale und sicherheitspolitische Risiken. Erstens: Eine auf Fotovoltaik basierende Stromversorgung in der Schweiz führt für die Erzeuger zu einem Zustand ständiger Volatilität – an jedem Tag, in jedem Jahr und zwischen jedem Jahr bis 2050. Diese Volatilität wird zudem durch Schocks unterbrochen, immer wenn ein Kernkraftwerk geschlossen wird. Das hat Folgen für das Gesamtangebot, aber auch für das Auffüllen der Pumpspeicherseen. Wie wir zudem gesehen haben, wird die wachsende Solarproduktion im Sommer die Wasserkraft allmählich in die Nachtstunden verlagern. Im Winter, wenn die einheimische Versorgung schwach ist, könnten die Importe ausfallen. Das kann zu einem starken Strompreisanstieg, zu Netzinstabilitäten und zu Stromausfällen führen.

Können Speicher die Volatilität ausgleichen?

Wie lässt sich die zunehmende Volatilität des Stromangebots glätten? Die Speicherung von überschüssigem Strom gilt oft als die Lösung. Heute sind Pumpspeicherseen der weitaus grösste Speicher. Meist wird in der Nacht überschüssige Kernkraft gespeichert und in der Nachfragespitze am nächsten Tag freigesetzt. Im Sommer 2050 wird sich die Reihenfolge umkehren: Die Überschüsse des Tages werden in der Nacht genutzt.

Gemäss dem grundsätzlichen Konzept in der Energiestrategie 2050 gibt es wenig bis gar keine Sommerüberschüsse, die im Winter genutzt werden könnten. Zudem ist eine saisonale Speicherung unabhängig vom Speichermedium (Pumpspeicherseen, Batterien oder Wasserstoff) wegen Grössen- und Wirtschaftlichkeitserwägungen nicht praktikabel und stellt daher keine Option dar.

Mögliche Speicher sind allerdings Batterien, die tagsüber aus PV-Anlagen in mediterranen Breitengraden gespeist und in der folgenden Nacht genutzt werden. Um rentabel zu sein, müssen die Speicher jeden Tag gefüllt und geleert werden. Wenn die Schweiz überschüssigen Windstrom aus Deutschland importieren will, um die Speicher zu füllen, ist es möglich, dass danach der Wind in Europa für mehrere Tage bis Wochen stark weht und die Schweizer Speicher voll bleiben. In diesem Fall könnten die Pumpspeicherkraftwerke mehrere Tage oder wochenlang ungenutzt bleiben, was ohne eine wesentliche Änderung der Preisstruktur nicht rentabel ist. Daher ist dies keine Option, um saisonale und mehrtägige Volatilitäten auszugleichen.

Hochalpine Solarenergie als Rettung?

Als wir zum ersten Mal von hochalpinen Solarinitiativen wie dem Testgelände in Davos-Totalp hörten, erachteten wir sie als unrealistische Lösung für die Stromknappheit im Winter. Wir gingen davon aus, dass die Schweizer niemals eine derart anfällige Energiequelle mit solch drastischen und zerstörerischen Umwelteingriffen nutzen würden. Doch nun, da einige Forschungsdaten[5] vorliegen und das Schweizer Parlament offenbar die Solaroffensive im Eiltempo verabschiedet hat und diese Annahmen nicht mehr halten, könnten zweiseitig nutzbare Solarpanels jenseits der Wolken, umgeben von Schnee, tatsächlich einen erheblichen Gewinn für die Winterversorgung darstellen. Solche vertikal montierte Panels sammeln sowohl das direkte Sonnenlicht als auch das, welches vom Schnee am Boden reflektiert wird. Das steigert die Gesamtproduktivität und verlagert die maximale Produktion vom Sommer in den Frühling.

Doch wie bei allen erneuerbaren Energien ist auch dies keine perfekte Lösung. Denn in den Hochalpen scheint nicht immer die Sonne, und was, wenn es in den Alpen stürmt? Wir gehen davon aus, dass die alpine PV-Anlage dann einfach abgeschaltet wird, möglicherweise tagelang. Stündliche Daten vom Testgelände in Davos könnten Aufschluss über die saisonale Zuverlässigkeit geben, doch konnten wir bisher keine solchen Daten finden.

Die mangelnde inländische Energieversorgung im Winter und die Wetterunsicherheiten bleiben die grössten Herausforderungen der Energiestrategie 2050. In diesem Sinne kann der niedrige Anteil der Solarenergie im Januar 2017 als Bad-Case-Szenario dienen. Denn 2017 war ein besonders schlechtes Jahr für Wintersolarproduktion in der Schweiz. In einem normalen Jahr liegt das Verhältnis der Solarstromproduktion zwischen Juli und Januar (J/J) bei etwa 6. Das bedeutet: Das Potenzial der Solarenergie im Sommer ist sechsmal höher als im Winter. 2017 lag dieses Verhältnis bei 12. Da dieser Fall durchaus möglich ist und dies reale gemessene Werte darstellen, argumentieren wir, dass solche Stresstests, welche auch wetterbedingt schwierige Jahre berücksichtigen, für alle erneuerbaren Energiesysteme Standard sein sollten.[6] Schliesslich muss das Schweizer Energiesystem auch unter solch schwierigen Bedingungen robust funktionieren und genügend Strom produzieren können.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Energiestrategie im Sommer könnte tragfähig sein, obwohl wirtschaftliche Risiken bleiben. Im Winter ist der Plan derzeit nicht realisierbar und hängt stark von den Importen ab, die möglicherweise nicht immer verfügbar sind. Hochalpine Solarenergie mit oder ohne Speicherung könnte das Problem im Winter lindern, doch die wirtschaftlichen und ökologischen Kosten sind noch unklar.

  1. Siehe Nordmann (2019). []
  2. Siehe Mearns und Sornette (2023). []
  3. Um das Netz im Jahr 2017 zu rekonstruieren, haben wir stündliche Daten der EU-Institution Entsoe verwendet und diese auf die offiziellen Daten von Swissgrid skaliert. []
  4. Siehe Mearns und Sornette (2023). []
  5. Siehe Zhaw.ch[]
  6. Zum Vergleich: Das BFE verwendet ein Juli/Januar-Verhältnis von etwa 6, was eine vernünftige mittlere Schätzung ist. Der Axpo Power Switcher, der von vielen Analysten verwendet wird, verwendet ein Juli/Januar-Verhältnis von 2,4, was impliziert, dass die Solarressourcen der Schweiz besser sind als die Italiens, was natürlich irreführend ist. []

Literaturverzeichnis
  • Mearns. E. und D. Sornette (2023). Are 2050 Energy Transition Plans Viable? A Detailed Analysis of Projected Swiss Electricity Supply and Demand in 2050. Energy Policy 175, 113347, pp. 1–20.
  • Nordmann, R. (2019). Le plan solaire et climat. Favre.

Bibliographie
  • Mearns. E. und D. Sornette (2023). Are 2050 Energy Transition Plans Viable? A Detailed Analysis of Projected Swiss Electricity Supply and Demand in 2050. Energy Policy 175, 113347, pp. 1–20.
  • Nordmann, R. (2019). Le plan solaire et climat. Favre.

Zitiervorschlag: Euan Mearns, Didier Sornette (2023). Ist die Energiestrategie 2050 umsetzbar. Die Volkswirtschaft, 20. Juni.