Mehr Flexibilität dringend gefragt: Konsumenten könnten beispielsweise das E-Auto dann laden, wenn am meisten erneuerbarer Strom zur Verfügung steht. (Bild: Keystone)
Die Ziele des Bundesrates sind klar: netto null bis 2050. Das bedeutet, dass bis Mitte Jahrhundert in der Schweiz nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre ausgestossen werden sollen, als durch natürliche und technische Speicher aufgenommen werden. Gleichzeitig soll allerdings die Versorgungssicherheit gewahrt bleiben.
Das Netto-null-Ziel bringt für das heutige Energiesystem grosse Herausforderungen mit sich. Denn die heute verwendeten fossilen Treib- und Brennstoffe müssen fast vollständig durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Ein wesentlicher Teil wird durch die Elektrifizierung erreicht – beispielsweise der Ersatz von Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen oder von Verbrennungs- durch Elektromotoren im Verkehr. Eine besonders wichtige Stellschraube ist deshalb, den Stromverbrauch effizienter zu machen, um den künftigen Anstieg zu dämpfen. Da der Stromverbrauch gegenüber heute aber dennoch ansteigen wird, braucht es auch einen starken inländischen Zubau an Fotovoltaik- und Windkraftanlagen sowie Wasserkraft.
Paradigmenwechsel im Stromnetz
Was bedeuten diese Veränderungen? Um das Stromnetz stabil zu halten, muss jederzeit genauso viel produziert werden, wie verbraucht wird. Gleichzeitig müssen die maximalen Transportkapazitäten im Stromnetz eingehalten werden. Werden Leitungen überlastet, drohen Stromausfälle. Um dies zu verhindern, müssen bei der Energiewende auch die Stromnetze ausgebaut werden. Denn der eingespeiste Solarstrom muss weitertransportiert werden können, sofern er nicht direkt vor Ort verwendet wird.
Bisher haben steuerbare Kraftwerke in der Schweiz, vor allem die Wasserkraft, dafür gesorgt, dass der Verbrauch gedeckt wurde. Doch mit der unsteten Stromproduktion von Fotovoltaik und Windkraft und einem Zuwachs an flexiblen Verbrauchern wie Wärmepumpen und Elektroautos dreht sich dieses Prinzip zusehends um: Künftig werden sich die Verbraucher verstärkt dem Stromangebot anpassen müssen, nicht umgekehrt.
Wie steht es um die Versorgungssicherheit?
In sogenannten System-Adequacy-Analysen untersucht der Bund regelmässig, wie sich Veränderungen im Stromsystem auf die Versorgungssicherheit auswirken und wann es zu Engpässen kommen könnte. Der letzte Bericht zur mittel- bis langfristigen Stromversorgungssicherheit bis 2040[1] analysiert die Auswirkungen verschiedener Szenarien in der Schweiz und in Europa auf die Versorgungssicherheit in der Schweiz. Berücksichtigt wurden dabei die Stromproduktion, der Stromverbrauch sowie der Stromtransport im Hochspannungsnetz.
Beeinflusst werden Stromproduktion und -verbrauch auch durch Wetter- und Klimabedingungen. Denn der Verbrauch ist stark temperaturabhängig: In Italien steigt der Stromverbrauch beispielsweise aufgrund der Klimaanlagen ab 30 °C überproportional an. In Frankreich lässt sich ein deutlicher Anstieg aufgrund der vielen Elektroheizungen bei Kältewellen beobachten. Die Schweiz ist aufgrund ihres hohen Anteils an Wasserkraft vor allem bei längeren Trockenheitsphasen negativ betroffen.
Drei wichtige Dimensionen
Wie der Bericht des Bundes zeigt, sind für die Schweizer Versorgungssicherheit drei Dimensionen besonders wichtig: die Wasserkraft, die Importkapazität und die europäische Gesamtentwicklung. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa wird das europäische Stromversorgungssystem zunehmend von den Wetterbedingungen abhängig und somit volatiler. Dies gilt sowohl für das europäische Ausland als auch für die Schweiz.
Wesentlich sind die Entwicklung und die Geschwindigkeit des Produktionszubaus in der Schweiz und in Europa. Je länger es dauert, desto unsicherer ist die Versorgung. Im Bericht zeigt sich, dass zusätzliche inländische Produktion im Winter die Versorgungssicherheit erheblich verbessert. Dies gilt auch für Solarstrom. Die Flexibilität der Schweizer Wasserkraft erlaubt es, die zusätzliche Energieerzeugung in den Wintermonaten durch erneuerbare Energien mittels Pumpeinsatz oder veränderte Produktionszeiten optimal einzubinden und damit die Versorgungslage zu verbessern.
Für die Versorgungssicherheit zentral sind auch die Möglichkeiten des Austauschs mit dem Ausland: Bei einem guten Zusammenspiel von Stromimporten und Schweizer Wasserkraft bleiben auch grössere Versorgungsengpässe auf Schweizer oder europäischer Seite unkritisch. Weil dann in Momenten hoher ausländischer Produktion importiert und Wasser in den Stauseen aufgespart werden kann, welches dann in kritischen Momenten zur Verfügung steht.
Kein Strom ohne Verteilnetz
Damit die Endkunden den Strom nutzen können, muss dieser auch bei ihnen ankommen. Mit dem Netto-null-Ziel gewinnt insbesondere das Verteilnetz zusätzliche Bedeutung. Denn die Elektrifizierung im Verkehrs- und Wärmebereich sowie die Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen finden im Verteilnetz statt. Eine aktuelle Studie[2] des Bundesamts für Energie (BFE) zeigt, dass für den Erhalt und den Ausbau des Verteilnetzes auch ohne weiter gehende energiepolitische Ziele bis 2050 Investitionen von rund 45 Milliarden Franken notwendig sind. Hinzu kommen 30 Milliarden Franken für die Erreichung des Netto-null-Ziels. Berücksichtigt man auch den Zubaupfad der Fotovoltaik (PV), wie ihn National- und Ständerat im Rahmen des Bundesgesetzes über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien beschlossen haben, ist mit zusätzlichen 7 Milliarden Franken zu rechnen.
Insgesamt betragen die Kosten also 75 bis 82 Milliarden Franken. Ein erheblicher Anteil fällt dabei für altersbedingte Ersatzinvestitionen und die Erneuerung von Bestandsanlagen an. Der Verbrauch von selbst produziertem Strom von der PV-Anlage auf dem Dach kann diesen Investitionsbedarf senken, weil er Verbrauchsspitzen glättet. Auch mehr Flexibilität seitens der Konsumenten sowie ein Einspeisemanagement sind kostensenkend. Letzteres schützt Teile des Netzes vor Überlastungen. Die Studie sieht hier ein Einsparpotenzial von rund einem Viertel.
Mehr Flexibilität im Stromsystem nötig
Mehr Flexibilität seitens der Konsumenten und mittels Speichermöglichkeiten ist dringend gefragt. Nicht nur, weil damit der Netzausbau günstiger wird, sondern auch, weil nur so die Versorgungssicherheit gewährleistet werden kann. Beispielsweise können Konsumenten genau dann das E-Auto laden, wenn am meisten Strom durch die erneuerbaren Energien zur Verfügung steht. Andererseits können sie aber auch Strom aus den E-Autos beziehen, wenn zu wenig zur Verfügung steht.
Doch wie viel mehr Flexibilität braucht es in Zukunft, und woher soll diese kommen? Eine kürzlich veröffentlichte Studie[3] des Pentalateralen Energieforums, welchem neben Deutschland, Frankreich, Österreich und den Benelux-Staaten auch die Schweiz angehört, untersucht diese Frage und kommt zum Schluss: Der Bedarf an Flexibilität wird deutlich zunehmen. Im Bereich unter einer Stunde wird der gesteigerte Bedarf, der durch kurzfristig Produktionsveränderungen bei Fotovoltaik- und Windkraftanlagen auftreten kann, hauptsächlich durch Ausgleichsreserven wie heute die Speicherwasserkraft gedeckt. Stärker von der Zunahme sind der tägliche und der wöchentliche Flexibilitätsbedarf betroffen. Im Vergleich zu heute wird der tägliche Flexibilitätsbedarf in der Schweiz bis 2050 um das Doppelte ansteigen, hauptsächlich aufgrund der volatilen Fotovoltaik. Der wöchentliche Bedarf nimmt etwas weniger zu, weil es dabei vor allem um längere Windflauten geht. Der hiesige Windkraftzubau dürfte aber limitiert sein.
Der Bedarf an saisonaler Flexibilität ist in der Schweiz wegen der hohen sommerlichen PV-Produktion und der geringeren winterlichen Laufwasser- und PV-Produktion bei gleichzeitigem hohem Verbrauch am grössten. Bis 2050 steigt er um das Dreifache. Das bedeutet einerseits, dass zusätzliche flexible Erzeugung beispielsweise in Form von Speicherkraftwerken zugebaut werden muss. Um den saisonalen Bedarf abdecken zu können, braucht es andererseits aber auch mehr Winterstrom. Ebenso wichtig ist der grenzüberschreitende Austausch mit anderen Ländern, weil dadurch Synergieeffekte genutzt werden können. Die Studie des Pentalateralen Energieforums zeigt insbesondere, dass durch die internationale Zusammenarbeit der regionale Flexibilitätsbedarf deutlich geringer ausfällt.
Bundesrat will Versorgungssicherheit stärken
Der Bundesrat hat entsprechend im Juni 2021 das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien verabschiedet – die Vorlage enthält eine Revision des Energie- und Stromversorgungsgesetzes und soll den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Energieeffizienz sowie die Versorgungssicherheit der Schweiz stärken. Die Vorlage befindet sich derzeit in parlamentarischer Beratung. Auch ein Stromabkommen mit der Europäischen Union ist unerlässlich. Es sorgt für eine sichere Stromversorgung und bietet Zugang zu Flexibilität in den Nachbarstaaten.
Literaturverzeichnis
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Consentec, Polynomics und EBP (2022). Auswirkungen einer starken Elektrifizierung und eines massiven Ausbaus der Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien auf die Schweizer Stromverteilnetze». 30. November.
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Trinomics und Artelys (2023). Power System Flexibility in the Penta region – Current State and Challenges for a Future Decarbonised Energy System. 13. März.
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Universität Basel, ETH Zürich, Consentec (2022). Modellierung der Erzeugungs- und Systemkapazität (System Adequacy) in der Schweiz im Bereich Strom.
Bibliographie
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Consentec, Polynomics und EBP (2022). Auswirkungen einer starken Elektrifizierung und eines massiven Ausbaus der Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien auf die Schweizer Stromverteilnetze». 30. November.
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Trinomics und Artelys (2023). Power System Flexibility in the Penta region – Current State and Challenges for a Future Decarbonised Energy System. 13. März.
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Universität Basel, ETH Zürich, Consentec (2022). Modellierung der Erzeugungs- und Systemkapazität (System Adequacy) in der Schweiz im Bereich Strom.
Zitiervorschlag: Haller, Matthias; Sontag, Astrid (2023). Neue erneuerbare Energien erfordern mehr Flexibilität. Die Volkswirtschaft, 20. Juni.