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So will die EU auf die hohen Strompreise reagieren

Seit den Neunzigerjahren hat die EU die nationalen Strommärkte kontinuierlich liberalisiert. Mit den hohen Strompreisen gerät das Marktsystem in die Kritik. Doch die EU-Kommission will nur sanft korrigieren.
Demonstranten fordern im September 2022 in Prag eine Entschärfung der Energiekrise. Die Gas- und Kohlepreise sind seit Ende 2021 in Europa deutlich angestiegen. (Bild: Keystone)

Die Liberalisierung der Strommärkte begann in der Europäischen Union in den 1990er-Jahren. Das Hauptziel war es, den grenzüberschreitenden Handel zwischen den EU-Mitgliedsländern zu stärken, um Synergien bei der Stromerzeugung zu nutzen und die Netzkosten zu senken.

Im Zuge der beiden Energiepakete Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre wurde auch die Stromlieferkette entflochten: Bis dahin waren es Gebietsmonopole, welche die gesamte Versorgungskette von der Erzeugung über die Übertragung und die Verteilung bis hin zum Vertrieb und zum Handel abdeckten. Neu wurden die Stromnetze von der Stromerzeugung getrennt (siehe Abbildung). Auch in der Schweiz fand diese Trennung statt, und seit Ende der 2000er-Jahre ist in der Schweiz allein eine Netzgesellschaft für den Betrieb des Übertragungsnetzes verantwortlich: Swissgrid. Bei den Stromnetzbetreibern handelt es sich um klassische natürliche Monopole. Aus diesem Grund werden sie staatlich reguliert. So werden beispielsweise die Netzentgelte durch staatliche Institutionen kontrolliert und reguliert. In der Schweiz übernimmt die Elcom diese staatliche Kontrollfunktion.

Der EU-Strommarkt vor und nach der Liberalisierung

Quelle: Eigene Darstellung Prognos in Anlehnung an Next Kraftwerke / Die Volkswirtschaft

 

Stromkunden in der EU haben seit Mitte der 2000er-Jahre die Möglichkeit, ihren Stromlieferanten frei zu wählen. Dies gilt sowohl für Haushaltskunden als auch für Grossverbraucher. Durch den entstehenden Wettbewerbsdruck sollen Innovationen und Preissenkungen gefördert werden. Insbesondere Anbieter von erneuerbaren Energien sollen davon profitieren.

Anders als in der EU können in der Schweiz nur Grossverbraucher mit einem Jahresverbrauch von mehr als 100’000 kWh ihren Stromlieferanten frei wählen. Alle anderen sind an ihren lokalen Stromversorger gebunden.

Anreize für flexible Kraftwerksleistungen

2018 wurde der EU-Strommarkt weiter liberalisiert. Das Ziel war es, die Investitionen in erneuerbare Energien zu erhöhen. Zudem wurde eine Obergrenze für sogenannte Kapazitätsmechanismen eingeführt. Sie sollte Anreize für mehr flexible Kraftwerksleistung schaffen. Dabei geht es in erster Linie um die Bereitstellung von Leistung, die im Bedarfsfall abgerufen werden kann, wie etwa Gaskraftwerke.

Die Kapazitätsmechanismen sollen das Missing-Money-Problem lösen, das vor allem bei Spitzenlastkraftwerken auftritt. Normalerweise handelt es sich dabei um Gas-, aber auch (Stein)kohlekraftwerke. Diese können aufgrund des Merit-Order-Prinzips (siehe Kasten) nur dann ihre variablen Erzeugungskosten decken, wenn sie zum Einsatz kommen. Da die Kraftwerke aber noch weitere Fixkosten wie Kapital- oder Personalkosten decken müssen, können Deckungslücken entstehen, wenn sie nicht in Betrieb sind. Zusätzliche Zahlungen sollen den wirtschaftlichen Betrieb solcher Kraftwerke ermöglichen.

Die von der EU beschlossene Regelung kam erstmals in Belgien zur Anwendung. Gemäss EU-Kommission ist der belgische Kapazitätsmechanismus notwendig und funktioniert auch wettbewerblich. Letzteres bedeutet, dass kein ausländischer Akteur benachteiligt und der grenzüberschreitende Stromhandel nicht beeinträchtigt wird.

Kapazitätsmechanismen sind auch in den Nachbarländern der Schweiz immer wieder Gegenstand politischer Diskussionen. So ist in Deutschland bis 2030 ein Zubau an Gaskraftwerken von mindestens 9 GW geplant (zum Vergleich: Die Schweizer Wasserkraft hat heute eine Leistung von rund 16 GW). Auch für diesen Zubau werden Kapazitätsmechanismen diskutiert, wobei noch nicht klar ist, welchen Weg Deutschland zur Refinanzierung dieser Kapazitäten einschlagen wird.

Energiekrise in Europa

Europa ist derzeit vor allem mit der Bewältigung der Energiekrise beschäftigt. Ende 2021 und im gesamten Jahr 2022 stiegen die Gas- und Kohlepreise deutlich an. Gründe dafür sind die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Krise sowie der Rückgang des russischen Gas- und Kohleangebots. Der Anstieg der Gas- und Kohlepreise führte in der Folge auch zu einem beispiellosen Anstieg der Strompreise. Der Grund dafür liegt in der Preisbildung auf dem Strommarkt, die sich an den Grenzkosten der Anbieter orientiert (siehe Kasten zu Merit-Order). Da in vielen europäischen Strommärkten die letzten Kraftwerke zur Deckung der Last oft Gas- und Kohlekraftwerke sind, sind in der Folge auch die Strompreise dramatisch gestiegen.

Einige Stromversorger, die zuvor überwiegend Strom an der Börse eingekauft hatten und über keine oder nur geringe Eigenerzeugung verfügten, gerieten in Zahlungsschwierigkeiten, sodass ihre Kunden zu anderen Stromanbietern wechseln mussten. Ein Wechsel des Stromanbieters inmitten eines allgemeinen Strompreisanstiegs bedeutet jedoch, dass Neuverträge besonders teuer sind. Haushalte mit geringem Einkommen traf das am härtesten.

Die EU-Kommission reagiert

Der Druck auf die EU-Kommission, die Energiepreise für die Verbraucher zu begrenzen, wurde immer grösser. Im September 2022 verabschiedete die EU-Kommission eine Notverordnung mit weitreichenden Eingriffsmöglichkeiten für die Mitgliedsländer. Die nationalen Regierungen haben nun die Möglichkeit, die stark angestiegenen Erlöse von Betreibern kostengünstiger Stromerzeugungstechnologien wie Braunkohle, Kernenergie und erneuerbare Energien oberhalb von 180 Euro pro Megawattstunde (MWh) abzuschöpfen. Diese Massnahme ist bis zum 30. Juni dieses Jahres befristet.

Viele EU-Mitgliedsländer haben versucht, die Energiepreise für die Konsumenten durch zusätzliche staatliche Mechanismen zu senken. Deutschland, Frankreich und Österreich beispielsweise deckelten die Strompreise für die Konsumenten mit sogenannten Strompreisbremsen. Die Preisbildung auf dem Grosshandelsmarkt wurde dadurch nicht beeinflusst, vielmehr erhielten die Verbraucher staatliche Zusatzzahlungen, oder ihre Stromrechnung wurde direkt reduziert. Nur in Spanien wurde der Strompreis nicht nur für die Endverbraucher, sondern auch auf dem Grosshandelsmarkt gesenkt.

Diskussion über Merit-Order

Einige politische Akteure sehen das Merit-Order-Prinzip als verantwortlich für die hohen Strompreise. Spanien und Griechenland etwa schlugen bei erneuerbaren Energien eine Abkehr von diesem Prinzip vor. Auch Frankreich möchte weg von der Merit-Order. Länder wie Deutschland, die Niederlande oder Dänemark plädierten hingegen für eine Beibehaltung des bisherigen marktwirtschaftlichen Prinzips.

Doch die EU-Kommission will keine grundsätzliche Abkehr vom bisherigen System. Gemäss ihrem Vorschlag will sie das Strommarktdesign nur insofern anpassen, als längerfristige Stromlieferverträge für mehr Preisstabilität bei den Verbrauchern sorgen. Ausserdem müssen Anbieter sich künftig stärker gegenüber Preisschwankungen absichern, damit diese wie in der aktuellen Energiekrise künftig nicht mehr so stark auf die Verbraucherpreise durchschlagen. Schliesslich können die EU-Mitgliedsstaaten über regulierte Endkundenpreise bedürftige Haushalte im Krisenfall schützen.

Flexibler Stromhandel mit Nachbarländern

Die Strommärkte der Schweiz und der EU-Nachbarländer sind eng miteinander verbunden. Daraus ergeben sich einerseits Abhängigkeiten, andererseits profitieren beide Seiten stark voneinander. Die Schweiz kann mit überschüssiger Leistung – vor allem mittels flexibler Produktionssteigerungen aus Wasserkraft – Strom ins Ausland liefern, wenn dort die Spitzenlast nicht oder nur sehr teuer gedeckt werden kann.

Gleichzeitig kann die Schweiz im Winter Strom aus den Nachbarländern importieren, wenn dort etwa aufgrund intensiver Windenergie ein hohes Stromangebot herrscht. Dadurch können die Schweizer Speicherseen entlastet und in Zeiten mit geringerem Stromangebot genutzt werden. In den letzten Jahren hat die Schweiz im Winter vor allem Strom aus Deutschland bezogen, auf dem zweiten Platz folgte Frankreich.

Zitiervorschlag: Sven Kreidelmeyer, Almut Kirchner (2023). So will die EU auf die hohen Strompreise reagieren. Die Volkswirtschaft, 20. Juni.

Preisbildung nach Merit-Order-Prinzip

Seit der Liberalisierung bieten die Kraftwerksbetreiber ihre Erzeugungsleistung im Stromgrosshandel wettbewerblich an. Die Preisbildung erfolgt nach dem sogenannten Merit-Order-Prinzip. Das bedeutet, dass die Grenzkosten – im Wesentlichen Brennstoff- und CO2-Kosten – des letzten noch benötigten Kraftwerks in der jeweiligen Stunde den Strompreis in dieser Stunde bestimmen. Um beispielsweise den Verbrauch in Spitzenlastzeiten zu bedienen, werden oft Gaskraftwerke eingeschaltet – in diesem Fall entspricht der Strompreis den teuren Grenzkosten eines Gaskraftwerks.