Arbeiten an einer Hochspannungsleitung in Sitten. (Bild: Keystone)
Im aargauischen Städtchen Laufenburg an der Grenze zu Deutschland schlug 1958 die Geburtsstunde des europäischen Strom-Verbundnetzes. In der heute als «Stern von Laufenburg» bekannten Schaltanlage wurden die Stromleitungen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz erstmals zusammengeschlossen. Damals war die Schweiz aus europäischer Sicht nicht nur geografisch mittendrin, sondern auch tatkräftig mit dabei. Denn bereits in der Nachkriegszeit war klar, dass sich die Netz- und Versorgungssicherheit dank der europäischen Zusammenarbeit markant verbessern wird.
Das ist heute noch genauso wahr wie damals. Die Einbindung in das europäische Stromsystem bleibt eine wichtige Voraussetzung für eine sichere und wirtschaftliche Stromversorgung – und zwar auf beiden Seiten: für die Schweiz und für Europa. Doch die ungeklärten Fragen um ein Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU gefährden aktuell dieses Erfolgskonzept und stellen die Schweiz sowie ihre Nachbarländer vor grosse Herausforderungen.
Die Schweiz gerät ins Abseits
Im täglichen Leben sehnt sich in der Schweiz wohl niemand nach einem Stromabkommen mit der EU. Der Strom fliesst ja. Kein Grund zur Sorge, könnte man meinen. Oder? Nicht so bei Swissgrid, der Betreiberin des gesamten 6700 Kilometer langen Schweizer Höchstspannungsnetzes (siehe Kasten). Hier macht sich das fehlende Stromabkommen im Arbeitsalltag bemerkbar – und zwar immer mehr. Denn zurzeit implementiert die EU mit Hochdruck das dritte Binnenmarktpaket und das «Clean Energy Package», um den EU-internen Stromhandel zu maximieren.
Das Ziel der EU ist die Vollendung des Binnenmarktes für Strom. Grössere zonenübergreifende Handelskapazitäten sollen den grenzüberschreitenden Wettbewerb erhöhen und die Integration erneuerbarer Energiequellen fördern. Auch die Netzentwicklung wird vorangetrieben, um den Stromaustausch zwischen den EU-Staaten zu vereinfachen. Um diese Ziele zu erreichen, hat die EU einheitliche Regeln (Network Codes) festgeschrieben, die laufend weiterentwickelt werden. Während die EU so den Strombinnenmarkt seit Jahren vorantreibt, lebt die Schweiz mit einem Gesetz von 2008. Auch im Mantelerlass, der aktuell im Parlament beraten wird, fehlen Bestimmungen, wie die Schweiz technisch und auch ökonomisch mit der EU umgeht.
So wird Swissgrid Schritt für Schritt aus relevanten europäischen Prozessen ausgeschlossen. Aktuell droht der Ausschluss aus den europäischen Regelenergiekooperationen, welche für die Netzstabilität zentral sind. Zwar nimmt Swissgrid bis jetzt noch an einer von drei Regelenergieplattformen teil, die weitere Teilnahme daran sowie die Teilnahme an den anderen zwei Regelenergieplattformen sind aber stark gefährdet. Bereits ausgeschlossen ist Swissgrid von der Teilnahme an der EU-Marktkopplung. Hierdurch entstehen ungeplante Lastflüsse durch die Schweiz, die zunehmend die Netzstabilität gefährden.
Importkapazitäten in Gefahr
Auch die neue 70-Prozent-Regel der EU wirkt sich auf den Netzbetrieb und die Versorgungssicherheit in der Schweiz aus. Bis spätestens Ende 2025 müssen unsere Nachbarländer nämlich mindestens 70 Prozent der grenzüberschreitenden Kapazitäten für den Handel zwischen EU-Mitgliedsstaaten reservieren. Stromflüsse mit Drittstaaten wie der Schweiz zählen nach heutigem Stand nicht dazu.
Das hat Konsequenzen. Denn einerseits ist eine Zunahme des Stromhandels innerhalb der EU zu erwarten, was zu einer Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch die Schweiz führt, solange die Schweiz nicht adäquat in die dazu notwendigen Kapazitätsberechnungsprozesse einbezogen ist. Andererseits könnten unsere Nachbarländer – wenn sie Probleme haben, die 70-Prozent-Regel zu erfüllen – die Grenzkapazität zur Schweiz einseitig limitieren. Das würde die Importkapazitäten der Schweiz massiv beschneiden. Insbesondere im Winterhalbjahr, in dem die Schweiz auf Importe angewiesen ist, könnte dies auch für die Versorgungssicherheit der Schweiz unangenehme Konsequenzen haben.
Swissgrid stösst an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten
Swissgrid arbeitet mit den europäischen Übertragungsnetzbetreibern an einer möglichst weitgehenden Inklusion der Schweiz in netzsicherheitsrelevante Prozesse, die in der EU gesetzlich vorgeschrieben sind. Zu Beginn dieses Jahres konnte der bereits im Dezember 2021 abgeschlossene Vertrag mit der Kapazitätsberechnungsregion «Italy North» um ein Jahr verlängert werden. Damit wird die Schweiz an der südlichen Landesgrenze bei systemrelevanten Prozessen weiterhin berücksichtigt. Als «Technical Counterparty» haben wir die gleichen Rechte und Pflichten wie ein Übertragungsnetzbetreiber der EU. Auch für die Nordgrenze der Schweiz möchte Swissgrid einen entsprechenden Vertrag abschliessen. Die Verhandlungen sind aufgrund der zahlreichen Akteure aber deutlich komplexer, und ein Vertragsabschluss ist nicht vor 2024 zu erwarten.
Doch diese privatrechtlichen Verträge stellen langfristig keinen adäquaten Ersatz für ein Stromabkommen dar. Dies, weil aus Sicht der EU privatrechtliche Verträge immer konform mit der EU-Regulierung sein müssen. Unsere EU-Partner benötigen deshalb früher oder später die Genehmigung der zuständigen EU-Behörden. Deren Zustimmung ist langwierig und kann nicht garantiert werden. Unsere Lösungsversuche auf technischer Ebene stossen daher an Grenzen.
Stromautarkie ist eine Illusion
Angesichts der Angst vor einer Energiemangellage und der beschriebenen Herausforderungen wird immer lauter nach Schweizer Stromautarkie gerufen. Hier muss man klar festhalten: Aus Sicht von Swissgrid ist ein autarkes System der Schweiz eine Illusion. Zu schwer wiegen Risiken für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit ohne Einbindung in das kontinentaleuropäische Verbundnetz. Zu gross sind die Vorteile einer Integration: Übertragungsnetzbetreiber unterstützen sich gegenseitig und helfen sich bei Problemen aus. Die gemeinsame und optimierte Beschaffung von Regelleistung führt zu höherer Liquidität im entsprechenden Markt.
Trotzdem haben die Befürworter einer Stromautarkie in einem Punkt recht: Die Schweiz muss die inländische Stromproduktion steigern. Bis ins Jahr 2050 müssen die Schweizer Produktionskapazitäten vor allem beim Winterstrom massiv ausgebaut werden. Gleichzeitig darf aber nicht vergessen werden, dass diese zusätzliche Energie auch transportiert werden muss.
Das Stromnetz darf also bei der Planung nicht vergessen gehen. Der Ausbau des Übertragungsnetzes hält schon heute nicht mit dem Kraftwerksausbau mit. Die Folge sind volkswirtschaftlich ineffiziente Netzengpässe und Einschränkungen der Stromproduktion neuer Kraftwerke. Um den sicheren, leistungsfähigen und effizienten Betrieb des Schweizer Stromsystems zu gewährleisten, müssen bestehende sowie künftig drohende Engpässe beseitigt werden. Dafür braucht es effiziente und koordinierte Bewilligungsverfahren. Ansonsten haben wir am Ende zwar neue Kraftwerke, aber die Energie kann nicht zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern gelangen, da das entsprechende Stromnetz fehlt.
Zitiervorschlag: Zumwald, Yves (2023). Strommarkt Europa: Die Schweiz ist mittendrin, aber nicht dabei. Die Volkswirtschaft, 20. Juni.
Die Swissgrid AG mit Standorten in Aarau und Prilly VD verantwortet als nationale Netzgesellschaft und Eigentümerin des Schweizer Höchstspannungsnetzes dessen Infrastruktur sowie den Betrieb und die Sicherheit der Anlagen. Damit leistet Swissgrid einen wichtigen Beitrag für die Versorgungssicherheit in der Schweiz. Das Übertragungsnetz transportiert Energie mit einer Spannung von 380 und 220 Kilovolt von den Stromproduzenten in die regionalen und lokalen Verteilnetze, von wo sie zu den Verbrauchern gelangt.
Als einzige nationale Netzgesellschaft bewegt sich Swissgrid in einem stark regulierten Umfeld. Ihr Auftrag ist im Stromversorgungsgesetz (StromVG) und in der Stromversorgungsverordnung (StromVV) geregelt. Überwacht wird deren Einhaltung von der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom). Mehrere Schweizer Elektrizitätsunternehmen halten die Mehrheit des Aktienkapitals von Swissgrid.