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Der Streit um das EU-Beihilferecht geht in die nächste Runde

Seit Jahren zanken sich die Schweiz und die EU darum, inwiefern die Schweiz in Marktintegrationsabkommen EU-Beihilferecht übernehmen muss. Eine Lösung bleibt in weiter Ferne.

Der Streit um das EU-Beihilferecht geht in die nächste Runde

Steht der Service public der SBB in Konflikt mit dem EU-Beihilferecht? Ein Güterzug der SBB Cargo am Escher-Wyss-Platz in Zürich. (Bild: Keystone)

Zurzeit steht die EU in der Kritik, dass sie mit ihrem Industrieplan für den Green Deal und dem Subventionsprogramm zur Herstellung von Mikrochips Industriepolitik betreibe und mit gezielten Subventionen die heimische Industrie bevorzuge.[1] Zur Industriepolitik zählen sämtliche Massnahmen, die eine bestimmte Branche fördern, also neben Subventionen oder Schutzzöllen auch unternehmensspezifische Beihilfen. Für den EU-Binnenmarkt selbst – in welchen die Schweiz stark eingebunden ist – kennt die EU ein explizites Beihilfeverbot, um wettbewerbliche Diskriminierung zu verhindern.

Mit den bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein institutionelles Abkommen ist das Thema Beihilfen seit 2014 auch hierzulande ein Dauerthema. Konkret geht es um die Frage: Soll die Schweiz das EU-Beihilferecht in Binnenmarktintegrationsabkommen mit der EU übernehmen? Und was wären die möglichen Auswirkungen?

Ein langwieriger Nachbarschaftsstreit

Der Begriff der Beihilfen findet sich im nationalen schweizerischen Recht nicht. Er ist allerdings in einer kleinen Anzahl völkerrechtlicher Wirtschaftsverträge enthalten, welche die Schweiz abgeschlossen hat. Beispielsweise im Freihandelsabkommen (FHA) mit der EU von 1972[2] oder im Luftverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und der EU[3].

Öffentlich diskutiert wurde der europäische Beihilfebegriff in der Schweiz erstmals im Rahmen des sogenannten Steuerstreits mit der damaligen Europäischen Gemeinschaft. 2007 entschied die Europäische Kommission, dass die in einzelnen kantonalen Steuerregelungen vorgesehenen steuerlichen Vorteile für Verwaltungs-, Holding- und gemischte Gesellschaften die betreffenden Unternehmen in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit begünstigten und dadurch das Beihilfeverbot im FHA verletzten.[4] Die Schweiz bestritt dies und argumentierte, dass bei Abschluss des FHA Steuererleichterungen nicht mitgemeint waren. Der konstante Druck der Europäischen Union führte 2014 dann aber trotzdem dazu, dass sich die Schweiz bereit erklärte, das Holdingprivileg abzuschaffen. 2019, mit dem Volksentscheid über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung (Staf), setzte sie dies dann um.[5]

Unterschiedliche Definitionen

Ein Grund, weshalb sich die Schweiz und die EU so schwertun, einen Kompromiss zu finden, ist, dass der EU-Beihilfebegriff dem schweizerischen Wirtschafts- und Rechtssystem unbekannt ist und eine Übernahme des EU-Beihilferechts weitreichende Konsequenzen für die Schweiz hätte. Eine Definition liefert die EU in ihrem Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV)[6]. Demgemäss handelt es sich dann um unzulässige Beihilfen, wenn bestimmte Unternehmen oder Unternehmenszweige aus staatlichen Mitteln selektiv begünstigt werden, was zu einer Wettbewerbsverfälschung und einer Beeinträchtigung des Handels zwischen EU-Mitgliedsstaaten führen kann. Das können sowohl direkte finanzielle Unterstützungen an Unternehmen wie auch die Befreiung von finanziellen Verpflichtungen (z. B. Steuern) oder auch die Gewährung von Darlehen zu nicht marktgerechten Bedingungen sein.[7] Zentral in der Definition ist, dass Beihilfen nicht selektiv sein dürfen. Die Bevorzugung einzelner Firmen ist daher nicht erlaubt, eine Industriepolitik, bei der EU-weit alle Firmen einer Branche Fördergelder erhalten und damit im Binnenmarkt keine Wettbewerbsbevorzugung erfolgt, ist hingegen zulässig.

Im Unterschied dazu umfassen Subventionen gemäss dem Schweizer Subventionsgesetz (SuG)[8] lediglich geldwerte Vorteile, die Empfängern ausserhalb der Bundesverwaltung zur Förderung oder Erhaltung einer bestimmten Aufgabe (Finanzhilfen) entstehen. Ebenso darunter fallen monetäre Vorteile zur Milderung beziehungsweise zum Ausgleich von finanziellen Lasten, welche die Empfänger zur Erfüllung der ihnen zugeteilten Aufgaben (Abgeltungen) haben. Die Unternehmenseigenschaft des Empfängers und die Selektivität sind hingegen nicht erforderlich, allerdings der Bezug zur Erfüllung bestimmter Aufgaben.

Als Subventionen gelten in der Schweiz beispielsweise auch (zweckgebundene) Finanzhilfen und Abgeltungen an Organisationen, welche keine wirtschaftliche oder unternehmerische Tätigkeit ausüben. Solche Vergünstigungen werden mindestens alle sechs Jahre vom Bundesrat überprüft.[9] Im Unterschied dazu beinhalten Beihilfen nach EU-Recht zwingend eine Vorteilsgewährung an Unternehmen mit wettbewerbsverfälschender Wirkung. Grundsätzlich kann man sagen, dass das EU-Beihilferecht zwar enger, dafür strenger definiert ist als das Subventionsgesetz der Schweiz.

Die EU will fairen Wettbewerb gewährleisten

Der Hauptunterschied zwischen dem Schweizer Subventionsbegriff und dem EU-Beihilfebegriff liegt vor allem im Zweck der jeweiligen Rechtsvorschriften. Während die EU den Wettbewerb und die Chancengleichheit im Binnenmarkt gewährleisten will[10], möchte das Schweizer Subventionsgesetz lediglich sicherstellen, dass öffentliche Gelder sinnvoll und wirkungsvoll eingesetzt werden. Zudem müssen Subventionen gerecht und einheitlich geleistet werden und die finanzpolitischen Erfordernisse erfüllen.[11] Diese Voraussetzungen erfüllen gemäss Subventionsgesetz normalerweise Finanzhilfen in den Bereichen Verkehr, Gesundheit und Energie, wie etwa die Förderung der Stromproduktion. Gemäss EU-Beihilferecht wären einzelne solcher Fördermassnahmen nicht zulässig, wenn daraus Wettbewerbsverzerrungen entstehen.

Der Schweiz fehlt eine klare verfassungsrechtliche Grundlage zur wettbewerbsorientierten Kontrolle von Finanzhilfen, Abgeltungen und sonstigen Vergünstigungen. Ebenso ist das SuG im Unterschied zum EU-Beihilfeverbot nur auf Bundesebene anwendbar.[12] Dies gilt auch für Finanzhilfen gemäss dem Bundesgesetz über Regionalpolitik[13], welches solche Hilfen aus regionalpolitischen Gründen regelt.[14] Regionalbeihilfen mit wettbewerbsverfälschender Wirkung, welche in Gebieten erfolgen, welche nach den Vorgaben der EU nicht zu sogenannten Fördergebieten gehören, sind unter dem EU-Beihilferecht grundsätzlich unzulässig.

Die Kantone sind bezüglich Subventionen grundsätzlich souverän, sofern keine sonstigen rechtlichen Schranken bestehen.[15] Das heisst: Würde die Schweiz ein nationales Beihilfegesetz schaffen, so wie das jüngst gefordert wurde, stellt diese kantonale Souveränität ein grosses Hindernis dar. Grundsätzlich stellt sich diesbezüglich sowieso die Frage, ob es sinnvoll ist, inmitten der Verhandlungen mit der EU ein schweizerisches Beihilferecht zu schaffen, das – wenn überhaupt mehrheitsfähig– aus innenpolitischen Gründen hinter den Anforderungen der EU bleiben wird.

Neues Verhandlungsmandat – alte Probleme

Die Verhandlungen zum sogenannten institutionellen Abkommen oder Rahmenabkommen mit der EU hat der Bundesrat im Mai 2021 einseitig abgebrochen. Später wurden sie erneut aufgenommen. Neu sollen institutionelle Grundsätze weniger in einem horizontal wirkenden Abkommen, sondern für jedes einzelne Marktintegrationsabkommen separat verhandelt werden. Mittlerweile hat die dafür zuständige Staatssekretärin Livia Leu ihren Rücktritt eingereicht. Der Bundesrat hat am 21. Juni 2023 die Eckwerte eines neuen Verhandlungsmandats festgelegt. Dabei wurde aber nicht bekannt, in welche Richtung diese gehen. Die Hauptstreitpunkte werden vermutlich die gleichen bleiben. Hierzu gehören auch die Beihilfen.

Vor Abbruch der Verhandlungen wurden verschiedene Abklärungen zu den möglichen Auswirkungen einer Übernahme des EU-Beihilferechts in der Schweiz gemacht.[16] Diese kommen zum Schluss, dass verschiedene Beihilfen in Gefahr wären, sofern sie den Wettbewerb und den Handel mit der EU gemäss den betroffenen Marktintegrationsabkommen beeinträchtigen. Dazu zählen etwa Bundeshilfen nach SuG und dem Bundesgesetz über Regionalpolitik sowie entsprechende Hilfen auf Kantons- und Gemeindeebene oder Massnahmen der Wirtschaftsförderung (inkl. Steuerrulings). Ebenso müssten Darlehen, Garantien oder Bürgschaften, welche Unternehmen von Kommunen, Kantonen und Bund erhalten, darauf hin geprüft werden, ob sie marktwirtschaftlichen Grundsätzen entsprechen.[17] Diese Erkenntnisse sind nach wir vor aktuell.

Service public in Gefahr?

In den Schweizer Medien ist vor Kurzem zudem die Frage aufgekommen, inwiefern die Übernahme des EU-Beihilfeverbots in der Schweiz den Service public gefährden könnte.[18] Konkret geht es etwa um Abgeltungen wie beispielsweise für die SBB. In der Tat ist die EU-Praxis streng und müsste bei Übernahme des EU-Beihilferechts auch in der Schweiz angewendet werden. Demnach muss das begünstigte Unternehmen mit einer klar definierten gemeinschaftlichen Aufgabe betraut worden sein, und der finanzielle Vorteil zur Erfüllung der Aufgabe muss anhand von klar definierten Parametern objektiv und transparent bestimmt sein. Zudem darf der Vorteil nicht über das hinausgehen, was für die Erfüllung der Aufgabe erforderlich ist.

Diese aktuelle Diskussion dürfte zu weiterer Rechtsunsicherheit für die betroffenen Gemeinwesen und Unternehmen führen und könnte zur Folge haben, dass in Einzelfällen Service-public-Leistungen infrage gestellt werden. Eine gründliche Abklärung ist daher nötig, sofern die Abgeltung solcher gemeinwirtschaftlichen Aufgaben in den Anwendungsbereich eines bestehenden oder künftigen Marktintegrationsabkommens mit der EU fällt. Eine spezielle Art des Service public stellen ferner die Staatsgarantien von Kantonalbanken dar, welche beihilferechtlich ebenfalls umstritten sind.

Grundsätzlich ist festzustellen – und dies gilt nicht nur für die Beihilfediskussion –, dass das gegenseitige Verständnis für die jeweiligen Anliegen und Forderungen der Schweiz und der EU zur Ausgestaltung der institutionellen Grundsätze zur Administrierung der bilateralen Verträge fehlt (siehe Kasten). Die Schweiz kann sich unter diesen Umständen nach wie vor nur wenig Hoffnung auf Ausnahmen vom EU-Beihilfeverbot machen.[19]

  1. Siehe Artikel von Ronald Indergand in diesem Schwerpunkt. []
  2. Siehe Art. 23 im Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 22. Juli 1972; SR 0.632.401. []
  3. Siehe Art. 13 im Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr vom 21. Juni 1999, SR 0.748.127.192.68. []
  4. Siehe Zurkinden, Philipp (2007). Der merkwürdige «Entscheid» der EU-Kommission, NZZ vom 23. März. []
  5. Siehe auch Zurkinden, Baldi und Lauterburg (2017), S.3 ff. []
  6. Siehe AEUV, Artikel 107 ff. []
  7. Siehe etwa Hirsbrunner, (2017), S. 10. []
  8. Bundesgesetz vom 5. Oktober 1990 über Finanzhilfen und Abgeltungen (SR 616.1; Subventionsgesetz, SuG). []
  9. Nach allgemeinen finanzpolitischen Vorgaben gemäss Artikel 4ff. SuG. []
  10. Siehe Art. 107 AUEV. []
  11. Hirsbrunner (2017),  S. 5 f. []
  12. Siehe Zurkinden, Baldi und Lauterburg (2017), S. 11 und 13 ff. []
  13. Bundesgesetz über Regionalpolitik vom 6. Oktober 2006; SR 901.0. []
  14. Siehe Hirsbrunner (2017), S. 5: etwa Steuererleichterungen für industrielle oder produktionsnahe Unternehmen, die neue Arbeitsplätze schaffen. []
  15. Siehe Hirsbrunner (2017), S. 5 f. sowie Zurkinden, Baldi und Lauterburg (2017), S. 13ff. []
  16. Siehe Hirsbrunner (2017) sowie Zurkinden, Baldi und Lauterburg (2017) und Zurkinden (2019). []
  17. Siehe Hirsbrunner (2017), S. 14ff. und Zurkinden (2019), S. 19ff. []
  18. Von Burg, Denis und Mischa Aebi (2023). Verhandlungen Schweiz – EU: EU-Vertrag gefährdet die SBB und deren Service public, «Tages-Anzeiger» vom 27. Mai. []
  19. Siehe Zurkinden (2019), S.6ff. []

Bibliographie

Zitiervorschlag: Philipp Zurkinden (2023). Der Streit um das EU-Beihilferecht geht in die nächste Runde. Die Volkswirtschaft, 17. Juli.

Gegenseitiges Verständnis verbessern

Sowohl in der EU als auch in der Schweiz fehlt in zentralen Punkten das Verständnis für das jeweilige Bedürfnis der Gegenpartei. Es ist daher zumindest zu überdenken, ob nicht vor Wiedereintritt in offizielle Verhandlungen ein Zwischenstopp gemacht werden sollte und die beiden Parteien nicht besser vorgängig gemeinsam einen Prozess des gegenseitigen Verständnisses starten sollten.

Gerade mit Bezug auf die Beihilfen ist diese Frage gerechtfertigt. Breiten Kreisen der Schweizer Bevölkerung ist nicht klar, weshalb die EU auf diesen Regeln beharrt. Andererseits ist der EU offenbar nicht klar, dass die Schweiz aufgrund ihrer föderalistischen Struktur und ihrer besonderen wirtschaftlichen Situation als Kleinstaat mit begrenzten natürlichen Ressourcen Ausnahmen vom EU-Beihilfe-Regime beansprucht.

Ein gemeinsam bestrittener Aufklärungsprozess sollte bei den relevanten offiziellen Stellen und Bevölkerungskreisen in Bern und Brüssel stattfinden. In der Schweiz kann jedenfalls im Falle einer allfälligen Volksabstimmung ein aussagekräftiges Ergebnis nur «en pleine connaissance de cause» erreicht werden.

Die EU dürfte sich einem derartigen ernst gemeinten Vorschlag der Schweiz nicht völlig verschliessen und allenfalls für die Übergangszeit sogar die Idee eines Interimsabkommens diskutieren. Die Zwischenschaltung eines solchen Prozesses zur Herstellung des gegenseitigen Verständnisses würde das Risiko eines nochmaligen Scheiterns der Verhandlungen mindern, welches für die Schweiz fatale Folgen haben könnte.