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«Ich hoffe, dass wir uns diesem Trend widersetzen können»

Andere Länder sind bereits eingeknickt und betreiben Industriepolitik – sprich: Sie fördern gezielt einzelne Branchen. Monika Rühl, Direktorin von Economiesuisse, hofft, dass die Schweiz standhaft bleibt. Zudem spricht sie im Interview über politische Trägheit und in Afrika sieht sie einen neuen globalen Player.

«Ich hoffe, dass wir uns diesem Trend widersetzen können»

Monika Rühl in ihrem Büro in Zürich: «Das Ende der Globalisierung würde ich nicht ausrufen.» (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)
Frau Rühl, Sie schwimmen gerne. Wo trifft man Sie öfter? In der Aare in Bundesbern oder in der Limmat in der Wirtschaftsmetropole Zürich?

Weder noch. (lacht) In Bern bin ich vor allem geschäftlich unterwegs. Und in Zürich, wo ich wohne, schwimme ich am liebsten im See.

Schwimmen Sie lieber mit oder gegen politische Strömungen?

Wenn Sie in der Politik etwas erreichen wollen, müssen Sie die Strömungen und Untiefen kennen. So erhöhen Sie Ihre Chancen, Entscheide zu beeinflussen. Nehmen Sie die Europapolitik: Wir haben dem Bundesrat für seine Verhandlungen mit der EU mehrere Teilabkommen vorgeschlagen – statt eines einzigen horizontalen Abkommens. Vielleicht liess er sich davon im Juni inspirieren, als er die Eckwerte seines Verhandlungsmandats bekannt gab.

Das Schweizer Bruttoinlandprodukt pro Kopf ist weltweit am vierthöchsten. Die Nachbarn Deutschland, Frankreich und Italien finden sich ab Platz 19 abwärts. Was machen wir besser?

Wir sind besser aufgestellt, weil wir uns stärker an marktwirtschaftlichen Grundsätzen orientieren: Wir setzen weniger auf den Staat, haben ein ausgezeichnetes Bildungssystem und einen liberalen Arbeitsmarkt. Hier sind wir schlicht besser als unsere Nachbarn. Zudem: Krisen haben uns fitter gemacht. Der Frankenschock und die Corona-Pandemie zwangen Unternehmen, sich neu aufzustellen und effizienter zu werden.

Und welche Rolle spielt der Staat?

Der Staat setzt in erster Linie die Rahmenbedingungen, aber er spielt darüber hinaus gerade in Krisenzeiten eine sehr wichtige Rolle. Wenn der Bundesrat interveniert – dann interveniert er richtig. Das ist gut so. Ich denke hier an die Kurzarbeit, die sich sehr bewährt hat.

Gemäss neuestem IMD-Ranking zur Wettbewerbsfähigkeit ist die Schweiz 2023 auf den dritten Platz zurückgefallen. Irland und Dänemark sind wettbewerbsfähiger. Woran liegt das?

Die Konkurrenz schläft nicht. Den Abstieg würde ich nicht überbewerten, aber ernst nehmen. Wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Es braucht mehr Eigenverantwortung bei den Unternehmen und mehr Mut für Reformen in der Politik.

 

Der Bundesrat schiebt wichtige Entscheide auf die lange Bank.

 

Ist die Politik in der Schweiz zu langsam? Andere sagen, das sei eine Stärke der Schweiz.

Eine gewisse Langsamkeit gehört zwar zu unserem System der direkten Demokratie. Aber der Mut, Entscheide zu fällen, kommt abhanden. Der Bundesrat schiebt wichtige Entscheide auf die lange Bank, und ähnliche Tendenzen sieht man auch im Parlament. Nehmen Sie wieder die Europapolitik: Wir können es uns nicht leisten, jahrelang über die gleichen Themen zu diskutieren, ohne einen Schritt weiterzukommen. Ein anderes Beispiel ist die Altersvorsorge – ebenfalls ein wichtiger Standortfaktor. Wir haben 30 Jahre gebraucht, um die erste Säule zu reformieren. Damit haben wir die AHV aber noch nicht abgesichert. Oder nehmen Sie die Energieproduktion – hier haben wir jahrelang viel zu wenig gemacht.

Wo steckt die Trägheit im System?

Wir haben die Tendenz, zu denken, dass unsere wirtschaftliche Stärke gottgegeben ist und wir uns auf Bewährtem ausruhen können. Es geht uns dermassen gut: Wir haben eine tiefe Arbeitslosigkeit, hohe Löhne, und wir sind krisenresilient. Die Corona-Krise hat dieses Denken noch verstärkt: Wenn alle Dämme brechen, dann rettet uns der Staat. Es wäre schlecht, wenn sich das in den Köpfen einprägt.

Haben wir heute zu viel Staat?

Der Staat sollte die Rahmenbedingungen für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft festlegen. Wir stellen jedoch fest, dass der staatliche Fussabdruck immer grösser wird. Besonders deutlich erkennbar ist dies am wachsenden Personalbestand beim Staat, und zwar auf allen föderalen Ebenen. Grundsätzlich gilt: Der Staat soll nur bei Marktversagen intervenieren. Unternehmen, die ihre unternehmerische Verantwortung nicht tragen, werden vom Markt abgestraft.

Industriepolitik – die staatliche Branchenförderung – feiert ein Comeback: in den USA, in der EU oder in China. Nachhaltige Industrien oder Chiphersteller subventionieren – warum nicht?

Das ist eine sehr gefährliche Tendenz. Aktuell erleben wir eine geopolitische Blockbildung. Letztlich geht es dabei um Macht: wirtschaftlich, aber auch politisch. Angefangen hat es vor einigen Jahren mit dem Handelskrieg zwischen den USA und China. Die USA führten Strafzölle unter anderem auf Solarzellen aus China ein. China erhob daraufhin seinerseits Strafzölle. Jetzt sind wir in der nächsten Phase – jener des Subventionswettbewerbs. Die Schweiz soll diese Entwicklung auf keinen Fall mitmachen.

Warum nicht?

Es gibt viele brillante Leute in der Verwaltung. Aber sie sind keine Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie können nicht bestimmen, welche Technologie in Zukunft wichtig sein oder welches Unternehmen durchstarten wird.

Investitionen in nachhaltige Industrien sind doch sicher eine gute Empfehlung.

Ja, aber das können die Unternehmen ja allein. Subventionen sind häufig nicht zielgerichtet. Sie wirken wie eine Giesskanne und kommen zeitlich verzögert. Zudem: Die Schweiz ist schlicht zu klein für die Idee sogenannter nationaler Champions, wie sie andere Länder gezielt aufzubauen versuchen. Das wäre eine sinnlose Investition. Wir brauchen die Innovationskraft unserer Unternehmen und den Zugang zu den internationalen Märkten.

 

Monika Rühl im Open-Space-Büro am Hauptsitz von Economiesuisse in Zürich. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

 

4,5 Prozent der Bundesausgaben gehen in die Landwirtschaft. Zudem betreibt der Bund Regionalpolitik oder schützt Grossbanken mit einer De-facto-Staatsgarantie. Auch im eben angenommenen Klimaschutzgesetz gibt es neue Förderprogramme. Betreibt die Schweiz nicht doch Industriepolitik?

Nein. Die Landwirtschaft ist aber sicherlich eine atypische Branche, für die auch die Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) eine Ausnahme definiert haben. Eine Regionalpolitik kennt auch die EU. Sie hat einen gesamtgesellschaftlich positiven Effekt. Was das Grossbanken-Thema betrifft, so ist klar, dass es nun eine gründliche Aufarbeitung und eine Überprüfung der bestehenden Regulierung braucht. Wir müssen aber auch festhalten: Die gefundene Lösung mit der Übernahme der CS durch die UBS hat eine Bankenkrise in der Schweiz und mutmasslich eine internationale Finanzkrise verhindert. Es war richtig und enorm wichtig, dass eine tragfähige Lösung gefunden wurde.

Und was, wenn die Schweiz unerwartet einlenkt und doch Industriepolitik macht?

Ich hoffe, dass wir uns diesem Trend widersetzen können. Wir trafen jüngst unsere Partnerverbände in der EU. Sie haben uns ans Herz gelegt: Bleibt standhaft. Sie selbst hätten es inzwischen aufgegeben, Widerstand zu leisten, und machten jetzt das Bestmögliche aus der Situation. Wir haben natürlich auch Verbandsmitglieder, die klagen, ihre deutsche Konkurrenz komme dank staatlicher Gelder besser weg. Aber bislang spüre ich keinen Druck von innen, uns für Industriepolitik starkzumachen.

Was kann die Schweiz den industriepolitischen Initiativen im Ausland entgegensetzen?

Das mag jetzt ein bisschen langweilig klingen: Die Schweiz hat ihre Erfolgsfaktoren, und diese müssen wir uns bewahren. Damit sind wir wieder bei den Rahmenbedingungen.

Also ist kein Aktivismus nötig?

Die Rahmenbedingungen sind gesetzt. Wir müssen diese aber pflegen und laufend weiterentwickeln. Es gibt viel zu tun: Sicherstellen einer ausreichenden Energieproduktion, Weiterkommen in der Europapolitik und neue Freihandelsabkommen. Zudem braucht ein wettbewerbsfähiger Standort gute Infrastrukturen. Da geht es um physische Verkehrsinfrastrukturen, aber auch um digitale Infrastrukturen, damit die Digitalisierung funktioniert. Auch müssen wir die Staatsfinanzen unter Kontrolle behalten.

 

Es gibt viele brillante Leute in der Verwaltung. Aber sie sind keine Unternehmerinnen und Unternehmer.

 

Industriepolitik im Ausland kann für uns auch positiv sein. So kann sie die Nachfrage nach gewissen Schweizer Produkten ankurbeln. Andererseits können Schweizer Unternehmen mit Produktionsstätten im Ausland direkt von der dortigen Branchenförderung profitieren. Ist es nicht besser, wir bleiben Trittbrettfahrer?

Unternehmen, die ihren Sitz in der EU oder den USA haben, wären ja blöd, wenn sie nicht von den Subventionen profitieren würden. Das würde ich nicht Trittbrettfahrerei nennen. Das Seco erarbeitet momentan eine Auslegeordnung, inwiefern sich die Subventionspakete der EU und der USA gesamtwirtschaftlich positiv oder negativ auf die Schweiz auswirken. Mutmasslich wird es aber kein klares Fazit geben.

Wie gross ist die Gefahr einer kompletten Abwanderung aktuell «grüner» Schweizer Unternehmen in Länder mit «grüner» Industriepolitik?

Klein. Solange wir den Standort attraktiv behalten, bleiben diese Unternehmen hier. In der EU herrscht die Sorge, dass eine Abwanderungsbewegung einsetzt in Richtung USA. Eine Deindustrialisierung wollen wir in der Schweiz natürlich auch nicht. Bis jetzt ist es uns gelungen, die produzierende Industrie hierzubehalten. Sie trägt seit Jahren konstant 20 Prozent zum Schweizer Bruttoinlandprodukt bei, auch in überraschenden Bereichen wie der Produktion von Flugzeugen und Zügen.

Global findet ein Paradigmenwechsel statt: Wettbewerb und freier Handel scheinen überholt. Staatshilfe, Abschottung und weniger Abhängigkeit von Importen sind in. Ist der freie Wettbewerb am Ende?

Das Ende der Globalisierung würde ich nicht ausrufen. Die gegenseitigen Abhängigkeiten bleiben: China ist abhängig von Europa und umgekehrt, ebenso die USA. Es ist aber spannend, zu beobachten, was die Unternehmen tun. Diese organisieren sich einfach neu. Viele haben ihre Lieferketten angepasst und versuchen sich weniger abhängig zu machen von einzelnen Produkten und Ländern. Erfolgreiche Unternehmen warten nicht darauf, dass der Staat sagt: Du musst dieses und jenes machen. Die machen einfach.

Was passiert, wenn sich die Wirtschaftsblöcke weiter abschotten?

Wir werden sehen, was die Zeit bringt – zum Beispiel, ob andere Player ins Spiel kommen. Nehmen Sie Afrika – ein riesengrosser Kontinent mit vielen natürlichen Ressourcen und viel «Manpower». Wir wissen noch nicht, wer von den heutigen globalen Verschiebungen profitiert.

Andere Länder erhöhen Zölle, die Schweiz baut am 1. Januar 2024 alle Industriezölle ab. Ein Widerspruch?

Nein, absolut nicht. Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass diese Industriezölle abgeschafft werden. Das ist eine klare Entlastung für die Unternehmen und hat preisliche Vorteile für die Konsumenten.

Wann kommt die nächste Krise?

Bis zu unserer vorletzten halbjährlichen Mitgliederumfrage war die Topsorge jeweils die Lieferkettenproblematik. Jetzt sind wir mitten in der nächsten Krise – dem Arbeitskräftemangel. Wir können schon heute 130’000 Stellen nicht besetzen. Und das Schlimme ist: Rund um die Schweiz ist die Situation genau gleich. Dennoch lanciert die SVP einen erneuten Angriff auf die Personenfreizügigkeit. Dabei ist die Schweiz seit Jahrzehnten ein Zuwanderungsland, und wir werden diese Zuwanderung auch weiterhin brauchen.

Zitiervorschlag: Guido Barsuglia (2023). «Ich hoffe, dass wir uns diesem Trend widersetzen können». Die Volkswirtschaft, 17. Juli.

Monika Rühl

Monika Rühl, 60-jährig, ist seit 2014 Direktorin des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. 1992 begann die Romanistin ihre diplomatische Karriere im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten. 14 Jahre später wechselte sie ins Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Ab 2011 leitete sie das Generalsekretariat des Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung.

Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, vertritt rund 100’000 Unternehmen aus allen Branchen und Regionen der Schweiz und beschäftigt 80 Mitarbeitende. Der Hauptsitz ist in Zürich. Zweigstellen gibt es in Bern, Genf, Lugano und Brüssel.