Suche

Abo

Industriepolitik Schweiz: Früher ja – heute nein

Die Schweiz ist eines der wirtschaftlich liberalsten Länder der Welt. Industriepolitik ist verpönt. Doch das war nicht immer so. Kommentatoren sprachen einst sogar von «Staatssozialismus».

Industriepolitik Schweiz: Früher ja – heute nein

Im Jahr 1933 vor der Mustermesse in Basel: Eine Frau verkauft Postkarten zur Unterstützung der notleidenden Stickereiindustrie. (Bild: Keystone)

Internationale Vergleiche bestätigen es immer wieder: Die Schweiz gehört zu den wirtschaftlich liberalsten Ländern der Welt. Unsere Volkswirtschaft weist einen relativ kleinen Binnenmarkt und eine starke Aussenwirtschaftsorientierung auf – jeden dritten Franken erwirtschaften wir im Ausland. Die internationale Verflechtung und die Konkurrenz auf dem Weltmarkt haben die Schweiz marktwirtschaftlich mitgeprägt. Im jährlich erscheinenden Economic Freedom of the World Index der libertär-konservativen Denkfabrik Fraser Institute aus Kanada belegte sie 2022 hinter Hongkong und Singapur den dritten Platz.[1]

Stützungsaktionen für notleidende Branchen

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch: Die Schweizer Volkswirtschaft war nicht immer so frei von staatlichen Interventionen. Im ausklingenden 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfreute sich die Industriepolitik in Bundesbern grosser Beliebtheit. Insbesondere in der von Konflikten und Krisen geprägten Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erreichte der Interventionismus einen einsamen Höhepunkt.

In den 1930er-Jahren verfolgte die Schweiz eine industriepolitische Praxis, «in welcher der Staat wohl an zahllosen Stellen des Wirtschaftsgefüges, aber weder planmässig noch systematisch interveniert». Er tat dies, weil er sich «durch das Versagen des freien Spiels der Kräfte und die Gefährdung von schutzwürdigen Interessen auf Schritt und Tritt zu Eingriffen genötigt sieht».[2] Der Ruf nach solchen sogenannten Stützungsaktionen und Notstandshilfen wurde immer dann laut, wenn ein volkswirtschaftlich bedeutender Industriezweig «unverschuldet» in die Krise geriet. Das industriepolitische Instrumentarium des Staates reichte von allgemein verbindlichen Verbandsbeschlüssen über Bedürfnisklauseln und Bewilligungspflichten bis hin zu Preiskontrollen oder Kontingentierungen.

Abhilfe gegen angebliche Überproduktion

Ein Beispiel für solche staatlichen Eingriffe ist die Textil- und Lederindustrie. Ungefähr ab 1860 bildeten die Stickereiindustrie und ihre Hilfsindustrien, etwa zum Bleichen, Färben oder Ätzen von Stoffen, das wirtschaftliche Rückgrat der Ostschweiz. Produziert wurden reich verzierte Stickereien, die zu luxuriösen Kleidungsstücken, Taschentüchern oder Tischdecken verarbeitet wurden. Die Herstellung und der Vertrieb der weltweit begehrten Exportartikel verhalfen im Jahr 1910 rund 45’000 Arbeitskräften zu einem Einkommen.

Doch Handelsprotektionismus, Kaufkraftverlust und ein tiefgreifender Modewandel setzten dem Industriezweig zu Beginn der 1920er-Jahre schwer zu. Die Stickereiexporte sanken sukzessive von 210 Millionen Franken im Jahr 1912 auf 83 Millionen Franken im Jahr 1929. Vom Einbruch gebeutelt, forderten breite Kreise Abhilfe gegen die drohende «Überkapitalisierung» und «Überproduktion».

1922 wurde die Stickerei-Treuhand-Genossenschaft St. Gallen gegründet. Die halbstaatliche Organisation prüfte die Wettbewerbsfähigkeit des Industriezweigs, machte «tüchtige» Betriebe ausfindig und unterstützte diese mit Krediten; die Festsetzung eines staatlichen Mindeststichpreises, das heisst eines pro 100 Stiche zu bezahlenden Grosshandelspreises, sollte den Fortbestand der Industrie sichern. Im Umfeld schrumpfender Aufträge geriet die industriepolitische Sanierungsmassnahme jedoch mehr zu einer Liquidierungsaktion. Die Genossenschaft drängte die Besitzer überzähliger und veralteter Betriebe zur Aufgabe und zahlte Entschädigungen für die vorübergehende (Plombierung) oder endgültige Ausschaltung (Demolierung) des Maschinenparks. Zwischen 1923 und 1943 wurden rund 6700 Handstickmaschinen, 1600 Schiffli-Stickmaschinen und 1100 Stickautomaten stillgelegt.

«Kriegswichtige» Schuhwirtschaft

Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 wirkte sich auch auf den Schweizer Leder- und Schuhmarkt aus. 1929 waren noch rund 12’000 Schuhmacher mit der Reparatur von Schuhen beschäftigt, die Neuproduktion erfolgte in Fabriken zwischen Aarau und Olten. Zeitgleich mit der Weltwirtschaftskrise gelangten neue Materialien wie Gummi und innovative Produktionsverfahren wie das Fliessband auf den Schuhmarkt und brachten das Preisgefüge ins Rutschen. Nicht wenige Handwerksbetriebe und Fabriken standen vor dem Ruin.

Inmitten einer akuten Krise und in der Erwägung, dass die Schuhwirtschaft für die Schweiz «kriegswichtig» sei, wurde ein Bestandesschutz gefordert. So verfügte der Bundesrat 1934 die Beschränkung der schuhwirtschaftlichen Produktions-, Verkaufs- und Reparaturkapazitäten. Die drei als «Filialverbot», «Grosssohlereiverbot» und «Schuhfabrikationsverbot» bekannten Gesetze waren mit einer Dringlichkeitsklausel versehen und mussten bis 1946 alle zwei Jahre erneuert werden. Im Falle des Schuhfabrikationsverbots bedeutete das: Das heute im Staatssekretariat für Wirtschaft aufgegangene Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga) prüfte zusammen mit den Verbänden der Schuhwirtschaft Hunderte von Gesuchen um Ersatz oder Erweiterung des Maschinenparks beziehungsweise um Neu- oder Wiedereröffnung von Produktionsstätten. Die Kommission erteilte nur dann eine Genehmigung, wenn der Bedarf plausibel nachgewiesen werden konnte.

Wirtschaftsartikel klärt Kompetenzen des Bundes

Die beiden Fallbeispiele sind nicht repräsentativ für andere Branchen. Auf der Liste weitreichender industriepolitischer Eingriffe finden sich auch Aktionen bei Klein- und Mittelbetrieben des Detailhandels, der Uhrenindustrie, der Hotellerie, des Milchhandels, des Autotransportgewerbes oder der Buchverlage. Diese «seltsame Kreuzung von Staatssozialismus und Verbandsinterventionismus samt dem mitlaufenden Heimweh nach dem Liberalismus» wurde von Beginn weg kontrovers diskutiert.[3]

An der ordnungspolitischen Zweckmässigkeit und der staatsrechtlichen Zulässigkeit der staatlichen Industriepolitik schieden sich die Geister schon damals. Einen profunden Überblick über die damaligen Argumentationslinien bietet etwa das Buch «Der Interventionismus» des St. Galler Ökonomen Emil Küng aus dem Jahr 1941.

Eine grundsätzliche und zeitnahe wirtschaftspolitische Klärung schien auch insofern angezeigt, als die Nachwehen der Weltwirtschaftskrise in den 1940er-Jahren in Vergessenheit gerieten und sich die Spitzen von Wirtschaft, Politik und Verwaltung auf die Nachkriegszeit vorbereiteten. Der in Bundesbern seit vielen Jahren beratene «Wirtschaftsartikel», der das Verhältnis von Staat und Wirtschaft und damit auch das Wesen der Industriepolitik klären sollte, kam zur Abstimmung vors Volk. Nach dem knappen Ja vom 6. Juli 1947 erhielt der Bund enger gefasste Kompetenzen in der Industriepolitik: Er konnte beispielsweise Massnahmen gegen schädliche Auswirkungen von Kartellen ergreifen, sollte für die Erhaltung eines «gesunden Bauernstandes» sorgen oder Schutzmassnahmen für gefährdete Landesteile erlassen.

In Zeiten der Hochkonjunktur und eines boomenden Aussenhandels freuten sich viele Branchen über volle Auftragsbücher. Das Vertrauen in das freie Spiel der Kräfte kehrte bald wieder zurück. Zu Beginn der 1950er-Jahre frohlockten nicht wenige, dass die «Epoche der Überwindung des Interventionismus» angebrochen sei.[4] Tatsächlich sollten industriepolitische Massnahmen seither eine Ausnahmeerscheinung bleiben. Solche Ausnahmen sind zum Beispiel die Agrarpolitik zuhanden der Landwirtschaftsbetriebe oder die Hilfen zugunsten der im Jurabogen konzentrierten und krisengeschüttelten Uhrenindustrie (Lex Bonny) im Jahr 1978.

  1. Gwartney, James, Robert Lawson, Joshua Hall und Ryan Murphy (2022). Economic Freedom of the World. 2022 Annual Report. Fraser Institute, Vancouver, B.C., S. 165. []
  2. Jöhr, Walter Adolf (1939). Interventionismus. In: Schweizerische Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft (Hg.). Handbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, Bd. 1. Bern: Benteli, S. 622–627, hier S. 622. []
  3. Gruner, Erich (1964). 100 Jahre Wirtschaftspolitik. Etappen des Interventionismus in der Schweiz. In: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik 100, S. 35–70, hier S. 63. []
  4. Jöhr, Walter Adolf (1955). Wirtschaftspolitik, Gesamtüberblick. In: Schweizerische Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft (Hg.). Handbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, Bd. 2. Bern: Benteli, S. 579–589, hier S. 582. []

Literaturverzeichnis
  • Bohlhalter, Bruno (2016). Unruh. Die schweizerische Uhrenindustrie und ihre Krisen im 20. Jahrhundert. Zürich: NZZ Libro.
  • Küng, Emil (1941). Der Interventionismus. Volkswirtschaftliche Theorie der staatlichen Wirtschaftspolitik. Bern: Grunau.
  • Müller, Philipp (2010). La Suisse en crise (1929–1936). Les politiques monétaire, financière, économique et sociale de la Confédération helvétique. Lausanne: EdAntipodes.
  • Saxer, Arnold (1965). Die Stickerei-Treuhand-Genossenschaft St. Gallen. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Stickereiindustrie. St. Gallen: Tschudy.
  • Wild, Roman (2019). Auf Schritt und Tritt. Der schweizerische Schuhmarkt 1918–1948. Basel: NZZ Libro.

Bibliographie
  • Bohlhalter, Bruno (2016). Unruh. Die schweizerische Uhrenindustrie und ihre Krisen im 20. Jahrhundert. Zürich: NZZ Libro.
  • Küng, Emil (1941). Der Interventionismus. Volkswirtschaftliche Theorie der staatlichen Wirtschaftspolitik. Bern: Grunau.
  • Müller, Philipp (2010). La Suisse en crise (1929–1936). Les politiques monétaire, financière, économique et sociale de la Confédération helvétique. Lausanne: EdAntipodes.
  • Saxer, Arnold (1965). Die Stickerei-Treuhand-Genossenschaft St. Gallen. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Stickereiindustrie. St. Gallen: Tschudy.
  • Wild, Roman (2019). Auf Schritt und Tritt. Der schweizerische Schuhmarkt 1918–1948. Basel: NZZ Libro.

Zitiervorschlag: Roman Wild (2023). Industriepolitik Schweiz: Früher ja – heute nein. Die Volkswirtschaft, 18. Juli.