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Was ist gute Industrie­politik?

Die heutige Industriepolitik von Deutschland, der EU und vielen anderen Industriestaaten ist konzeptlos und voll von falschen Anreizen. Trotzdem gibt es eine ordnungspolitisch vertretbare Industriepolitik.

Was ist gute Industrie­politik?

Eine vertretbare Industriepolitik ist technologieoffen und fördert Grundlagenforschung. Ein Mitarbeiter der Leibniz-Universität Hannover forscht im gelb beleuchteten Reinraum an der Vorstufe eines Mikrochips. (Bild: Keystone)

Im Februar 2019 verkündete der damalige deutsche CDU-Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier seinen Vorschlag für eine Industriestrategie 2030. Der Entwurf wurde in Deutschland scharf kritisiert und musste daraufhin stark angepasst werden. Gleichwohl ist der Inhalt des ursprünglichen Entwurfs beispielhaft für das aktuelle Elend der Industriepolitik. Denn die Vorschläge prägen die heutige Industriepolitik in Deutschland, Frankreich, der gesamten EU und anderen Industriestaaten.

Sechs verfehlte Komponenten

Der Entwurf von Altmaier besteht im Grundsatz aus sechs Komponenten. Erstens sah er vor, dass der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung Deutschlands nicht unter 20 Prozent sinken soll. In der Tat hat Deutschland einen relativ hohen Industrieanteil am Bruttoinlandprodukt (BIP). Er liegt derzeit mit gut 20 Prozent deutlich über den Anteilen Frankreichs, der USA und des Vereinigten Königreichs mit etwas mehr als 10 Prozent. In der Schweiz beträgt der Anteil rund 18 Prozent. Die Stärke der deutschen Industrie gilt vielen als Grund für die relativ gute Wirtschaftsentwicklung seit 2005. Und so verwundert es nicht, dass die Sorge um die deutsche Industrie angesichts hoher Energiepreise besonders virulent ist.

Spricht etwas für einen vorbestimmten industriellen Anteil an der Wertschöpfung? Nein. Denn der Strukturwandel könnte zu weniger Industrie führen, ohne dass dies mit Wohlstandseinbussen einhergeht – beispielsweise wenn der Dienstleistungssektor an Bedeutung gewinnt. Stellen Sie sich vor, man hätte vor der industriellen Revolution den damals viel höheren Landwirtschaftsanteil an der Wertschöpfung zur Zielgrösse für die Wirtschaftspolitik genommen – viele Chancen der Wirtschaftsentwicklung wären ungenutzt geblieben. Es ist zwar eine Tatsache: Die deutsche Volkswirtschaft hat beispielsweise in der Automobilproduktion und im Maschinenbau einen komparativen Vorteil gegenüber anderen Ländern. Aber für die Zukunft ausgemacht ist dies keineswegs.

Zweitens wollte der industriepolitische Entwurf industrielle Schlüsselbranchen und drittens strategisch bedeutsame Technologien identifizieren. Um diese fördern zu können, sollte viertens das Beihilferecht der EU gelockert werden. «Fördern» heisst hier nichts anderes, als mittels Subventionen Wettbewerbsvorteile im internationalen Wettbewerb zu erlangen. Doch Subventionen führen zu Verzerrungen bei der Verwendung knapper Ressourcen. Und noch problematischer: die Vorstellung dahinter, dass politische Entscheide die zukunftsträchtigen Technologien und Branchen identifizieren könnten. Hier zeigt sich die schlichte Anmassung der Politik.

Unvorhersehbare Entwicklungen

Im Jahr 2019 konnte sich niemand vorstellen, dass die Pharmaindustrie nur ein Jahr später für die Weltwirtschaft zur wichtigsten Industrie werden sollte. Ohne die Erfindung von Impfstoffen gegen das Coronavirus wäre die Bewältigung der Pandemie nicht so schnell möglich gewesen, und die wirtschaftliche Öffnung hätte noch länger auf sich warten lassen. Dennoch gab es hier keine industriepolitischen Interventionen. Im Gegenteil: Die Firma Biontech hätte ohne das privatwirtschaftliche Engagement der Gebrüder Strüngmann, die knapp die Hälfte der Aktien halten, nicht überlebt.

Die Schlüsseltechnologien, welche im altmaierschen Entwurf sowie im grünen Industrieplan der EU (GDIP) identifiziert werden, sind allerdings nicht Impfstoffe, sondern die Batteriezellen- und Mikrochipproduktion. Der deutsche Staat und die EU subventionieren Unternehmen aus diesen Bereichen mit enormen Summen. Für die Niederlassung des amerikanischen Halbleiterherstellers Intel in Magdeburg sollen mehr als 10 Milliarden Euro Fördermittel gezahlt werden. Dies entspricht etwa 1 Million Euro pro Beschäftigten. Die EU hat für solche strategischen Investitionen das Beihilferecht[1] bereits heute erheblich gelockert und mit ihren Important Projects of Common European Interest (IPCEI) den Weg für Subventionen frei gemacht.

Allerdings: Wie bedeutsam Batteriezellen- und Mikrochipproduktion für die europäische Wirtschaft sind, ist unklar. Batteriezellen gelten als zentraler Bestandteil bei der Elektromobilität, Mikrochips für eine Vielzahl von digitalen Anwendungen, insbesondere beim Klimaschutz. Dass die EU voll auf die Elektromobilität setzt, ist insoweit verfehlt, als bisher noch unbekannte oder noch unreife Technologien in Zukunft wettbewerbsfähig werden können, die noch umweltfreundlicher sind. Mikrochips wiederum werden vor allem in Taiwan produziert; die einseitige, geostrategisch problematische Abhängigkeit von Taiwan soll deshalb beendet werden. Angesichts der Spannungen mit China, insbesondere der Sorge eines Angriffs auf Taiwan, erlebt die Mikrochipproduktion in mehreren Ländern eine Renaissance – beispielsweise in den USA. Dadurch sind die Länder, die Mikrochips herstellen, bereits genügend diversifiziert. Es ist deshalb nicht erforderlich, dass Deutschland mit so hohen Summen wie bei Intel in Magdeburg die Technologie weiter fördert.

Alle für wenige

Der Entwurf einer industriepolitischen Strategie für Deutschland wollte als fünften Punkt das Wettbewerbsrecht in der EU und Deutschland anpassen, um sogenannte nationale Champions aufzubauen. Im Grundsatz geht es bei nationalen Champions darum, marktbeherrschende Stellungen in der EU zu ermöglichen, damit diese Unternehmen auf den Weltmärkten eine bessere Wettbewerbsposition erlangen. Oder anders gewendet: Die Käufer der Produkte nationaler Champions im Inland sollen höhere Preise bezahlen, um diesen Unternehmen grössere Marktanteile im Ausland zu sichern. Aus Sicht der EU-Verbraucher spricht wenig für eine solche Politik. Und Unternehmen wie Siemens und Alstom, die zuletzt im Zentrum solcher Debatten standen, haben keine nennenswerten Probleme hinsichtlich ihrer Positionierung im Markt. Glücklicherweise konnten die deutsche und die europäische Wettbewerbspolitik diesem Ansinnen bislang widerstehen.

Die sechste und letzte Komponente des damaligen Entwurfs betraf sogenannte deutsche Traditionsunternehmen. Sie sollten mit staatlicher Hilfe dauerhaft erhalten bleiben. Doch was ist ein deutsches Traditionsunternehmen? Die im Entwurf genannten Unternehmen sind allesamt börsenkotiert, ihre Anteile werden auf den Aktienmärkten weltweit gehandelt. Mittelständische Unternehmen tauchen nicht auf. Ein solcher Bestandsschutz erhöht für die betroffenen Unternehmen letztlich nur den Anreiz, mehr Risiko bei Investitionen einzugehen, weil dieses letztlich auf den Staat überwälzt werden kann. Was ist der Sinn davon?

Auch diesen Punkt hat man letztlich aus dem Entwurf gelöscht. Dennoch zeigt sich in der deutschen Klimapolitik gerade eine Tendenz, dass alteingesessene deutsche Industrieunternehmen hohe Dauersubventionen erhalten sollen. Beispielsweise bei der Diskussion um sogenannte Differenzverträge oder einen Industriestrompreis: Beide sollen der energieintensiven Wirtschaft durch Subventionen die Transformation zur Klimaneutralität erleichtern.

Ordnungspolitisch legitime Industriepolitik

Diese kurze Skizze des heute dominierenden industriepolitischen Verständnisses zeigt das Elend auf: In planerischer Wissensanmassung interveniert der Staat mit wettbewerbsverzerrenden und teuren Subventionen. Dies lockt die Glücksritter der Rent-Seeking-Society an. Denn letztlich ist es verlockender, um solche Subventionen zu buhlen, als sich durch Innovation eine Technologieführerschaft zu erkämpfen.

Gestützt wird dies – vermeintlich – von den Analysen der Ökonomin Mariana Mazzucato. Sie wird nicht müde, die Bedeutung der amerikanischen Industriepolitik für die Technologieführerschaft der USA in verschiedenen Bereichen zu betonen. Ihr wichtigstes Beispiel ist die Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa), die zusammen mit dem Militär und dem Sicherheitsapparat mehrere wesentliche Innovationen angestossen hat. Angesichts der unmittelbar sicherheitspolitischen Relevanz lässt sich dieses Beispiel allerdings nicht auf die zivile Industriepolitik übertragen.

Vielmehr muss eine erfolgreiche zivile Industriepolitik durch Technologieoffenheit gekennzeichnet sein. Sie erfordert staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung. Mit dem Grad der allgemeinen Verwendbarkeit von Forschungsergebnissen muss allerdings auch die Unterstützung abnehmen. Will heissen: Für Grundlagenforschung gibt es mehr als für angewandte Forschung und unternehmensspezifische Forschung. Kurz: Moderne Industriepolitik ist Forschungs- und Innovationspolitik.

  1. Siehe Artikel von Philipp Zurkinden. []

Zitiervorschlag: Lars P. Feld (2023). Was ist gute Industrie­politik. Die Volkswirtschaft, 17. Juli.