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Wie die Industriepolitik die Europäische Union stärkt

Petros Mavromichalis, Botschafter der Europäischen Union in der Schweiz und für das Fürstentum Liechtenstein, Bern

Standpunkt

Trotz Globalisierung und Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft macht der industrielle Sektor über 20 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung aus, gibt 35 Millionen Menschen Arbeit und steht für 80 Prozent der EU-Güterexporte. 2018 wurde die Industriepolitik vom Europäischen Rat zur Priorität erklärt. Die Krisen der letzten Jahre haben bestätigt, dass dieser Entscheid richtig war. Aktuell fokussiert die EU-Industriepolitik auf drei strategische Schlüsselbereiche:

Erstens will die aktuelle Kommission von der Leyen Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Zentraler Baustein dafür ist der «European Green Deal». Dieser ist Klimapolitik und Industriepolitik in einem: Er will Europa rasch zu einer Kreislaufwirtschaft umbauen, um im wachsenden globalen Markt für saubere Technologien Wettbewerbsvorteile zu gewinnen. Ein Drittel der 1800 Milliarden Euro aus dem 7-Jahres-EU-Budget und dem Corona-Wiederaufbaufonds «Next Generation EU» wird für den «Green Deal» eingesetzt. Diese Investitionen sollen den Energie­verbrauch reduzieren, erneuerbare Energiequellen und grüne Mobilität fördern sowie die industrielle Produktion ressourcenschonender und die Landwirtschaft nachhaltiger und gesünder machen.

 

Die aktuelle Kommission von der Leyen will Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen.

 

Zweitens will die Kommission den EU-Binnenmarkt resilienter machen. Die Covid-Pandemie hat gezeigt, welche Folgen Grenzschliessungen, Lieferunterbrüche und Unsicherheiten bei der Versorgung mit wichtigen Rohstoffen und industriellen Produkten haben. Das neue Notfallinstrument für den Binnenmarkt zielt darauf ab, den freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr sowie die Versorgung mit wichtigen Waren und Dienstleistungen auch in Krisenzeiten zu sichern. Zudem wird der EU-Binnenmarkt durch ein gezieltes Monitoring von Schlüsselbereichen krisenresistent. Dazu gehören etwa der Gesundheitssektor, die Energiewirtschaft, die Luft- und die Raumfahrt sowie die Elektronik- und die Verteidigungsindustrie.

Drittens gilt es, die strategische Autonomie der EU zu stärken. Die Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine haben Europas Abhängigkeit vom Import von Energieträgern, Rohstoffen und kritischen Industrieprodukten wie Halbleitern offengelegt. Diese Abhängigkeiten machen Europa verwundbar. Sie müssen reduziert und diversifiziert werden. Bereits weitgehend gelungen ist die Entkopplung von Energieimporten aus Russland. Die EU ist aber auch in anderen kritischen Bereichen wie der Mikrochippro­duktion und der Verteidigungsindustrie dabei, ihre technologischen und industriellen Kapazitäten auszubauen.

Die drei Pfeiler der EU-Industriepolitik sind miteinander verzahnt: So stärkt der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft die Energiesicherheit und damit die strategische Autonomie der EU. Der EU-Binnenmarkt schafft die nötigen Skaleneffekte, damit europäische Unternehmen sich im globalen Markt behaupten. Ein starker Binnenmarkt ist wiederum auch ein geopolitisches Instrument: Seine Grösse und regulatorische Einheit bündeln Kapazitäten und geben der EU Verhandlungsmacht. Nur dadurch kann die EU in einem rauer gewordenen internationalen Umfeld wettbewerbsfähig bleiben, ihre Interessen wahren und zusammen mit anderen Demokratien unsere gemeinsamen Werte verteidigen.

Zitiervorschlag: Petros Mavromichalis (2023). Standpunkt: Wie die Industriepolitik die Europäische Union stärkt. Die Volkswirtschaft, 18. Juli.