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Freizeitmobilität boomt: Die SBB sind gefordert

Homeoffice und der wachsende Freizeitverkehr verändern das Mobilitätsverhalten. Mit regelmässigeren Zugverbindungen ist es allerdings nicht getan. Der Fahrplan muss sich den neuen, nicht mehr synchron getakteten Gewohnheiten der Bevölkerung anpassen.
Zugfahrten in der Freizeit nehmen in der Schweiz zu. Beispielsweise ans Züri-Fäscht, das Zürcher Stadtfest. (Bild: Keystone)

Unsere Mobilitätsbedürfnisse werden immer komplexer: Wir müssen um 10 Uhr morgens einen Termin im waadtländischen Morges wahrnehmen, wollen nach einem Konzert in Zürich nach Mitternacht wieder nach Hause kommen oder möchten pünktlich um 8 Uhr für einen Tagesausflug in der Tessiner Gemeinde Tesserete sein. Eine kürzlich veröffentlichte Studie[1] zeigt, dass sich der Lebensstil in der Schweiz – das heisst, wie oft und wohin wir reisen – insbesondere seit der Pandemie grundlegend verändert hat.

Dasselbe gilt für unser Verhältnis zur Arbeit: Im Jahr 2022 arbeiteten knapp 40 Prozent der Erwerbspersonen von zu Hause, und rund 10 Prozent von anderen Orten, beispielsweise von einem Co-Working-Space oder von einem Zweitwohnsitz aus.[2] Homeoffice hat den Pendlerverkehr reduziert, eine flexiblere Alltagsgestaltung ermöglicht und den Radius bei der Wohnortwahl erweitert.

Diese Entwicklung schafft aber auch neue Mobilitätsbedürfnisse. Durch die Miete einer Zweitwohnung in Firmennähe, die Arbeit vom Ferienhaus aus oder durch verlängerte Wochenenden entsteht das Bedürfnis nach neuen Mobilitätsformen. Das digitale Nomadentum[3] ist zum Paradebeispiel des ortsunabhängigen Arbeitens geworden.

Stark zunehmender Freizeitverkehr

Gleichzeitig werden die Arbeitszeiten zunehmend flexibler. Der Anteil der Personen, die ihre Arbeitszeiten relativ frei gestalten können, ist zwischen 2010 und 2022 von 42 auf 48 Prozent gestiegen.[4] Angesichts des grossen Bedürfnisses nach flexiblen Arbeitszeitmodellen wird sich dieser Trend vermutlich noch verstärken.[5]

Hinzu kommt, dass die effektive Jahresarbeitszeit mehr und mehr schrumpft. Im Jahr 1950 wurden in der Schweiz durchschnittlich 2400 Stunden pro Jahr gearbeitet, 2022 waren es nur noch 1400 Stunden.[6] Die Gründe dafür sind die rückläufige Wochenarbeitszeit, der Anstieg der Teilzeitarbeit und die Zunahme des bezahlten Urlaubs.

Als Folge der kürzeren Arbeitszeit reduziert sich der tägliche Pendlerverkehr, und es bleibt mehr Zeit für Freizeitaktivitäten. Besuche bei Verwandten, Essen im Restaurant, Vereins-, Sport- und Kulturaktivitäten sowie Tourismusreisen nehmen zu und verändern unsere Mobilität. Gemäss dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) dürfte sich diese Entwicklung künftig noch verstärken. Arbeitsreisen werden zwischen 2017 und 2050 um 13 Prozent abnehmen – Freizeitreisen nehmen im gleichen Zeitraum um 41 Prozent zu.[7]

Taktfahrplan hat sich bewährt

Das öffentliche Verkehrsangebot wurde jahrzehntelang mit einem klaren Fokus auf die Stosszeiten von Montag bis Freitag ausgebaut. Angesichts der bis vor zehn Jahren weitgehend synchronen Alltagsrhythmen der Schweizer Bevölkerung war diese Ausrichtung gerechtfertigt. Heute aber müssen die Verkehrsbetriebe nach neuen Lösungen suchen, um der weniger repetitiven und immer vielfältigeren Mobilität gerecht zu werden – ohne dabei allerdings das bestehende Verkehrsangebot zu schmälern.

In den letzten vierzig Jahren hat sich der stündliche Taktfahrplan bewährt. Die Züge fahren jede Stunde zu den gleichen Zeiten am gleichen Ort ein und ab. Der Taktfahrplan ermöglicht eine effiziente Nutzung des Schienennetzes, vermittelt den Reisenden Zuverlässigkeit und Konstanz und optimiert die Anschlüsse an den Anschlussknoten. Ein Reisender aus Lausanne hat zum Beispiel nach seiner Ankunft im Bahnhof Bern 8 bzw. 10 Minuten später einen Anschluss nach Thun oder Basel. Dieser Taktfahrplan muss unbedingt beibehalten werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass wir in der Schweiz dank optimaler Anschlüsse, die den Verkehrsfluss garantieren, weiterhin zügig überall hingelangen.

Angebot an neue Mobilitätsbedürfnisse anpassen

Das Prinzip eines Taktfahrplans für die Grundversorgung, das bei erhöhtem Verkehrsaufkommen durch Extrazüge verstärkt wird, gibt es seit 1982. Die Herausforderung für die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) besteht heute darin, ihr Angebot so anzupassen, dass der stark gewachsene Freizeitverkehr aufgefangen wird. Allein im Gotthard-Basistunnel ist der Personenverkehr in den letzten Jahren massiv gestiegen (+50% im ersten Halbjahr 2023 gegenüber dem ersten Halbjahr 2019[8]). Beispiele für gelungene Anpassungen sind die dieses Jahr an den Wochenenden eingeführten Direktzüge zwischen Genf und Chur, die Verbindung um 4.33 Uhr morgens von Zürich-Hauptbahnhof zum Flughafen Zürich und der «Verbier Express» zwischen dem Flughafen Genf und Le Châble, von wo aus man mit der Gondel nach Verbier kommt. Vorbildhaft sind auch die Bemühungen der SBB, das Nachtzug-Angebot in Zusammenarbeit mit den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) weiter auszubauen, insbesondere mit den neuen Verbindungen nach Amsterdam und Dresden. Mit diesen Lösungen wird effizient auf die aktuelle Nachfrageentwicklung reagiert. Dennoch braucht es weitere saisonabhängige Direktverbindungen von den Wohnorten der Bevölkerung zu beliebten Reisezielen im In- und Ausland sowie ein grösseres Nachtzug-Angebot.

Die Schweiz investiert jedes Jahr eine Milliarde Franken in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Damit das Angebot den neuen Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung gerecht wird, muss es entsprechend angepasst werden. Mit der Verdichtung des Taktfahrplans allein ist dies nicht getan. Die Verkehrsbetriebe müssen ihre Destinationen und ihre Fahrpläne neu überdenken. Wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Angebot auf den Freizeitverkehr und die veränderten Mobilitätsansprüche auszurichten, verpassen sie bald den Anschluss an das Auto. Denn dieses bietet einen Tür-zu-Tür-Service und passt sich den neuen Bedürfnissen rasch an.

  1. Siehe Ravalet et al. (2023a). []
  2. Siehe Ravalet et al. (2023b). []
  3. Digitale Nomadinnen sind mobile Erwerbstätige, die dank digitalen Technologien ortsunabhängig überall auf der Welt arbeiten können. []
  4. Mehr Informationen auf der Website des Bundesamtes für Statistik[]
  5. Siehe Chênevert et al. (2023). []
  6. Siehe die Website Social Change in Switzerland sowie die Arbeitsvolumenstatistik (Avol) des Bundesamtes für Statistik. []
  7. Siehe Verkehrsperspektiven 2050 auf der Website des Bundesamtes für Raumentwicklung (ARE). []
  8. Siehe Hochrechnung Personenverkehr HOP, Angebotsplanung Personenverkehr[]

Literaturverzeichnis
  • Chênevert D., D. Giauque, E. Abord de chatillon, N. Delobbe und E. Vayre (2023). Du télétravail à l’hybridité: une nouvelle manière de penser la gestion de nos organisations? Revue internationale de psychosociologie et de gestion des comportements organisationnels, 29(77), 5–22.
  • Ravalet E., Y. Dubois und D. Mermoud (2023a). La complexification des modes de vie: Quelles conséquences sur la demande de transport? Application sur les mobilités liées au travail en Suisse. Mobil’homme-Studie im Auftrag der SBB.
  • Ravalet E., L. Hostettler Macias und P. Rérat (2023b). Télétravail et mobilité, peut-on vraiment parler d’effets-rebonds? 5ème Rencontres francophones Transports Mobilité, Dijon, 7.–9. Juni 2023.

Bibliographie
  • Chênevert D., D. Giauque, E. Abord de chatillon, N. Delobbe und E. Vayre (2023). Du télétravail à l’hybridité: une nouvelle manière de penser la gestion de nos organisations? Revue internationale de psychosociologie et de gestion des comportements organisationnels, 29(77), 5–22.
  • Ravalet E., Y. Dubois und D. Mermoud (2023a). La complexification des modes de vie: Quelles conséquences sur la demande de transport? Application sur les mobilités liées au travail en Suisse. Mobil’homme-Studie im Auftrag der SBB.
  • Ravalet E., L. Hostettler Macias und P. Rérat (2023b). Télétravail et mobilité, peut-on vraiment parler d’effets-rebonds? 5ème Rencontres francophones Transports Mobilité, Dijon, 7.–9. Juni 2023.

Zitiervorschlag: Emmanuel Ravalet, Yann Dubois, Diego Mermoud, Vincent Kaufmann (2023). Freizeitmobilität boomt: Die SBB sind gefordert. Die Volkswirtschaft, 24. August.