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Warum Jugendliche ihre Lehrverträge auflösen

In der Schweiz werden über 20 Prozent der Lehrverträge in der beruflichen Grundbildung aufgelöst. Doch die meisten Jugendlichen wechseln den Betrieb oder den Beruf – und nur wenige sind Dropouts.
Je besser ein Betrieb seine Lernenden einführt, desto seltener lösen Jugendliche den Lehrvertrag auf. Eine angehende Coiffeuse übt an einer Puppe. (Bild: Keystone)

Gemäss Bundesamt für Statistik werden 22 Prozent der Lehrverträge, die Jugendliche in der Grundbildung abschliessen, aufgelöst. Populationsdaten zeigen: Die Quote der aufgelösten Lehrverträge unterscheidet sich stark zwischen den Berufen. Jugendliche mit Migrationshintergrund oder in einer Ausbildung mit Attest (EBA) haben ein höheres Risiko, dass ihr Lehrvertrag aufgelöst wird. Lehrvertragsauflösungen sind im ersten Ausbildungsjahr am häufigsten. Jugendliche, die die Ausbildung nicht fortsetzen (Dropouts), haben ein erhöhtes Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko[1]. Ihre berufliche und psychosoziale Entwicklung ist gefährdet[2]. Eine Längsschnittstudie im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) beschäftigt sich mit dem Übergang Jugendlicher von der Schule ins Erwerbsleben (siehe Kasten) und ermöglicht einen genaueren Blick.

13 Prozent sind Dropouts

Bei rund 80 Prozent der Lehrvertragsauflösungen wird später die Ausbildung fortgesetzt. Der Unterbruch kann einen Monat oder auch länger als ein Jahr dauern. Dies veranschaulicht: Nicht lineare Bildungsverläufe mit Unterbrüchen, Verzögerungen oder Umwegen sind häufiger geworden. Sie werden von der Gesellschaft inzwischen weniger kritisch bewertet, weil damit neue Erfahrungen verbunden sind.

Jugendliche mit Unterbrüchen wechseln entweder den Betrieb oder den Beruf. Der Befund der erwähnten Studie zeigt: 33 Prozent der Jugendlichen wechselten nach der Lehrvertragsauflösung den Betrieb und 54 Prozent den Beruf. 13 Prozent waren sogenannte Dropouts.

Berufs- oder Betriebswechsel

Die Ergebnisse zeigen, dass die Auflösung von Lehrverträgen ein heterogenes Phänomen ist. Berufswechsel hängen stark davon ab, ob Lernende während des Ausbildungsprozesses die Absicht hegten, den Vertrag aufzulösen. Wenn Jugendliche zu Beginn der Lehre unsicher sind, ob sie einen passenden Beruf ausgewählt haben, erwägen sie wiederum eher einen Berufswechsel. Lernende sind dann unsicher bezüglich ihrer Berufswahl, wenn sie das Gefühl haben, ihre eigenen Interessen und Fähigkeiten passten nicht zum Beruf. Lehrvertragsauflösungen mit Berufswechsel hängen überdies von einer geringen Lernmotivation im neunten Schuljahr ab – und davon, ob die Jugendlichen ihre Leistungen im ersten Ausbildungsjahr als nicht ausreichend beurteilen.

Der Betriebswechsel hingegen hängt nicht damit zusammen, ob eine Person vorgängig die Absicht hat, den Vertrag aufzulösen. Hieraus schliessen wir, dass er eher vom Betrieb initiiert wird. Ein Betriebswechsel wird überdies eher vorhergesagt, wenn die Motivation im neunten Schuljahr vergleichsweise gering ist und die Leistungen im ersten Ausbildungsjahr selbst als eher tief beurteilt werden.

Wann passt die Person zum Beruf?

Jugendliche wählen idealerweise einen Beruf und einen Betrieb, der möglichst gut zu ihren Fähigkeiten, Interessen und zur Persönlichkeit passt. Studien zeigen, dass sich Jugendliche in einer für sie passenden Umwelt gut entwickeln können. Je besser die berufliche Ausbildung passt, desto motivierter und zufriedener sind sie und desto bessere Leistungen zeigen sie[3]. Unsere längsschnittlichen Befunde veranschaulichen, dass eine hohe Passung zwischen der beruflichen Umwelt und den eigenen Interessen und Fähigkeiten im ersten Ausbildungsjahr die Absicht, einen Berufswechsel zu vollziehen, reduziert.

Ob Jugendliche den Beruf als passend empfinden, wird erstens von den Strategien beeinflusst, die der Betrieb in der Einführungsphase verfolgt. Wenn Betriebe ihre Lernenden zu Beginn strukturiert einführen und regelmässig förderliche Rückmeldungen geben, können sich Jugendliche eher integrieren – die Passungswahrnehmung nimmt zu. Zweitens begünstigt eine gute Selbstbeurteilung der betrieblichen Leistungen durch die Jugendlichen die Passungswahrnehmung. Drittens spielt die Berufswahl der Jugendlichen beziehungsweise die betriebliche Selektion eine Rolle. Wenn Jugendliche im neunten Schuljahr einen Beruf wählen, von dem sie erwarten, dass er zu ihren Interessen und Fähigkeiten passt, werden sie nach dem eigentlichen Stellenantritt ein Jahr später ihren Beruf als passender wahrnehmen. Überdies können die Lehrbetriebe mittels einer Personalselektion Jugendlichen einen Ausbildungsplatz vergeben, der den beruflichen und betrieblichen Anforderungen bestmöglich entspricht.

Ziel: Quote der Dropouts senken

Lehrvertragsauflösungen sind recht häufig. Dies muss nicht auf eine Krise der beruflichen Grundbildung hindeuten. Vielmehr sind nicht lineare Ausbildungsverläufe Ausdruck von Flexibilität und Durchlässigkeit. Gleichwohl sind Auflösungen von Lehrverträgen nicht unproblematisch, weil die Investitionen der Jugendlichen und der Ausbildungsbetriebe nicht effizient eingesetzt werden. Zukünftig sollte auf die Jugendlichen fokussiert werden, die ihre Ausbildung nach der Lehrvertragsauflösung nicht fortsetzen: Ihr Arbeitslosigkeitsrisiko ist erhöht, und ihre Arbeitsmarktchancen sind eingeschränkt. Das Case-Management Berufsbildung in der Schweiz ist eingeladen, mitzudenken, wie die Dropout-Quote reduziert werden könnte.

  1. Falter, J. M. (2012). Der Übergang von der Schule ins Erwerbsleben aus bildungsökonomischer Sicht. In M. M. Bergman, S. Hupka-Brunner, T. Meyer und R. Samuel (Hrsg.), Bildung – Arbeit – Erwachsenwerden (S. 113–132). Springer Fachmedien. []
  2. Süss, D., M. P. Neuenschwander und J. Dumont (1996). Lehrabbruch, Gesundheitsprobleme und deviantes Verhalten im Jugendalter (Forschungsbericht Nr. 1996-4). Institut für Psychologie der Universität Bern. []
  3. Neuenschwander, M. P., M. Gerber, N. Frank und B. Rottermann (2012). Schule und Beruf: Wege in die Erwerbstätigkeit. VS-Verlag. []

Literaturverzeichnis

http://www.fhnw.ch/ph/wisel


Bibliographie

http://www.fhnw.ch/ph/wisel

Zitiervorschlag: Markus P. Neuenschwander, Stefanie Findeisen, Lukas Ramseier (2023). Warum Jugendliche ihre Lehrverträge auflösen. Die Volkswirtschaft, 15. August.

Wisel-Studie

Die Längsschnittstudie «Wirkungen der Selektion» (Wisel) wurde 2011 gestartet. Der Schweizerische Nationalfonds und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation finanzierten sie. Die Studie begann mit der Beobachtung von rund 1700 Jugendlichen aus den Kantonen Bern, Luzern, Aargau, Basel-Landschaft im 5. Schuljahr, die im 6., 7., 9. Schuljahr sowie im 1. und 5. Jahr nach Schulaustritt erneut kontaktiert wurden. Daraus entstand eine für die Schweiz einzigartige schulbasierte Längsschnittstudie. Sie erlaubt, die Entwicklungsprozesse und Bildungsverläufe von der Primarstufe bis in die Erwerbstätigkeit in einer Langzeitperspektive zu analysieren. Die in diesem Artikel berichteten Ergebnisse können auch hier nachgelesen werden.