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Zusatzversicherungen tragen zu mehr Spitalaufenthalten bei

Die Gesundheitsausgaben in der Schweiz steigen laufend. Wie eine Studie zeigt, können Zusatzversicherungen zu einer Zunahme von Spitalleistungen führen – insbesondere im Bereich der Orthopädie.
Wer eine Zusatzversicherung hat, erhält im Spital mehr medizinische Leistungen. (Bild: Keystone)

Im Jahr 2020 beliefen sich die Gesundheitsausgaben in der Schweiz auf 83,3 Milliarden Franken oder 804 Franken pro Person und Monat.[1] Dies entspricht 11,8 Prozent des Schweizer Bruttoinlandprodukts (BIP) – und somit dem vierthöchsten Wert zu laufenden Preisen in ganz Europa. Verantwortlich für den anhaltenden Aufwärtstrend ist das Zusammenspiel aus demografischer Alterung und medizinischem Fortschritt mit immer mehr innovativen, teuren Leistungen. Die steigenden Gesundheitskosten wirken sich über höhere Krankenkassenprämien direkt auf die Kaufkraft der Haushalte aus, aber auch auf die öffentlichen Finanzen. Die Eindämmung der Gesundheitsausgaben ist daher für alle grossen Volkswirtschaften ein zentrales Thema.

Die nicht obligatorische Zusatzversicherung deckt unter anderem die Kosten eines Spitalaufenthalts in der (halb)privaten Abteilung.[2] Die Versicherten haben damit Anspruch auf eine freie Arztwahl in allen Schweizer Spitälern sowie auf ein Einzelzimmer in der privaten Abteilung (bzw. ein Doppelzimmer in der halbprivaten Abteilung). Der Abschluss einer solchen Zusatzversicherung verändert die Anreize sowohl auf der Seite der Leistungserbringer als auch der Versicherten.

Leistungserbringer kurbeln Nachfrage an

Wie alle Wirtschaftsakteure maximieren auch medizinische Leistungserbringer ihre Einnahmen. In gewissen Vergütungssystemen, zum Beispiel bei der Einzelleistungsvergütung, bei der die Ärzte für jede durchgeführte medizinische Handlung bezahlt werden, können finanzielle Überlegungen dazu führen, dass sie ihren Patienten zusätzliche oder lukrativere Behandlungen empfehlen. Diese finanziellen Anreize entstehen aufgrund asymmetrischer Information, bei der die Ärzte über mehr Informationen zu den verfügbaren Behandlungen und zum Gesundheitszustand ihrer Patienten verfügen als diese selbst. Die Patienten vertrauen folglich dem ärztlichen Fachwissen und befolgen dessen Empfehlungen. Die vom Leistungserbringer ausgelöste Nachfrage kann dazu führen, dass nicht zwingend nötige, aber für Ärzte und Spitäler lukrative medizinische Behandlungen durchgeführt werden.[3]

Eine vom Eidgenössischen Departement des Innern beauftragte internationale Expertengruppe kam 2017 ebenfalls zum Schluss, dass von der Zusatzversicherung vergütete hohe Beträge insbesondere bei stationären Behandlungen in Spitälern Anreize für unnötige Leistungen bieten können.[4]

Es gibt also Grund, anzunehmen, dass Patienten mit Zusatzversicherung, die im Spital die Privatabteilung in Anspruch nehmen können, für Schweizer Spitäler und die Ärzteschaft finanziell attraktiver sind als Patienten, die nur über eine Grundversicherung verfügen.[5] Wenn gewisse Eingriffe tatsächlich aufgrund finanzieller Anreize durch eine Zusatzversicherung durchgeführt werden, belastet dies auch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP). Denn diese übernimmt systematisch einen Teil der Kosten eines medizinischen Eingriffs. Angesichts der steigenden Gesundheitskosten wäre es deshalb angezeigt, solche Fehlanreize zu beseitigen.

Moral Hazard bei Patienten

Auf Patientenseite werden die Anreize durch die Kostenteilung mit der Krankenversicherung und die asymmetrischen Informationen zwischen Patienten und Versicherern beeinflusst. Von Moral Hazard kann dann gesprochen werden, wenn die Zusatzversicherung eine höhere Nachfrage nach Leistungen schafft, weil die Patienten sich weniger stark an den Kosten beteiligen müssen. Da der Abschluss einer Zusatzversicherung den Katalog und die Höhe der kofinanzierten Leistungen erweitert, schafft das Anreize für die Patienten, mehr medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen.

Bestimmte nicht dringende Leistungen nehmen zu

Nehmen Patienten mit Zusatzversicherung also tatsächlich mehr Spitalleistungen in Anspruch? Und wenn ja, in welchen medizinischen Bereichen? Um dies zu beantworten, hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Hospitalisierungsraten (Anzahl Fälle[6]/Wohnbevölkerung) für alle Eingriffe (gemäss DRG- und SPLG-Klassifikationen[7]) und für alle Patientengruppen (Grund- und Zusatzversicherte) berechnet. Anhand der Differenz zwischen den risikobereinigten Hospitalisierungsraten dieser beiden Patientengruppen lässt sich der Leistungsüberschuss von Patienten mit Zusatzversicherung schätzen (siehe Kasten).

Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen die erste Analyse des BAG aus dem Jahr 2016[8]: Orthopädische Leistungen, das heisst Leistungen, die mehrheitlich zur Gruppe der elektiven (nicht dringenden) stationären Akutbehandlungen gehören, werden bei Zusatzversicherten öfter erbracht. Auch bei Kaiserschnitten ist ein starker Leistungsüberhang (289) bei Zusatzversicherten zu verzeichnen (siehe Tabelle).

Detailliertere Analysen zeigen, dass der potenzielle Leistungsüberschuss bei Personen mit Zusatzversicherung umso höher ist, je elektiver eine Leistung ist. Dies bestätigt die Hypothese, dass finanzielle Anreize einer der Hauptgründe für medizinische Leistungsüberschüsse sind. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass finanzielle Anreize bei allen Eingriffsarten die Hauptursache für den Leistungsüberhang sind, denn dafür müssten die Eingriffe einzeln analysiert werden. Das Hauptziel der vom BAG durchgeführten Studie bestand jedoch darin, einen allgemeinen Überblick zu bieten, ohne auf die einzelnen medizinischen Fallgruppen einzugehen.

Ziel: Regulierung ohne Qualitätseinbusse

Die beiden durchgeführten Studien bestätigen, dass medizinische Leistungsüberschüsse bei Patienten mit Zusatzversicherung tatsächlich bestehen. Zur Eindämmung der Gesundheitskosten müssten diese überschüssigen chirurgischen Eingriffe beseitigt werden. Denn die OKP übernimmt einen Teil der dadurch verursachten medizinischen Kosten.

Allerdings gilt es dabei zu beachten: Gesundheit ist ein sogenanntes superiores Gut, dessen Konsum mit steigendem Wohlstand zunimmt, weil die Menschen mehr Mittel dafür aufwenden können. Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt und verfügt über ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem mit ausgezeichneten Leistungen, insbesondere dank der Erfahrungen, die bei der Durchführung zahlreicher chirurgischer Eingriffe gesammelt wurden. Finanzielle Anreize, die zur Durchführung zusätzlicher Eingriffe ermutigen, können daher auch als vorteilhaft für das Gesundheitssystem angesehen werden. Und entsprechend kann man höhere Gesundheitskosten als Ausdruck einer besseren Lebensqualität verstehen. Nicht zu vergessen ist zudem, dass der Gesundheitssektor aus wirtschaftlicher Sicht Wachstum bringt und zu einer prosperierenden, modernen Volkswirtschaft beiträgt.

Medizinische Leistungen mit den höchsten Überhängen bei Zusatzversicherten (2017)

Fallgruppen (nach SwissDRG) Standardisierte Hospitalisierungsrate je 100’000 Einwohner Leistungsüberhang*
Allgemeinversicherte Zusatzversicherte
Komplexe Eingriffe am Kniegelenk, Alter > 15 Jahre 123,18 192,82 1392
Arthroskopie einschliesslich Biopsie oder andere Eingriffe an Knochen oder Gelenken, Alter > 15 Jahre 278,51 341,27 1254
Bestimmte Eingriffe ausser an Hüftgelenk und Femur, Alter > 9 Jahre 90,14 142,91 1055
Plastische Operationen an Haut, Unterhaut und Mamma 29,02 61,35 646
Eingriffe am Weichteilgewebe 130,06 156,16 522
Eingriffe an der Mamma ausser bei bösartiger Neubildung mit ausgedehntem Eingriff

21,60

42,92 426
Eingriffe am Fuss mit komplexem Eingriff oder komplexer Diagnose, mit schwerem Weichteilschaden, Alter > 15 Jahre oder bestimmter Eingriff, Kalkaneusfraktur oder komplizierender Diagnose 41,90 59,21 346
Invasive kardiologische Diagnostik ausser bei akutem Myokardinfarkt, ein Belegungstag

93,78

108,76 299
Sectio caesarea, Schwangerschaftsdauer >33 vollendete Wochen 138,27 152,74 289
Eingriffe an Handgelenk und Hand mit mässig komplexem Eingriff, Alter > 5 Jahre 43,95 57,63 273
Eingriffe an Humerus, Tibia, Fibula und Sprunggelenk mit komplizierendem Eingriff, Alter > 15 Jahre 87,47 101,10 272
Andere rekonstruktive Eingriffe an den weiblichen Geschlechtsorganen oder Myomenukleation 47,33 59,08 235
Eingriff an Kornea 11,92 23,00 221
Komplexe Eingriffe am Schultergelenk 198,01 207,09 181
Eingriffe an Handgelenk und Hand, Alter < 6 Jahre oder mit komplexem Eingriff 9,74 17,52 155
* Der Leistungsüberhang berechnet sich wie folgt: Differenz Hospitalisierungsraten * Anzahl Zusatzversicherte je 100’000 Einwohner (=19,98726 Zusatzversicherte)
Quelle: Eigene Berechnungen der Autoren
  1. Siehe Bundesamt für Statistik (2023). []
  2. Zur Vereinfachung werden diese zwei Kategorien im weiteren Verlauf des Artikels als «Privatabteilung» bezeichnet. []
  3. Siehe Evans R. (1974). []
  4. Siehe Bundesamt für Gesundheit (2017), S. 77–79 und Botschaft des Bundesrates vom 21. August 2019. []
  5. Siehe Eidgenössische Finanzkontrolle (2021). []
  6. Die Anzahl Fälle pro DRG/SPLG stammt aus der vom BFS veröffentlichten Medizinischen Statistik der Krankenhäuser 2017 (aktuellste verfügbare Daten). Berücksichtigt werden nur die Spitalaustritte nach akutsomatischen Behandlungen von Personen ab dem vollendeten 14. Lebensjahr, wie dies bei der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) 2017 des BFS der Fall war. So konnte nach Altersgruppe bestimmt werden, welcher Anteil der Wohnbevölkerung eine Zusatzversicherung für einen Spitalaufenthalt in der Privatabteilung hat. []
  7. Nach der Klassifikation der diagnosebezogenen Fallgruppen (SwissDRG Version 6.0) und der Spitalplanungs-Leistungsgruppen (SPLG). []
  8. Überhang in der stationären Leistungserbringung zugunsten der Zusatzversicherten, 2016[]

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Kris Haslebacher, Tjaša Maillard-Bjedov, Claude Vuffray (2023). Zusatzversicherungen tragen zu mehr Spitalaufenthalten bei. Die Volkswirtschaft, 22. August.

Die Studie im Detail

Für die Studie stützte sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf die Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB) 2017 des Bundesamts für Statistik sowie auf die Medizinische Statistik der Krankenhäuser (MedStat) 2017. Auf dieser Basis wurde für die gesamte Schweiz die Zahl der allgemein, halbprivat oder privat versicherten Personen extrapoliert. Da das Alter ein wichtiger Faktor für die Häufigkeit von Erkrankungsfällen ist, wurden die errechneten Hospitalisierungsraten (Anzahl Fälle / Wohnbevölkerung) altersstandardisiert. Um die potenzielle Über- oder Unterversorgung der Zusatzversicherten nach Art der Eingriffe zu bestimmen, berechneten die Autoren die Differenz zwischen den Hospitalisierungsraten der allgemein bzw. der zusatzversicherten Personen für jede Gruppe von Eingriffen (gemäss den SwissDRG- und SPLG-Klassifizierungen). Diese Differenz zwischen den Raten wurde dann mit der für die Gruppe der zusatzversicherten Patienten ermittelten Population multipliziert, um den absoluten Leistungsüberschuss zugunsten (oder zuungunsten) dieser Gruppe zu berechnen, d. h. den Anteil der tatsächlichen Hospitalisierungen, die theoretisch vermieden werden könnten, wenn alle Patienten nur allgemein versichert wären.

Die Analyse stösst an drei Grenzen. Erstens hatten die Autoren keinen Zugang zu gewissen wichtigen Variablen wie dem Einkommen, das mit der Häufigkeit von Erkrankungsfällena und der Inanspruchnahme von Zusatzversicherungen korreliert. Zweitens wurde ein im Spital getroffener Entscheid für einen Wechsel in eine höhere Abteilung nicht berücksichtigt. Und schliesslich wurden fehlende Antworten oder andere Modelle von Spitalzusatzversicherungen aus der SGB proportional umverteilt unter der Annahme, dass diese Verteilung die Schätzungen nicht verzerrt.

a Siehe Broschüre: Chancengleichheit und Gesundheit – Zahlen und Fakten für die Schweiz