
Boris Zürcher in seinem Büro im Staatssekretariat für Wirtschaft: «Die Generation Z hat das Glück, in eine ausserordentlich günstige Arbeitsmarktsituation hineinzukommen.» (Bild: Anthony Anex / Keystone)
Ich glaube nicht. Dafür verstehe ich zu wenig in einem bestimmten Gebiet (lacht). Wobei, wenn man die üblichen Kriterien anwendet, gehöre ich als Führungskraft wohl schon dazu. Fachkräfte sind in der Regel qualifizierte Personen, beispielsweise mit Berufslehre, höherer Berufsbildung oder tertiär ausgebildet. Sie arbeiten fachlich orientiert. Eine offizielle Definition des Begriffs wäre mir aber nicht bekannt.
Das Gegenteil wäre «verheerend» – ein Überfluss an Fachkräften. Die Fachkräfte werden in der Schweiz nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausgebildet. Das ist eine wesentliche Stärke unseres Bildungssystems. Und es zeigt sich, sie werden gebraucht und entsprechend im Arbeitsmarkt eingesetzt. Wäre dem anders, würde unser Bildungswesen systematisch am Bedarf des Arbeitsmarktes vorbeiproduzieren. Das wäre schlecht und könnte zu erhöhter Arbeitslosigkeit führen.
Es ist keine staatliche Aufgabe, Unternehmen produktiver zu machen. Fachkräfte zu akquirieren und zu behalten ist eine genuin unternehmerische Aufgabe. Im Seco arbeiten wir aber gemeinsam mit anderen Bundesstellen an den Rahmenbedingungen, dies beispielsweise im Bereich der Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Steuer- oder Innovationspolitik.
Der gegenwärtige Fachkräftemangel ist vor allem konjunkturell bedingt und wird daher nicht ewig anhalten.
Der gegenwärtige Fachkräftemangel ist ein genereller Arbeitskräftemangel. Er ist vor allem konjunkturell bedingt und wird daher nicht ewig anhalten. In unserer Arbeit fokussieren wir dagegen eher auf den strukturellen Fachkräftemangel. Und im Kontext der Arbeitslosigkeit darauf, die Kompetenzen der Stellensuchenden mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes in Übereinstimmung zu bringen.
Ja. Die Wende in Bezug auf das inländische Arbeitskräfteangebot hat vor zwei, drei Jahren stattgefunden. Seither erreichen mehr Erwerbstätige das Rentenalter, als junge nachrücken. Das heisst, die Bevölkerung im Erwerbsalter in der Schweiz würde ohne Zuwanderung schrumpfen. Kennen Sie das Bild der Schlange im «Kleinen Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry, die einen Elefanten schluckt? Die Babyboomer sind der Elefant, der sich durch die Schlange wälzt.
Die Schweiz zählt heute eine um mehr als 40 Prozent höhere Bevölkerung als Mitte der Sechzigerjahre. Damals wurden mehr als 110’000 Kinder jährlich geboren, so viele wie später nie mehr. Eine typische Geburtskohorte zählt heute knapp 90’000 Babys. Der Anteil der über 55-Jährigen im Arbeitsmarkt hat zudem seit 2010 von rund einem Siebtel auf heute fast einen Fünftel zugenommen. Das sind grosse Verschiebungen.
Aktuell ist klar die Konjunktur der wichtigste Treiber des Fachkräftemangels. Wir sehen Nachholeffekte im Zuge der Pandemie und eine ausserordentlich gut laufende Binnenkonjunktur mit einem bis im zweiten Quartal weiterhin hohen Wachstum der Erwerbstätigkeit von 2,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dann haben wir beispielsweise in den Mint- und Gesundheitsberufen seit mehreren Jahren schon einen strukturellen Fachkräftemangel. Und schliesslich spielt ein Wohlstandseffekt bezüglich des Erwerbsverhaltens mit hinein. Wir haben in der Schweiz eine sehr hohe Erwerbsbeteiligung erreicht, die sich nicht so leicht steigern lässt.
Die Erwerbsbeteiligung der Frauen steigt und im Durchschnitt erhöhen die Teilzeiterwerbstätigen ihre Pensen sogar leicht. Sie kompensieren unter anderem auch eine Entwicklung bei den Männern, bei welchen es ausgehend von einem tiefen Niveau eine Zunahme der Teilzeitarbeit gibt. Insgesamt steigt das Arbeitsvolumen nach wie vor.
Offiziell spricht man in der Schweiz bei einem Arbeitspensum von unter 90 Prozent von Teilzeit. Ich persönlich setze sie bei unter 80 Prozent an, denn ein Vollzeitpensum in der EU entspricht von den geleisteten Arbeitsstunden her etwa einem 90-Prozent-Pensum in der Schweiz. Die Arbeitszeit nimmt seit der Industrialisierung laufend ab, das ist ein Wohlstandseffekt. Idealerweise gilt: Die Menschen sollen so viel arbeiten, wie sie es sich wünschen. Arbeitsstellen, die auf Wunsch auch im Teilzeitpensum verrichtet werden können, erhöhen diese Wahlfreiheit.
Schön wäre das. Technischer Fortschritt führt zu Wirtschaftswachstum und zu wirtschaftlichem Strukturwandel – und macht uns letztlich produktiver und reicher. Das ist zu begrüssen. Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass uns künstliche Intelligenz arbeitslos machen wird. KI und Roboter werden uns nicht die Arbeit abnehmen, sondern sie ergänzen und machen uns produktiver. Ich sehe die KI als einen Aspekt der Digitalisierung und diese begleitet uns schon seit Jahrzehnten.
Es gibt zwei Möglichkeiten eines Beschäftigungszuwachses: Die inländische Bevölkerung wächst oder erhöht ihr Arbeitspensum – oder es gibt mehr Zuwanderung. Zum Zuwachs der Erwerbstätigkeit von 2,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr hat die Schweizer Bevölkerung beispielsweise weniger als die Hälfte beigesteuert. Mehr als die Hälfte geht auf Ausländer und Ausländerinnen zurück – einerseits auf solche, die bereits hier waren, andererseits aber auch auf neu Zugewanderte. Persönlich sehe ich das als Chance: Die Schweiz kann ihre Lücke mit ausländischen Arbeitskräften schliessen. Mithin ist die Zuwanderung also auch hier ergänzend: Die Zugewanderten verdrängen die Schweizerinnen und Schweizer nicht, sondern ergänzen sie in jenen Bereichen, in denen wir Beschäftigungswachstum haben.
…ja, ich kann das auch verstehen. Die Zuwanderung ist aktuell doch sehr hoch, eben wesentlich auch konjunkturell getrieben. Aber man muss sich zurückerinnern: Im geburtsstarken Jahr 1964 war das natürliche Bevölkerungswachstum – also durch Geburten – viel grösser als das, was wir heute an Zuwanderung haben. Schulhäuser und Kliniken wurden gebaut, die Infrastruktur wurde ausgebaut. Kein Mensch beschwerte sich, dass uns dies Wohlstand koste – im Gegenteil: Man rechnete mit zukünftigem Wohlstand. Heute ersetzen wir die fehlenden Geburten durch Zuwanderung – welche die Schweiz nota bene unterdurchschnittlich belastet.
Weil die Ausländerinnen und Ausländer wegen der Arbeit einwandern und ihre Ausbildung im Ausland absolviert haben, ohne dass wir dafür zahlen mussten. Ein erheblicher Teil von ihnen wandert nach einigen Jahren auch in ein anderes Land weiter oder wieder zurück. Die Migration reagiert auf Veränderungen in der Nachfrage der Unternehmen.
Boris Zürcher im Seco, Bern. (Bild: Anthony Anex / Keystone)
Wir hatten seit über 20 Jahren nicht mehr eine so tiefe Arbeitslosenquote wie heute. Tatsächlich herrscht praktisch Vollbeschäftigung und das ist sehr erfreulich! Wie gesagt, sind die tiefen Quoten überwiegend konjunkturell bedingt. Die Schweiz hat traditionell eine tiefe Arbeitslosenquote. Aber unqualifizierte Arbeitskräfte werden auch in Zukunft Mühe haben, einen stabilen Job zu finden.
Die Löhne steigen ja ziemlich im Gleichschritt mit den Produktivitätszuwächsen. Nur waren die letzten paar Jahre wirtschaftlich sehr anspruchsvoll, ich denke etwa an die Corona-Pandemie. Ich kann bloss feststellen: Nur bei den Löhnen anzusetzen, reicht wohl nicht aus. Es müssten vielmehr alle Arbeitsbedingungen angegangen werden. Das Arbeitsrecht bietet den Unternehmen im «War for Talents» einen grossen Handlungsspielraum. Unser liberales Arbeitsrecht erweist sich hier im internationalen Vergleich sicherlich als ein Vorteil bei der Rekrutierung von Fachkräften.
Wenn die Konjunktur weiter so bleibt wie jetzt, dann sicher ja. Aber eine Kuh, die keine Milch gibt, kann man nicht melken. Wir brauchen also weiterhin Wirtschaftswachstum und Produktivitätsfortschritte. Wir dürfen auch nicht vergessen: In den Jahren der Pandemie wurden viel weniger Arbeitsstunden geleistet, und auch die Unternehmen haben gelitten.
Auch die Arbeitgeber können ihre Arbeitsbedingungen noch familienfreundlicher gestalten.
Da gibt es sicher noch Potenziale. Aber ich fürchte, diese werden teilweise etwas überschätzt. Erstens sind die Frauen heute schon zu grossen Teilen erwerbstätig und zweitens steigen ihre Pensen laufend an. Sicher gibt es noch Verbesserungspotenzial bei den Rahmenbedingungen, man denke etwa an die hohen Steuersätze für Zweitverdienende. Auch die Arbeitgeber können ihre Arbeitsbedingungen noch familienfreundlicher gestalten. Bei den Pensionierten gibt es ebenfalls noch Potenzial, doch auch hier gilt: Wenn man es ausschöpfen will, ist dies mit Kosten verbunden.
Meiner Ansicht nach unterscheidet sie sich überhaupt nicht von früheren Generationen. Spätestens seit den 1968ern wissen wir, dass die Jugend etwas aufsässiger und nonkonformistischer ist. Möglicherweise wird ihre Stimme heute ernster genommen. Aber die Generation Z hat das Glück, in eine ausserordentlich günstige Arbeitsmarktsituation hineinzukommen. Dies wird sich lohnmässig durch ihr ganzes Leben ziehen: Untersuchungen zeigen, dass jene, die in einer Rezession in die Arbeitswelt eintreten, über ihr ganzes Erwerbsleben einen Lohnnachteil haben werden. Aber letztlich wird auch die Generation Z für ihr Einkommen arbeiten und sich an die betrieblichen Erfordernisse anpassen müssen, wenn sie eine gute Anstellung wollen.
Auch das ist natürlich ein erfreuliches Wohlstandsphänomen, dass wir heute an die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit höhere Ansprüche stellen dürfen als noch vor zwanzig Jahren. Doch auch früher hatte man den Wunsch, sein Leben mit einer sinnhaften Arbeit zu verbringen. Heute haben wir den Vorteil, dass der Arbeitsmarkt viel mehr Stellen anbietet, welche die eigene Entfaltung und attraktive Karrieren ermöglichen. Die klassische Fabrikarbeit gibt es kaum noch.
Es ist zweifellos ein grosses Privileg, in einem Bereich arbeiten zu dürfen, der viele Leute betrifft und bewegt: Mindestens ein Drittel unseres Lebens besteht aus Arbeit. Das spüre ich jeden Tag. Wenn ich mich beispielsweise öffentlich zur Arbeit äussere, erhalte ich unmittelbar Reaktionen – positive und negative.
Zitiervorschlag: Interview mit Boris Zürcher, Staatssekretariat für Wirtschaft (2023). «Persönlich sehe ich die Zuwanderung als Chance». Die Volkswirtschaft, 11. September.
Seit August 2013 leitet Boris Zürcher die Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Zuvor war er Chefökonom und Direktor des unabhängigen Forschungsinstituts BAK Basel Economics in Basel. Auf seinem beruflichen Werdegang war der 59-jährige Ökonom wirtschaftspolitischer Berater der Bundesräte Pascal Couchepin, Joseph Deiss und der Bundesrätin Doris Leuthard im damaligen Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement. Boris Zürcher absolvierte nach der Lehre als Maschinenzeichner die berufsbegleitende Matura und studierte Volkswirtschaft und Soziologie an der Universität Bern. Seit 2003 ist er Lehrbeauftragter an der Universität Bern.