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Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln braucht offene Grenzen

Alle Länder sind vom Handel mit Nahrungsmitteln abhängig. Angesichts knapper und immer teurerer Lebensmittel greifen einige zu Exportverboten. Dabei könnte gerade der Handel die Situation verbessern.

Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln braucht offene Grenzen

Eine Inderin trocknet ihre Reisernte. Die indische Regierung hat im Juli 2023 ein Exportverbot für Nicht-Basmati-Reis verhängt. (Bild: Keystone)

Die weltweite Nachfrage nach Nahrungsmitteln steigt schneller als das entsprechende Angebot. Bis 2050 soll gemäss der Bevölkerungsprognose der Vereinten Nationen die Weltbevölkerung von acht auf fast zehn Milliarden Menschen wachsen. Zudem steigen mit zunehmendem Einkommen in allen Regionen der Nahrungsmittelkonsum je Person sowie der Verbrauch von Futtermitteln in der Tier- und Fischzucht in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Gleichzeitig ist die weltweite landwirtschaftlich nutzbare Fläche begrenzt. Die immer häufigeren und intensiveren Überschwemmungen, Dürren und anderen extremen Wetterereignisse belasten die weltweite Versorgung mit Agrargütern zusätzlich. Und der Einmarsch Russlands in der Ukraine sowie Exportrestriktionen verschiedener Länder haben die Knappheit weiter verschärft.

Erschwerend hinzu kommen in vielen Ländern die steigende Staatsverschuldung, die Abwertung der Währung sowie die hohe Inflation bei Nahrungsmitteln und Dünger.[1] In der Tendenz bedeutet das: Der weltweite Bedarf an Lebensmitteln wird sich nur zu steigenden Preisen decken lassen. Aber bereits heute leidet fast eine Milliarde Menschen an Unterernährung, und es gibt keine Anzeichen, dass sich dieser Trend in naher Zukunft abschwächt. Folglich wird es immer schwieriger, das Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG) 2 – «Kein Hunger» – bis 2030 zu erreichen. Die Ernährung der weiter ansteigenden Weltbevölkerung wirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltig zu sichern, wird in den nächsten Jahrzehnten eine zentrale Herausforderung der Menschheit sein.

Nahrungsimporte werden auch in der Schweiz wichtiger

Gemäss Agristat[2], der Statistik der Schweizer Landwirtschaft, hat sich der Lebensmittelverbrauch[3] in der Schweiz zwischen 2008–2012 und 2021 von 38’146 Terajoule (TJ) verwertbare Energie auf 40’666 TJ erhöht. Das entspricht einer Zunahme um 0,7 Prozent pro Jahr. Das Bevölkerungswachstum treibt diese Entwicklung an.[4] Gleichzeitig hat die Inlandproduktion über die gleiche Zeitspanne pro Jahr um 1,2 Prozent abgenommen. Rückläufig ist insbesondere die Produktion der pflanzlichen Nahrungsmittel. Ein wichtiger Grund dafür ist der Zielkonflikt zwischen der landwirtschaftlichen Produktion und dem Umweltschutz. Die Inlandproduktion gemessen am Inlandverbrauch hat zwischen 2008–2012 und 2021 von 62 Prozent auf noch 52 Prozent abgenommen. Importe werden deshalb immer wichtiger und sind gleichzeitig um 2,2 Prozent pro Jahr gestiegen. Die Ernährungsfrage beschäftigt die Menschen. Seit 2016 hat die Bevölkerung über acht agrarpolitische Vorlagen[5] abgestimmt.

Gemäss den Projektionen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) wird der Handel für die Ernährungssicherheit in Zukunft noch bedeutender.[6] Bei vielen Agrarprodukten wird der grösste Teil der Produktion im Inland verwendet. Bei einigen wenigen Produkten macht der Handel aber mindestens ein Drittel der weltweiten Produktion aus. Dies gilt insbesondere für Zucker, pflanzliche Öle, Sojabohnen und Milchpulver. Die starke Konzentration bei diesen Produkten auf einige führende Exportländer birgt die Gefahr, dass Ausfuhren von dort wegen Produktionsschocks (z. B. Missernten), politischen Veränderungen oder Konflikte unterbrochen werden können. Das hätte erhebliche Auswirkungen auf die Weltmärkte und könnte die weltweite Ernährungssicherheit beeinträchtigen. So etwa in Subsahara-Afrika, dem drittwichtigsten Nettoimporteur von Landwirtschaftsgütern, wo die Bevölkerung weltweit am schnellsten wächst. Insbesondere Getreideimporte unterstützen dort direkt und indirekt als Tierfutter die Ernährungssicherheit. Bis 2032 wird das Agrarprodukte-Handelsdefizit Subsahara-Afrikas um 77 Prozent zunehmen.[7] Ohne Handel aus den Überschussregionen kann Subsahara-Afrika sein Nahrungsmitteldefizit nicht decken (siehe Abbildung 1).

Abb. 1: Wertmässiger Nettohandel: Überschuss- und Defizitregionen bei Agrarprodukten (2000–2032)

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Anmerkung: Region «Entwickelte und Ostasien» = China, Korea, Japan, Australien, Neuseeland. Exporte/Importe werden in konstanten 2014–16 Dollar gemessen. Die Nettohandelszahlen (=Exporte minus Importe) beinhalten den intraregionalen Handel, nicht aber den Intra-EU-Handel.
Quelle: OECD/FAO (2023) / Die Volkswirtschaft

 

Handel für Ernährungssicherheit zentral

Der internationale Handel bildet das Rückgrat des globalen Ernährungssystems. Ein für beide Seiten vorteilhafter Handel, der durch komparative Vorteile und Skaleneffekte bestimmt wird, kann die Verfügbarkeit und die Erschwinglichkeit verschiedener Lebensmittel verbessern und den Konsumenten eine grössere Auswahl bieten. Selbst grosse Nettoexporteure sind für ihren Inlandsverbrauch auf Importe angewiesen, so etwa Lateinamerika und die Karibik (siehe Abbildung 2). Besonders wichtig ist der Handel aber auch für Länder mit beschränkten Ressourcen, die stark vom Import von Grundnahrungsmitteln abhängig sind, wie etwa der Nahe Osten, Nordafrika oder Ostasien. Und nicht zuletzt ist Handel auch ein Motor für Wirtschaftswachstum. Denn der Export von Agrargütern, die in einzelnen Ländern einen grossen Anteil der Produktion im Inland ausmachen, schafft eine wichtige Einnahmequelle.[8]

Abb. 2: Importanteil am Konsum je Region, in Kalorienäquivalenten (2010–2032)

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Anmerkung: Zu den Importen gehören auch Futtermittel, und die Verfügbarkeit umfasst die Verarbeitung von Waren, die wieder ausgeführt werden können.
Quelle: OECD/FAO (2023) / Die Volkswirtschaft

 

Doch der Trend geht derzeit in die andere Richtung. Der jüngste Anstieg der Preise und der Preisvolatilität hat das Risiko erhöht, dass Länder exportbeschränkende Massnahmen verhängen, um die inländische Nahrungsmittelinflation unter Kontrolle zu halten. Laut dem International Food Policy Research Institute mit Sitz in Washington haben seit Kriegsbeginn in der Ukraine mindestens 20 Länder eine solche Exportbeschränkung eingeführt. Aber Exportverbote verstärken die negativen Auswirkungen der Preisunsicherheiten und können die Preise noch weiter in die Höhe treiben. Natürlich ist das im Juli 2023 von Indien erlassene Exportverbot für Nicht-Basmati-Reis nicht mit Russlands Aufgabe des Abkommens zur Verschiffung von Getreide über das Schwarze Meer zu vergleichen – die Konsequenzen für die globalen Nahrungsmittelpreise und die Ernährungssicherheit sind allerdings sehr ähnlich.[9]

  1. Siehe Weltbank (2023). []
  2. Siehe Agristat (2022). []
  3. Dieser setzt sich aus der Inlandproduktion plus Importüberschuss und der Entnahme aus Vorräten zusammen. []
  4. Siehe Agristat (2022). []
  5. «Massentierhaltungsinitiative» (abgelehnt 25.09.22); «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» (abgelehnt 13.06.2021); «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung» (abgelehnt 13.06.2021); «Hornkuhinitiative» (abgelehnt 25.11.2018); «Für Ernährungssouveränität. Die Landwirtschaft betrifft uns alle» (abgelehnt 23.09.2018); «Fair-Food-Initiative» (abgelehnt 23.09.2018); «Für Ernährungssicherheit» (Gegenentwurf angenommen 24.09.2017); «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln» (abgelehnt 28.2.2016). []
  6. Siehe OECD/FAO (2023). []
  7. Siehe OECD/FAO (2023). []
  8. Siehe OECD/FAO (2023), S. 62. []
  9. Siehe Evenett (2023) und IFPRI (2023). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Isabelle Schluep (2023). Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln braucht offene Grenzen. Die Volkswirtschaft, 25. September.