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Bundesrat will Kollektivklagen ermöglichen

Im sogenannten Abgasskandal sind Schweizer Gerichte bisher nicht auf Klagen von Schweizer Konsumentenverbänden gegen deutsche Autobauer eingetreten. Der Grund: Verbände sind für Schadenersatz nicht klageberechtigt. Der Bundesrat will das nun ändern.
VW-Produktion in Wolfsburg: Eine erfolgreiche Verbandsklage in der Schweiz könnte für den VW-Konzern beträchtliche finanzielle Folgen haben. (Bild: Keystone)

Der «Abgasskandal» war 2015 in aller Munde: Damals wurde bekannt, dass mehrere deutsche Autohersteller illegal Abschalte-Einrichtungen an Fahrzeugen angebracht hatten, damit Millionen von Abgastests manipulierten und so gesetzlich vorgegebene Grenzwerte umgingen. Die rechtlichen Folgen hallen bis heute nach: Zahlreiche zivil- und strafrechtliche Verfahren sind nach wie vor weltweit hängig, etwa gegen VW oder Audi. Die bereits gesprochenen Urteile gaben getäuschten Fahrzeughaltern in der EU in aller Regel Recht.

Anders in der Schweiz – hier gingen die Käufer ausser in Einzelfällen bislang leer aus, und es kam nur selten überhaupt zu einer gerichtlichen Prüfung ihrer Ansprüche. Ein Grund dafür ist das schweizerische Zivilprozessrecht. So verklagte etwa auch die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) 2019 mit einer Kollektivklage den VW-Konzern und AMAG im Namen von rund 6000 Geschädigten auf Schadenersatz. Doch das Zürcher Handelsgericht trat auf die Klage nicht ein, da die SKS formell nicht berechtigt sei zu klagen. Das Bundesgericht stützte diesen Entscheid.[1]

Der Bundesrat will nun in Umsetzung einer Motion[2] der Luzerner SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo den kollektiven Rechtsschutz stärken. Dazu will er die Verbandsklage ausbauen sowie neu einen kollektiven Vergleich einführen. Dadurch würden künftig unter gewissen Voraussetzungen kollektive Schadenersatzklagen möglich. Das Forschungs- und Beratungsunternehmen Ecoplan hat im Auftrag des Bundesamts für Justiz (BJ) und des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) die Auswirkungen der Bundesratsvorlage in Form einer Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) vertieft geprüft.[3]

Wieso die geplante Anpassung?

Unterhalb einer gewissen Schadensumme lohnt es sich für Betroffene nicht, in einem individuellen Verfahren vor Gericht zu gehen. Im Verhältnis zum möglichen Prozesserfolg ist das Risiko zu hoch; die anfallenden Kosten können einen allfälligen Schadenersatz übersteigen. Sind mehrere Personen in gleicher Weise geschädigt, wie das beim Abgasskandal der Fall sein könnte, können kollektive Rechtsschutzinstrumente wie die vorgeschlagene Verbandsklage Abhilfe schaffen. Eine solche Klage erlaubt es nämlich, gleichartige Ansprüche zu bündeln: Indem ein Verband für alle Geschädigten klagt, sinkt der Aufwand pro Person.

Können berechtigte Ansprüche aufgrund hoher finanzieller Hürden nicht durchgesetzt werden, wie das zurzeit der Fall ist, liegt ein sogenanntes Regulierungsversagen vor. Gleichzeitig müssen die fehlbaren Unternehmen für die von ihnen verursachten Schäden nicht geradestehen, sondern wälzen diese auf Gesellschaft oder Umwelt ab. Dies führt zu sogenannten externen Kosten und damit zu Marktversagen. In beiden Fällen – sowohl bei Regulierungs- wie auch bei Marktversagen – sind staatliche Eingriffe legitim. Denn: Können Fehlanreize für Unternehmen abgebaut werden, dient dies nicht zuletzt dem fairen Wettbewerb.

Klagen bleibt teuer

Doch welche Folgen hätte die Bundesratsvorlage für Schweizer Unternehmen? Lassen sich die Sorgen der Schweizer Wirtschaftsverbände vor einer Klageindustrie durch ausländische Erfahrungen oder konkrete Fälle erhärten? Die RFA von Ecoplan findet keine Indizien dafür. Dies, obwohl der kollektive Rechtsschutz im europäischen Ausland, auch bei Umsetzung der Bundesratsvorlage, weiterentwickelt ist als in der Schweiz. Dazu hat Ecoplan in- und ausländische Experten aus den zuständigen Ministerien, von Universitäten, aus Justiz- und Rechtspraxis sowie von Wirtschafts- und Konsumentenverbänden befragt. Zudem wurden zahlreiche aktuelle Studien analysiert.

Dass ein neues Instrument missbräuchlich genutzt wird, lässt sich zum Vornherein zwar nie ganz ausschliessen. Gemäss unseren Abklärungen ist aber nicht mit einem Anstieg von unbegründeten Klagen zu rechnen. Ein Hauptgrund: Klagen bleibt teuer, weil damit auch weiterhin ein erhebliches finanzielles Prozessrisiko verbunden ist. Wer dieses Risiko auf sich nimmt, wird sich seiner Sache sicher sein wollen – egal ob Verband, Drittfinanzierer oder Einzelperson. Denn will jemand eine Rechtsverletzung einklagen, muss er diese beweisen können. Daran ändert sich mit der Bundesratsvorlage nichts. Überdies lässt die Vorlage Verbandsklagen nur unter klaren Voraussetzungen zu. So darf ein Verband gemäss Vorlage beispielsweise nicht gewinnorientiert sein.

Mögliche Kosten für rechtsverletzende Unternehmen

Unbestritten ist, dass eine erfolgreiche Verbandsklage im konkreten Einzelfall für das betroffene Unternehmen beträchtliche finanzielle Folgen haben kann. Zur Illustration: Hätte eine Verbandsklage im VW-Fall in der Schweiz Erfolg, müsste VW grob geschätzt über 70 Millionen Franken Schadenersatz plus rund vier Millionen Franken Prozesskosten bezahlen.[4]

Auf Unternehmen, die sich rechtskonform verhalten, dürfte die Vorlage dagegen wenig Auswirkungen haben. Dafür spricht auch, dass Unternehmen keine neu geschaffenen Rechte beachten oder Pflichten einhalten müssten. Die erwähnten Rechtsinstrumente dienen lediglich dazu, bereits bestehende Ansprüche durchzusetzen, die heute faktisch nicht durchgesetzt werden können. Sollte ein Unternehmen zudem ungerechtfertigt eingeklagt werden, muss der Klagende die Prozesskosten tragen.

Keine direkten Regulierungskosten

In diesem Sinne entstehen auch keine «direkten» Regulierungskosten für die Unternehmen. Von solchen ist die Rede, wenn eine Regulierung beispielsweise neue Handlungspflichten für Unternehmen einführt, die für sie mit Mehraufwand verbunden sind. Bei der Bundesratsvorlage ist dies nicht der Fall. Allerdings können «indirekte» Regulierungskosten entstehen, nämlich insbesondere dann, wenn ein Gerichtsprozess zustande kommt und dabei Anwalts- und Gerichtskosten anfallen. Der Haupteffekt der Vorlage kann hingegen als «Regulierungstransfer» betrachtet werden: Zahlt ein Unternehmen Schadenersatz, findet eine Transaktion vom Schädigenden an die Geschädigten statt, die bislang den Schaden selbst tragen müssen. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, handelt es sich hierbei jedoch nicht um zusätzliche Kosten, die für die Wirtschaft entstehen, sondern um eine Zahlung des Schädigenden an die Geschädigten, die sich in der Summe aufhebt.

Insgesamt dürfte sich der Effekt der Vorlage auf die Gesamtwirtschaft in engen Grenzen halten. Eine Verschlechterung der Standortattraktivität oder gar ein Wegzug von Unternehmen aufgrund der Vorlage ist unwahrscheinlich, zumal in den Nachbarländern die Verbandsklage bereits möglich ist. In einer Gesamtbetrachtung gilt es ausserdem den Nutzen der präventiven Effekte miteinzubeziehen, welche die Vorlage hat. Diese sind: ein fairerer Wettbewerb, Vermeidung von Schäden für Gesundheit und Umwelt sowie ein effektiveres Rechtssystem.

  1. Siehe Bundesgerichtsurteil 4A_43/2020 vom 16. Juli 2020. []
  2. Motion 13.3931 «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung». []
  3. Siehe Ecoplan (2023). RFA zu Verbandsklage und kollektivem Vergleich im Auftrag des BJ und des Seco. []
  4. Gemäss dem Bundesgerichtsurteil 4A_17/2023 vom 9. Mai 2023 wäre ein Schadenersatzanspruch gegen den Autohersteller allerdings zu bezweifeln. Offengelassen wurden hingegen Schadenersatzansprüche gegen den Autoverkäufer. []

Zitiervorschlag: Felix Walter, Ramin Mohagheghi, Lukas Kunz, Tanja Domej, Patrick Honegger-Müntener (2023). Bundesrat will Kollektivklagen ermöglichen. Die Volkswirtschaft, 16. Oktober.