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Ist die Globalisierung Geschichte?

Ist die Globalisierung Geschichte?

Schauen wir bald mit Erstaunen auf die Globalisierung zurück? Freiwillige räumen auf, nachdem die Fracht eines Containerschiffs in den Niederlanden angespült worden ist. (Bild: Keystone)
Herr Föllmi, wann war aus Ihrer Sicht der Beginn der Globalisierung?

Der Beginn setzte bereits mit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Die zentralisierte Produktion in Fabriken bedingte, dass erstmals eine Vielzahl von Industrie- und Agrargütern über weite Distanzen gehandelt wurden. Mit der Erfindung von Dampfmaschine, Schiffen und Eisenbahnen wurde dies möglich. Vorher war der Welthandel teuer und deshalb auf Luxusgüter beschränkt.

Viele Kommentatoren verkünden bereits das Ende der Globalisierung …

Globalisierung ist keine Einbahnstrasse, und sie ist keineswegs geradlinig verlaufen. In der Zwischenkriegszeit haben sich gerade die Länder Europas in einem protektionistischen Wettlauf gegenseitig abgeschottet – mit entsprechend negativen Folgen für das Wirtschaftswachstum und die politische Stabilität. Zurzeit droht Ähnliches aufgrund der Spannungen zwischen China und dem Westen.

Wiederholt sich also die Geschichte?

Die Lieferketten sind wegen der Handelsstreitigkeiten mit China, aber auch wegen der Corona-Pandemie diversifiziert worden, doch das bedeutet zurzeit eher eine Ausweitung als ein Ende der Globalisierung. Dennoch: Der Prozess der Globalisierung wird in naher Zukunft sicher weniger schnell voranschreiten als in den 2000er-Jahren nach Eintritt Chinas in die WTO.

 

In Zeiten des Fachkräftemangels sind wir erst recht auf internationalen Austausch angewiesen.

 

Ein Ende des freien Welthandels ist also nicht in Sicht?

Für einen Nachruf ist es sicher zu früh. Denn die eigentlichen Treiber der Globalisierung sind immer noch da: Die Welt ist zusammengewachsen, die weltweiten Transport- und Kommunikationskosten sind deutlich gesunken. Das hat die grenzüberschreitende Produktion und das weltweite Angebot von Dienstleistungen stark vereinfacht. Die Revolution in Informations- und Kommunikationstechnologien hat es zudem ermöglicht, die Lieferketten zu optimieren und ortsunabhängig zu arbeiten.

Handel und Freihandelsabkommen wird es also immer geben?

Ja, denn es ist ein menschliches Bedürfnis, Güter und Ideen auszutauschen. Freihandelsabkommen sind dabei bloss Mittel zum Zweck: Wir brauchen momentan so viele einzelne Abkommen, weil der multilaterale Weg blockiert ist.

Gibt es beim Handel auch Zielkonflikte?

Handel verbessert die internationale Arbeitsteilung. Das heisst aber auch, dass manche Branchen und Arbeitnehmende in der Schweiz der Importkonkurrenz ausgesetzt werden. Sektoren wie Pharma oder IT dagegen gewinnen. Bereits heute stammt mehr als die Hälfte der Schweizer Warenexporte aus der pharmazeutischen Industrie. Handel führt also zu Umverteilung und Strukturwandel. Insgesamt wird der volkswirtschaftliche Wohlstand aber grösser. Das zeigt sich gerade am Erfolg kleiner offener Volkswirtschaften wie der Schweiz. Und in Zeiten des Fachkräftemangels sind wir erst recht auf internationalen Austausch angewiesen: Uns fehlen die Ressourcen, alles selber zu produzieren.

Zitiervorschlag: Die Volkswirtschaft / La Vie économique (2023). Ist die Globalisierung Geschichte. Die Volkswirtschaft, 20. Oktober.

Interviewpartner

Reto Föllmi ist Professor für Aussenwirtschaft an der Universität St. Gallen