Tieflöhne: Ein politisches Dauerthema
Viele Tieflohnstellen in der Schweiz sind im Detailhandel zu finden. (Bild: Keystone)
Der Kampf gegen Lohnungleichheit und für eine faire Entlöhnung der Arbeitnehmenden war in den letzten zehn Jahren ein Dauerthema auf der politischen Agenda. Im Jahr 2014 stimmte das Schweizervolk mit 74 Prozent gegen die nationale Initiative der Gewerkschaften. Diese forderte einen Mindestlohn von 4000 Franken brutto pro Monat. Inzwischen haben die Kantone Neuenburg, Jura, Genf, Tessin und Basel-Stadt kantonale Mindestlöhne eingeführt.[1] Erst kürzlich, im Juni 2023, hat das Stimmvolk in den Städten Zürich und Winterthur einem Mindestlohn von 23.90 bzw. 23 Franken pro Stunde zugestimmt. Ziel dieser Initiativen ist es, den Lebensstandard der Personen mit den tiefsten Löhnen anzuheben und die Lohnungleichheit zu verringern. Doch war die Schweiz in den letzten Jahren tatsächlich stärker mit dem Problem von Lohnungleichheit konfrontiert?
Auf internationaler Ebene verwenden das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) häufig das Konzept des «Tieflohns», um die Verteilung der Löhne in einem Land zu beschreiben. Als Tieflohn gilt dabei ein Lohn, der weniger als zwei Drittel des Medianlohns beträgt.[2] Mit diesem statistischen Konzept lässt sich auch analysieren, wie sich die Lohnverteilung im Laufe der Zeit verändert hat: Ein geringer Anteil an Tieflöhnen steht für eine gleichmässigere Lohnverteilung. Bleibt der Anteil im Laufe der Zeit stabil, deutet das darauf hin, dass die tiefsten Löhne dem Wachstum des Medianlohns folgen.
Wer verdient in der Schweiz einen Tieflohn?
6361 Franken – so viel beträgt der Median des Bruttomonatslohns im Privatsektor, wie die Lohnstrukturerhebung[3] (LSE) des Bundesamts für Statistik (BFS) von 2020 zeigt. Die Schwelle für einen Tieflohn liegt somit bei 4241 Franken brutto pro Monat für eine Vollzeitstelle. Mit einer Tieflohnquote von 10 Prozent im Jahr 2020 (d. h. 326’942 Personen) gehört die Schweiz im internationalen Vergleich zu den Ländern mit einer relativ gleichmässigen Lohnverteilung.
Doch wer verdient in der Schweiz einen Tieflohn? Die Wahrscheinlichkeit, einen Tieflohn zu beziehen, hängt stark von den soziodemografischen Merkmalen der Arbeitnehmenden ab. Zentrale Faktoren sind die Berufserfahrung und das Bildungsniveau: 58 Prozent der Arbeitnehmenden mit einem Tieflohn arbeiten seit weniger als zwei Jahren in ihrem Unternehmen, und gut die Hälfte (51%) hat keine nachobligatorische Ausbildung absolviert. Hingegen beziehen lediglich 7,9 Prozent der Arbeitnehmenden mit abgeschlossener Ausbildung auf Sekundarstufe II und 2,6 Prozent der Arbeitnehmenden mit Ausbildung auf Tertiärstufe einen Tieflohn.
Knapp 45 Prozent der Tieflohnstellen konzentrieren sich auf die Branchen Gastgewerbe, Reinigungsdienste und Detailhandel. Dabei handelt es sich um Wirtschaftssektoren mit geringerer Wertschöpfung, in denen häufiger weniger qualifizierte Arbeitskräfte tätig sind. Die LSE-Daten zeigen jedoch, dass der hohe Anteil Tieflohnstellen in diesen Wirtschaftszweigen nicht mit einer ungleicheren Verteilung der Löhne einhergeht.
Die Daten des BFS zeigen auch: Tieflohnstellen werden häufiger von ausländischen Arbeitskräften besetzt. Unabhängig von der Branche erhalten 16 Prozent der ausländischen Arbeitskräfte einen monatlichen Bruttolohn von weniger als 4241 Franken. Bei den Schweizer Arbeitskräften beträgt dieser Anteil lediglich 7 Prozent. Dies ist zum Teil auf das niedrigere Bildungsniveau der ausländischen Arbeitskräfte zurückzuführen.
Auch das Geschlecht spielt eine Rolle: Bei Frauen sind Tieflöhne doppelt so häufig wie bei Männern (13,7% der Frauen bzw. 6,2% der Männer). Seit den 2000er-Jahren vollzieht sich jedoch eine Annäherung der Tieflohnquoten zwischen Männern und Frauen: Der Unterschied hat sich von 13,2 (2000) auf 7,5 Prozentpunkte im Jahr 2020 verringert.
Tieflohnquote variiert kaum
In den letzten 20 Jahren war die Tieflohnquote in der Schweiz bemerkenswert stabil. Konkret sank sie von 10,6 Prozent im Jahr 2000 auf 10 Prozent im Jahr 2020 (siehe Abbildung 1). Statistisch lässt sich dies mit dem nahezu parallelen Wachstum der tiefsten Löhne (+1,1%) und der Löhne in der Mitte der Lohnverteilung (+1% pro Jahr zwischen 2000 und 2020) erklären (siehe Abbildung 2).
Abb. 1: Entwicklung der Tieflohnquote (2000–2020)
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Abb. 2: Durchschnittliches jährliches Lohnwachstum nach Quantilen (2000–2020)
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Kein Druck auf die tiefsten Löhne
Aus den Lohndaten des BFS geht hervor, dass die tiefsten Löhne zwischen 2000 und 2020 nicht unter Druck kamen. Angesichts der Umwälzungen, die der Schweizer Arbeitsmarkt in den vergangenen 20 Jahren erfahren hat, ist dies bemerkenswert. Neben grossen Trends wie der Digitalisierung und der Globalisierung ist insbesondere die Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) zu erwähnen. Sie hat zu einer jährlichen Bruttozuwanderung von rund 94’000 Personen geführt. Potenziell negative Auswirkungen dieses Wandels auf die Löhne, insbesondere auf die am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze, wurden nicht festgestellt. Diese Entwicklungen hatten also keinen Einfluss auf den Anteil der Personen, die in der Schweiz einen Tieflohn beziehen.
Weshalb die Löhne in den letzten Jahren nicht unter Druck geraten sind, lässt sich mit verschiedenen Faktoren erklären. Einerseits hat die Zuwanderung insgesamt den einheimischen Arbeitsmarkt gut ergänzt. Denn die ausländischen Arbeitskräfte waren vor allem in Sektoren tätig, in denen das Angebot an Schweizer Arbeitskräften nicht ausreichte, sodass sie kaum mit Tieflohnstellen konkurrierten. Zudem wurde die Überwachung der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch das Inkrafttreten der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union gestärkt. Mit diesen Massnahmen kann Lohndumping gezielt bekämpft werden. Seit 2004 werden jährlich rund 40’000 Unternehmen auf die Einhaltung der in der Schweiz geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen überprüft und Verstösse sanktioniert.
Eine wichtige Rolle spielen überdies die Gesamtarbeitsverträge (GAV). Diese regeln die Lohn- und Arbeitsbedingungen für Unternehmen und Wirtschaftszweige, die sich oft am unteren Ende oder in der Mitte der Lohnverteilung befinden. Laut der Erhebung über die gesamtarbeitsvertraglichen Lohnabschlüsse (EGL)[4] des BFS wurden die in den grössten GAV (mit mehr als 1500 Beschäftigten) festgelegten Mindestlöhne zwischen 2000 und 2020 durchschnittlich pro Jahr um 1,3 Prozent angehoben, was darauf hindeutet, dass die GAV das Lohnwachstum in den unteren Quantilen der Lohnverteilung unterstützen und somit dazu beigetragen haben, ein Abrutschen der Tieflöhne zu verhindern.
Während GAV in den meisten OECD-Ländern an Bedeutung verlieren, konnten solche Verträge in der Schweiz mit dem starken Beschäftigungswachstum der letzten Jahre Schritt halten. Sie regeln derzeit rund 50 Prozent der Arbeitsverhältnisse, vorwiegend in Branchen mit niedrigen Löhnen. Da sie die wirtschaftliche Realität der betreffenden Branchen widerspiegeln, sind die GAV-Mindestlöhne in der Regel höher als die von den Kantonen oder Gemeinden festgelegten, auf sozialpolitischen Überlegungen beruhenden Mindestlöhne.
In der Schweiz wurden die Mindestlöhne bisher von den Sozialpartnern im Rahmen von GAV und nicht vom Staat festgelegt. Das Ergebnis in Sachen Lohnverteilung ist dabei recht erfreulich ausgefallen. Ob die staatlichen Mindestlöhne, die in den letzten Jahren von Kantonen und Gemeinden beschlossen wurden, die Lohnverteilung in der Schweiz ergänzen und beeinflussen, wird sich zeigen. Interessant wird insbesondere sein, inwieweit sie ihr ursprüngliches Ziel der Armutsbekämpfung erreichen werden.
Um besser zu verstehen, welche arbeitsmarktpolitische Rolle die von den Sozialpartnern im Rahmen von GAV vereinbarten Mindestlöhne spielen, unterstützt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ein Projekt der ETH Zürich zur Kodifizierung des Inhalts von GAV. Das Projekt wird insbesondere empirisch untersuchen, wie sich diese Verträge auf den Arbeitsmarkt und die Lohnverteilung auswirken.
- Der kantonale Mindestlohn trat 2017 im Kanton Neuenburg, 2018 im Kanton Jura, 2020 im Kanton Genf und 2021 in den Kantonen Tessin und Basel-Stadt in Kraft. []
- Der Medianlohn teilt die Löhne aller Arbeitnehmenden in zwei gleich grosse Gruppen auf: Bei der einen Hälfte der Beschäftigten liegt der standardisierte Lohn über diesem Wert, bei der anderen Hälfte darunter. []
- Siehe Bundesamt für Statistik: Schweizerische Lohnstrukturerhebung 2020. []
- Siehe Bundesamt für Statistik: Erhebung über die gesamtarbeitsvertraglichen Lohnabschlüsse. []
Zitiervorschlag: Dénervaud, Maxime; Baumberger, Daniel (2023). Tieflöhne: Ein politisches Dauerthema. Die Volkswirtschaft, 23. Oktober.