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«Die Schuldenbremse ist in unserer DNA»

Die Leiterin der Eidgenössischen Finanzverwaltung, Sabine D’Amelio-Favez, erklärt im Interview, wann die Schweiz Schulden machen darf. Obwohl der Bund momentan mehr ausgibt, als er einnimmt, ist sie mit ihrer Arbeit zufrieden. Die Schuldenbremse – die auf nationaler Ebene ihr 20-jähriges Bestehen feiert – hilft ihr dabei.

«Die Schuldenbremse ist in unserer DNA»

«Mit pauschalen Forderungen nach mehr Schulden habe ich etwas Mühe»: Sabine D’Amelio-Favez, Direktorin der Eidgenössischen Finanzverwaltung, in ihrem Büro in Bern. (Bild: Peter Schneider / Keystone)
Frau D’Amelio-Favez, wie stehen Sie privat zum Thema Schulden?

Die Schweiz hat eine Sparkultur. Diesbezüglich bin ich ganz Schweizerin: Ich verdiene lieber mein Geld, bevor ich es ausgebe. Aber wie bei vielen ist das Eigenheim auch bei mir über Schulden finanziert.

Ihr Amtsantritt 2021 und die relativ hohen Staatsschulden aufgrund der Corona-Pandemie fallen zusammen. Können Sie Schulden etwas Positives abgewinnen?

Schulden machen ist per se nichts Schlechtes. Sie können wichtige und notwendige Investitionen sicherstellen. Wichtig dabei ist aber: Man muss sie zurückzahlen können. Dass in der Krise Schulden gemacht werden dürfen, ist ein wichtiger Teil unserer Schuldenbremse. Diese flexible Ausgestaltung der Ausgabenregel liess in den Jahren 2020 bis 2022 zu, dass wir für die Bekämpfung der Auswirkungen von Corona rund 30 Milliarden Franken ausgeben konnten. Die Bundesschulden stiegen in dieser Zeit dadurch wieder stark an.

Die Schuldenbremse ist dieses Jahr 20 Jahre alt geworden. Bundesrätin Karin Keller-Sutter bezeichnete sie an den Feierlichkeiten zum Jubiläum als ihre beste Freundin. Teilen Sie diese Meinung?

Definitiv. Ich würde sie jetzt nicht personalisieren, aber sie ist ein wichtiges Arbeitsinstrument für mich. Und sie hat zur Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Schweiz beigetragen.

Die Schweiz hat mit 26 Prozent Schulden gemessen am Bruttoinlandprodukt eine der tiefsten Schuldenquoten Europas. Deutschland und Österreich haben ebenfalls Schuldenbremsen. Was macht die Schweiz besser?

Die Schuldenbremse ist in unserer DNA. Bei uns ist sie in der Verfassung festgehalten – die meisten unserer Nachbarländer haben diese Haushaltsregel nur auf Gesetzesebene. Das hat in der Schweiz zu einer sehr hohen Legitimität geführt. Doch: Eine Regel ist das eine – entscheidend ist die Umsetzung. Und hier sind wir strikt geblieben. Andere Länder wie Deutschland und Österreich haben ja keine schwächeren Regeln als wir, nur sie halten sie oft nicht ein. Auch beim Corona-Schuldenabbau hat sich das Schweizer Parlament wieder zu dieser Regel bekannt.

Allerdings hat man sich etwas mehr Zeit gegeben. Anstatt sechs sind es nun zwölf Jahre für den Schuldenabbau. Das ist doch auch eine Lockerung der Regel?

Das Parlament hat sich – abgesehen von der Frist – ganz klar für die strengste Variante zum Schuldenabbau ausgesprochen. Die Schuldenbremse wurde im Kern nicht abgeändert. Einzig die Frist wurde verlängert. Bei ihrer Einführung hatte man schlicht nicht mit solch riesigen Ausgaben in so kurzer Zeit gerechnet. Die Fristverlängerung wurde vorgenommen, weil man für den Schuldenabbau keine Sparpakete schnüren wollte. Diese hätten antizyklisch gewirkt.

 

Wir stellen fest, dass die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat in den Krisenjahren zugenommen hat.

 

Wäre es wirtschaftlich nicht zielführender, anstelle des Schuldenabbaus die Steuern zu senken oder mehr Investitionen zu tätigen?

Unsere Schuldenregel gibt nicht vor, dass wir Schulden abbauen müssen. Sie gibt vor, dass wir die Schulden stabilisieren müssen. Doch in den letzten Jahren blieben oft Kreditreste übrig – also Budget, das nicht ausgeschöpft wurde –, wodurch wir sogar Schulden abbauen konnten. Dank der guten Einnahmenentwicklung konnten die Ausgaben aber trotzdem stark wachsen. In den nächsten Jahren brauchen wir die Kreditreste aber für den Abbau der Corona-Schulden. Deshalb ist die Diskussion rund um Steuersenkungen und höhere Investitionen aktuell vom Tisch.

Einige Ökonomen sagen, der Bund sei zu sparsam und könnte jedes Jahr 1,5 Milliarden Franken mehr ausgeben – ohne die Schuldenbremse zu verletzen. Die Schuldenquote sei dann immer noch tief im internationalen Vergleich.

Eine Schuldenregel, die sich nach der Schuldenquote richtet, wäre ein mögliches Modell. Nur: Es ist nicht das, was die Bundesverfassung vorsieht. Entschieden haben wir uns für ein Modell, bei dem Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht sein sollen. Wollte man es ändern, müsste man die Bundesverfassung anpassen. Doch aus welchem Grund? Welches Problem regeln wir zusätzlich, wenn wir das System ändern? Wo bestehen Investitionslücken? Mit diesen pauschalen Forderungen nach mehr Schulden habe ich etwas Mühe. Hinzu kommt ein anderes Problem: In der Realpolitik gäbe es diesen zusätzlichen Spielraum genau in einem Jahr. Dann wäre der Kuchen wieder aufgegessen. Der Positiveffekt dieser Systemänderung wäre also sehr kurzfristig.

Weshalb?

Weil sich der Plafond für mögliche Ausgaben nur einmalig erhöhen würde, nicht jedes Jahr. Das würde uns ermöglichen, einmalig neue wiederkehrende Ausgaben zu beschliessen. Denn das ist ja auch ein Problem, das wir haben: Die meisten Ausgaben, die neu beschlossen werden, bleiben uns dann auch in den Folgejahren erhalten. Deshalb könnten wir nicht jedes Jahr neue zusätzliche Ausgaben beschliessen, sondern nur in jenem Jahr, in dem sich der Ausgabenplafond gemäss Schuldenbremse erhöht. Das würde den politischen Verteilkampf also nicht nachhaltig mildern. Im nächsten Jahr kämen neue Ideen, neue Forderungen.

Ausgerechnet im Jubiläumsjahr ist es anspruchsvoll, die Regeln beim Budget für das nächste Jahr einzuhalten – worauf führen Sie das zurück?

Wir stellen fest, dass die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat in den Krisenjahren zugenommen hat. Man hat in diesen Jahren das Gefühl bekommen, dass viel Geld da ist und man vom Staat alles erwarten kann. Wir müssen nun zusehen, wie wir die neuen Ausgabenwünsche aus dem Parlament finanzieren können.

Welche Geschäfte meinen Sie? Der Ausgabenzuwachs ist kein neues Phänomen. Seit 2010 haben die Ausgaben des Bundes um 40 Prozent zugenommen.

Genau, es ist kein neues Phänomen. Und ein gewisses Ausgabenwachstum per se ist auch kein Problem, da mit der Wirtschaftsentwicklung ja auch die Einnahmen jährlich zunehmen. Aussergewöhnlich war in den letzten Jahren, dass parallel verschiedene Projekte mit hohen Mehrausgaben verabschiedet wurden. So etwa die Armeeausgaben, die bis 2035 um über 4 Milliarden erhöht werden sollen, oder die Kita-Finanzierung im Umfang von rund 800 Millionen. Eine Gegenfinanzierung hat man nicht diskutiert. So grosse Projekte gehen natürlich über das normale Einnahmenwachstum hinaus.

 

Sabine D’Amelio-Favez: «Aktuell betragen die jährlichen Zinszahlungen rund 1 Milliarde Franken. Für nächstes Jahr rechnen wir mit 1,5 Milliarden.»  (Bild: Peter Schneider / Keystone)

 

Für 2024 konnte die Schuldenbremse nur eingehalten werden, weil einzelne Ausgaben als ausserordentlich eingestuft wurden. Kann eine Juristin nicht alles als ausserordentlich interpretieren?

Das Gesetz definiert hier sehr eng: Es müssen aussergewöhnliche und «nicht steuerbare» Ereignisse vorliegen. Hinzu kommen Zusatzregeln: Sie müssen mindestens 0,5 Prozent der budgetierten Gesamtausgaben betragen, was aktuell rund 400 Millionen entspricht. Und es braucht ein qualifiziertes Mehr beider Räte. Die Auslegung ist also an sehr strenge Bedingungen geknüpft. Es gab in den letzten 20 Jahren nur ganz wenige Fälle, die diese erfüllten – insbesondere die UBS-Rettung, Covid-19 oder die Unterstützung von Schutzsuchenden aus der Ukraine.

Knapp 45 Prozent der öffentlichen Gesamtausgaben werden vom Bund getragen. Wie hält man die Waage bei der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen?

Wichtig sind das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz: Der Bund darf nur Aufgaben übernehmen, die er besser erfüllen kann als die Kantone. Und wer zahlt, der befiehlt. Welche Aufgaben von welcher Staatsebene finanziert und durchgeführt werden, hat sich natürlich über die Zeit entwickelt. Hier braucht es deshalb Diskussionen und Überprüfungen. Der Bund und die Kantone haben ein Monitoring in Auftrag gegeben, das Hinweise geben soll, wo es Herausforderungen gibt. Zudem wollen Bund und Kantone bis Mitte 2024 entscheiden, ob ein neues Projekt zur Überprüfung der Aufgabenteilung gestartet werden soll.

Es gibt ja Bestrebungen, die Prämienverbilligungen zu zentralisieren. Was würde dagegensprechen?

Dagegen würde sprechen, dass die Armutsbekämpfung und die Gesundheitspolitik Kantonsaufgaben sind. Das ist ein Grundsatz. Natürlich kann man alles diskutieren, aber nur unter dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz. Wenn der Bund diese Aufgabe übernehmen sollte, dann müsste er auch zum Beispiel über die Verteilung der Prämienverbilligungen entscheiden können. Zudem wäre damit auch das Subsidiaritätsprinzip verletzt, denn es spricht nichts dafür, dass der Bund diese Aufgabe besser erfüllen kann als die Kantone, eher im Gegenteil.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für die kommenden Jahre?

Mittelfristig gibt es verschiedene Bereiche, die noch nicht finanziert sind. Beispielsweise das Wachstum der Armeeausgaben. Sorgen bereiten uns auch die Situation im Asylbereich und der Schweizer Beitrag an den Wiederaufbau der Ukraine. Auch die Finanzierung von Digitalisierungsprojekten wie dem elektronischen Identifikationsnachweis E-ID oder im Gesundheitswesen Digisanté sind eine Herausforderung. Langfristig sind sicher die Demografie, beispielsweise in der AHV, und das Klima zentrale Themen.

 

Auf das Budget der Entwicklungshilfe kommen sicher grosse Herausforderungen zu.

 

Was kommt beim Thema Wiederaufbau der Ukraine auf die Schweiz zu?

Dieses Thema wird zurzeit diskutiert. Das zuständige Departement, das EDA, ist daran, Eckwerte vorzubereiten. Auf das Budget der Entwicklungshilfe kommen sicher grosse Herausforderungen zu. Wegen der Ukraine-Krise wird eine Umpriorisierung erwartet, und jetzt kommen zusätzliche Krisen wie in Armenien und Israel hinzu.

Die lange Phase des billigen Geldes ist vorbei. Die Zinsen steigen. Wie gross ist der Effekt auf die Gesamtschulden?

Aktuell betragen die jährlichen Zinszahlungen wieder rund 1 Milliarde Franken. Für nächstes Jahr rechnen wir mit 1,5 Milliarden. Wir gehen davon aus, dass sich diese Zahl danach stabilisiert.

In den Jahren 2025 bis 2027 wird es herausfordernd, der Schuldenbremse gerecht zu werden. In welche Richtung könnten die Sparmassnahmen gehen?

Diese Diskussionen müssen noch geführt werden. Das Entlastungspaket 2025 vom Bundesrat war eben in der Vernehmlassung. Dieses beinhaltet unter anderem Massnahmen hinsichtlich der Reserven im Fonds der Arbeitslosenversicherung oder im Bahninfrastrukturfonds. Das sind Anpassungen bei den stark gebundenen Ausgaben, die eine Gesetzesänderung bedingen. Wir gehen davon aus, dass die bisherigen Massnahmen nicht genügen. Genaueres wissen wir erst Anfang 2024.

Existiert die Schuldenbremse in 30 Jahren noch?

Auf jeden Fall, unbedingt.

Ob der Bund nun ein Defizit ausweist oder nicht: Sie werden ja grundsätzlich nicht zur Rechenschaft gezogen. Wann sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden?

Das ist eine schwierige Frage… (überlegt lange) Ich bin zufrieden, wenn ich die Sicherheit habe, dass die Finanzverwaltung die besten Lösungen auf den Tisch gebracht hat. Ob diese Lösungen dann politisch mitgetragen werden oder nicht, das ist nicht mehr in unserer Verantwortung. Aber wir müssen mögliche Varianten aufzeigen, um eine objektive und transparente Diskussion in der Politik zu unterstützen.

Und? Ist Ihnen das gelungen?

Ich denke schon. Die Fiskalpolitik ermöglichte in den Krisenjahren verschiedene wirkungsvolle Massnahmen zur Entlastung der Bevölkerung und der Wirtschaft. Allerdings ist das jeden Tag wieder eine neue Herausforderung. Ich habe aber das grosse Glück, auf hervorragende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählen zu können.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2023). «Die Schuldenbremse ist in unserer DNA». Die Volkswirtschaft, 09. November.

Sabine D’Amelio-Favez

Seit Februar 2021 leitet Sabine D’Amelio-Favez die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV). Das Amt von innen kennt sie bereits seit 2016. Die heute 48-Jährige übernahm damals die Abteilung Recht und Risikomanagement. D’Amelio-Favez studierte von 1993 bis 1999 an der Universität Freiburg und an der Universidad Complutense in Madrid Rechtswissenschaften. 2001 erwarb sie das Fürsprecherpatent im Kanton Bern. Ab 2001 war sie als Referentin für Finanzmärkte im Sekretariat der Wettbewerbskommission tätig. 2007 wechselte Sabine D’Amelio-Favez als stellvertretende Leiterin Recht und Internationales zur Eidgenössischen Revisionsaufsichtsbehörde.