Die weibliche Perspektive auf den Arbeitsmarkt
Vorurteile mindern die Einstellungschancen von Frauen: Sobald das Vorspielen für eine Stelle hinter einem Vorhang stattfand, stieg der Frauenanteil im Orchester, wie eine Studie von Goldin zeigt. (Bild: Keystone)
Frauen haben einen immer grösseren Anteil am Erwerbsleben – auch in der Schweiz. Betrug die Erwerbsquote von 25- bis 39-jährigen Frauen 1991 noch 72 Prozent, so sind es 2022 schon 87 Prozent, Tendenz steigend. Doch diese Entwicklung ist nicht immer linear verlaufen: Vor der Industrialisierung war der Anteil Frauen an der Erwerbsarbeit bereits ähnlich hoch wie jener der Männer, ist dann aber allmählich gesunken.
Zu dieser Erkenntnis kommt die diesjährige Nobelpreisträgerin Claudia Goldin in einer ihrer zahlreichen Studien. Bis dahin waren solche Aussagen nicht möglich, weil Frauen in den Daten der nationalen statistischen Ämter in erster Linie als «Ehefrau» markiert waren.[1] Goldins Verdienst ist denn auch ihr Beitrag zur Schaffung neuer Datensätze, die zuvor in der Wirtschaftswissenschaft unsichtbar waren. Dazu gehören insbesondere Daten, die das Arbeitsverhalten von Frauen analysieren.[2] So hat sie zum Beispiel aufgezeigt, wie und warum sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen und die Einkommensdifferenzen zwischen Frauen und Männern über die Jahrzehnte verändert haben.
Auch andere wichtige Zusammenhänge konnte Goldin mit neuen Forschungsfragen und der Auswertung von umfassenden und neuen Datensätzen aufzeigen. Zum Beispiel die Auswirkungen der Antibabypille auf die Beteiligung von Frauen im Arbeitsmarkt: Dabei fand sie, dass Frauen durch die Einführung der Pille nicht nur eine sichere Verhütungsmethode hatten, sondern ebenso die Kontrolle über ihre berufliche Entwicklung gewonnen hatten. Als ab 1970 auch unverheiratete Frauen in den USA Zugang zur Pille bekamen, begannen sie in grosser Anzahl zu studieren. Waren 1970 noch 10 Prozent der medizinischen Abschlüsse sowie 5 Prozent der juristischen und MBA-Abschlüsse von Frauen, betrug dieser Anteil 1980 bereits rund ein Drittel.[3] Frauen konnten mit der Pille Mutterschaft und Heirat hinauszögern und in ihre Karriere investieren.
Hartnäckige Rollenbilder
Goldins Forschung trägt damit zu einem umfassenderen Verständnis der Arbeitsmarktdynamik bei und zeigt, wie wichtig Daten sind, um diese Dynamik zu verstehen. So mahnen etwa in der Schweiz Forscherinnen seit Jahrzehnten an, dass Informationen zu der überwiegend von Frauen ausgeführten unbezahlten Care-Arbeit fehlen oder bei Analysen zu wenig berücksichtigt werden.[4] Solche Daten könnten beispielsweise aufzeigen, wie sich die meist von Frauen geleistete Betreuung der Kinder auf die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern auswirkt. Geschlechtsspezifische Rollenerwartungen und Vorurteile tragen zudem dazu bei, dass das Arbeitspotenzial der Frauen auch in der Schweiz nicht optimal ausgeschöpft wird.
In Zeiten des Fachkräftemangels ist dies ökonomisch fatal. Denn das Vorurteil, dass vor allem Mütter Care-Arbeit leisten sollten, die damit verbundenen ungenügenden externen Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowie die steuerlichen Fehlanreize[5] schränken die Wahlfreiheit der Frauen am Arbeitsmarkt ein. Das hat Folgen im Sinne von verpassten Karriereschritten, tieferen Löhnen und kleineren Renten.
Stille Revolution bei Familienmodellen
Claudia Goldin hat durch ihre beeindruckende historische Perspektive beleuchtet, wie die Entwicklung der Frau in der Arbeitswelt voranschreitet. Sie beschreibt sie als eine fortlaufende «Evolution», die in einer «stillen Revolution» mündete. Von passiven Akteurinnen entwickelten sich Frauen zu aktiven Mitentscheiderinnen im Haushalt.[6] Goldins chronologische Darstellung rückt weibliche Arbeitskräfte in den Fokus und ist damit ein einzigartiger Beitrag in der Wirtschaftswissenschaft.
Diese «stille Revolution», wie Goldin sie bezeichnet, ist auch in der Schweiz noch immer im Gange. So haben sich die Familienmodelle seit 1970 stark verändert: Damals waren noch drei Viertel der Familien mit kleinen Kindern in einer traditionellen Rollenverteilung organisiert, in welcher der Vater Vollzeit arbeitete, die Mutter nicht erwerbstätig und ausschliesslich für die Betreuungs- und Hausarbeit zuständig war. Heute ist dieser Anteil je nach Alter der Kinder auf 12 bis 19 Prozent geschrumpft.[7] Umgekehrt haben seit 2010 die Familienmodelle «Vater Vollzeit/Mutter 50–89%», «beide Teilzeit» und «beide Vollzeit» um mehr als 12 Prozent zugenommen.[8] Und dieser Trend geht weiter. Doch damit sind noch nicht automatisch eine Gleichverteilung von Macht- und Führungspositionen und eine entsprechende Lohngleichheit am Arbeitsmarkt verbunden.
Nach wie vor überproportionale Vergütung von Zeit
Wie Goldin nämlich in ihren neuesten Forschungsergebnissen zeigt, belohnt der Arbeitsmarkt vor allem überlange Arbeitszeiten und Präsenzen – etwas, das Mütter häufig nicht leisten können, ausser sie haben einen Partner, der ihnen die Haus- und Betreuungsarbeit abnimmt. Der bestehende Gender-Pay-Gap würde sich verkleinern oder sogar schliessen, wenn Überzeit und Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit nicht überproportional vergütet würde. Goldin argumentiert deshalb, dass Überstunden und Anwesenheit zu bestimmten Zeiten, die in einigen Branchen erforderlich sind, um die Karriereleiter zu erklimmen, die grössten Hindernisse darstellen, um die Gehaltslücke zu schliessen.[9] Betrachtet man in der Schweiz zum Beispiel den Anteil Frauen in Führungspositionen, fällt auf, dass besonders in der Finanzbranche der Weg an die Spitze für Frauen sehr steinig ist. Die berühmte gläserne Decke ist bei den Banken um 60 Prozent dicker als in der Industrie oder in der Pharmabranche (siehe Kasten).[10]
Inklusive Arbeitskulturen
Goldin zeigt in ihrer Forschung eindrucksvoll auf, wie tief verwurzelte Vorurteile die Einstellungschancen von Frauen beeinträchtigen können. So beispielsweise weil von jungen Frauen im gebärfähigen Alter angenommen wird, dass sie Kinder bekommen könnten und dann weniger zuverlässig und karriereorientiert sind als gleichaltrige Männer. In einer Studie hat Goldin den Effekt von «Blind Auditions» in einem amerikanischen Orchester getestet: Sobald das Vorspielen für eine Stelle hinter einem Vorhang stattfand und somit das Geschlecht nicht mehr erkennbar war, stieg der Frauenanteil im Orchester.[11]
Goldins Forschung verdeutlicht die Notwendigkeit, solche Vorurteile aktiv zu bekämpfen, um eine gerechtere und inklusivere Arbeitsumgebung zu schaffen. Damit auch in der Schweiz Frauen ihr Potenzial auf dem Arbeitsmarkt entfalten können und sich der «Gender Pay Gap» schliesst, braucht es einerseits institutionelle Änderungen in den Unternehmen und in der Politik. Dazu gehören etwa flexiblere Arbeitsmodelle, bezahlbare Kinderbetreuung und Anpassungen beim Steuersystem, beispielsweise eine Individualbesteuerung. Andererseits sind wir alle gefordert, unsere unbewussten Vorurteile zu reflektieren und auch Frauen als potenzielle Karrierefrauen und Männer als Väter zu sehen.[12] Und zu guter Letzt ist wohl eine Anpassung der Arbeitskultur und der erwarteten Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit der Arbeitnehmenden notwendig. Denn wie Claudia Goldin festhält, sind die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede am Arbeitsmarkt heute massgeblich der zeitlichen Verfügbarkeit und der Tatsache, Kinder zu haben, geschuldet.
- Siehe Goldin (1994). []
- Siehe Goldin (1990). []
- Siehe Goldin und Katz (2002). []
- Siehe beispielsweise die durch die fehlenden Daten erschwerte Entwicklung der «Care-Ökonomie», die in der Schweiz von Ökonomin Mascha Madörin geprägt wird. []
- Siehe Bütler (2006). []
- Siehe Goldin (2006). []
- Siehe Bundesamt für Statistik (2021a). []
- Siehe Bundesamt für Statistik (2021b). []
- Siehe Goldin (2014). []
- Gemeint ist hier der Glass Ceiling Index, das heisst die Hürde für den Aufstieg in das mittlere und obere/oberste Kader. Siehe Advance (2022). []
- Siehe Goldin und Rouse (2000). []
- Siehe Advance (2023). []
Literaturverzeichnis
- Advance – Gender Equality in Business (2022). Gender Intelligence Report 2022.
- Advance – Gender Equality in Business (2023). Gender Intelligence Report 2023.
- Bütler, M. (2006). Arbeiten lohnt sich nicht – ein zweites Kind noch weniger.
- Bundesamt für Statistik (2021a). Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (Sake).
- Bundesamt für Statistik (2021b). Familien in der Schweiz. Statistischer Bericht 2021. Neuenburg, 11. Mai.
- Goldin, C. (1990). Understanding the Gender Gap: An Economic History of American Women. National Bureau of Economic Research.
- Goldin, C. (1994). The U-shaped Female Labor Force Function in Economic Development and Economic History.
- Goldin, C. und C. Rouse (2000). Orchestrating Impartiality: The Impact of «Blind» Auditions on Female Musicians. American Economic Review, 90 (4): 715–741.
- Goldin, C. und L. Katz (2002). The Power of the Pill: Oral Contraceptives and Women’s Career and Marriage Decisions. Journal of political Economy, 110(4), 730–770.
- Goldin, C. (2006). The Quiet Revolution That Transformed Women’s Employment, Education, and Family. American Economic Review, 96 (2): 1–21.
- Goldin, C. (2014). A Grand Gender Convergence: Its Last Chapter. American Economic Review, 104 (4): 1091–1119.
Bibliographie
- Advance – Gender Equality in Business (2022). Gender Intelligence Report 2022.
- Advance – Gender Equality in Business (2023). Gender Intelligence Report 2023.
- Bütler, M. (2006). Arbeiten lohnt sich nicht – ein zweites Kind noch weniger.
- Bundesamt für Statistik (2021a). Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (Sake).
- Bundesamt für Statistik (2021b). Familien in der Schweiz. Statistischer Bericht 2021. Neuenburg, 11. Mai.
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- Goldin, C. (2014). A Grand Gender Convergence: Its Last Chapter. American Economic Review, 104 (4): 1091–1119.
Zitiervorschlag: Sander, Gudrun; Goop, Theresa (2023). Die weibliche Perspektive auf den Arbeitsmarkt. Die Volkswirtschaft, 17. November.
Das Kompetenzzentrum für Diversity und Inklusion (CCDI) ist Teil der Forschungsstelle für Internationales Management an der Universität St. Gallen. Jährlich veröffentlicht das CCDI gemeinsam mit dem Unternehmensverband für Geschlechtergleichstellung Advance den Gender Intelligence Report. Dabei werden auch verschiedene Branchen miteinander verglichen, und es zeigen sich dabei grosse Unterschiede. So kommen zum Beispiel Frauen in der Industrie oder in der Pharmabranche leichter an die Spitze als bei Banken oder Unternehmensberatungen. Die Industrie hat zwar immer noch einen sehr kleinen Anteil an Frauen, aber ein grosser Teil dieser wenigen Frauen schafft es in höhere Führungspositionen.
Das gut zwanzigköpfige Team des CCDI forscht im Bereich Führung, Diversity, Equity und Inclusion. Es führt Lohnanalysen und branchenspezifische Benchmarkstudien durch und bietet Organisationen gezielte Unterstützung, Beratung sowie Trainings rund um das Thema Inklusion, Chancengerechtigkeit, Unconscious Bias und Antirassismus an. Im Juni 2023 wurde zudem die grösste Datensammlung zu den Ergebnissen der Lohngleichheitsanalysen in Schweizer Unternehmen im Auftrag des Schweizerischen Arbeitgeberverbands veröffentlicht.