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Ist die Schweizer Schuldenpolitik zu streng?

Die 2003 eingeführte Schuldenbremse hat wesentlich dazu beigetragen, die Bundesfinanzen ins Lot zu bringen. Doch der Schuldenabbau hat auch Kosten. Verschiedene Anpassungsvorschläge stehen zur Diskussion.

Ist die Schweizer Schuldenpolitik zu streng?

Die drei Eidgenossen im Bundeshaus: Die Schuldenbremse bewahrt die Schweiz vor einer Schuldenkrise. (Bild: Keystone)

Die Schweizer Staatsfinanzen sind kerngesund. Seit der Jahrtausendwende konnte die öffentliche Schuldenquote (Schulden von Bund, Kantonen und Gemeinden im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt) von 46 auf 27 Prozent zurückgefahren werden. Selbst die ausserordentlichen Ausgaben zur Bewältigung der Corona-Pandemie schlugen bloss eine kleine Delle in die Trendlinie (siehe Abbildung). Auch im internationalen Vergleich steht die Schweiz gut da: Von den mittelgrossen und grossen Industrieländern der Welt hat die Schweiz die geringste staatliche Verschuldung.[1]

Bruttoverschuldung von Bund, Kantonen und Gemeinden (1990–2022)

INTERAKTIVE GRAFIK
Quelle: EFV / Die Volkswirtschaft

Die optimale Schuldenquote liegt über null

Die niedrige Schuldenquote beschert uns verschiedene Vorteile. So muss der Staat beispielsweise nur einen geringen Teil seiner Steuereinnahmen für Schuldzinsen aufwenden. Dies erfolgt einerseits rein mechanisch, weil die zu bedienenden Schulden bereits tief sind, und andererseits weil die tiefen Schulden auf den Kapitalmärkten zu besseren Zinskonditionen führen. Das schafft Freiräume für produktivere Staatsausgaben.

In der wissenschaftlichen Literatur gilt das Augenmerk jedoch in erster Linie einem anderen Kriterium, nämlich der Resilienz der Staatsfinanzen. Einfacher ausgedrückt: Exzessive Staatsschulden können es dem Staat verunmöglichen, im Fall einer Wirtschaftskrise die Ausgaben hochzufahren, oder sie können gar selbst zum Beschleuniger werden für Wirtschaftskrisen, so wie das etwa in der Eurokrise in Griechenland der Fall war. Grundsätzlich gilt: Je tiefer die Verschuldung, desto geringer sind solche Risiken.

Heisst das nun, dass tiefere Staatsschulden immer besser sind als höhere? Die Antwort der wissenschaftlichen Literatur lautet klar: Nein. Für den Staat kann es sinnvoll sein, langfristig rentable Infrastrukturinvestitionen mittels Schulden zu finanzieren, ähnlich wie es sich für viele Familien lohnt, die Ausgaben für einen Hauskauf mittels Hypothekardarlehen über die Jahre zu verteilen. Öffentliche Schulden sind zudem ein wichtiges Element funktionierender Finanzmärkte, denn Staatsanleihen solide finanzierter Länder sind eine liquide und sichere Anlagekategorie, deren Nachfrage in den letzten Jahrzehnten markant gestiegen ist.[2]

Schuldenabbau ist nicht gratis

Im Kern geht es bei der Schuldenfrage um die gleiche Abwägung wie bei allen wirtschaftspolitischen Entscheidungen: Wiegt der Nutzen tiefer Schulden deren Kosten auf? Denn Schuldenabbau ist nicht gratis. Jeder Franken, der für Rückzahlung von Staatsschulden eingesetzt wird, ist ein Franken, der nicht für andere Staatsleistungen zur Verfügung steht oder – dies wird oft übersehen! – auch nicht im Portemonnaie der Steuerzahler belassen werden konnte. Die Alternativen zu Schuldenrückzahlung sind somit: höhere Ausgaben oder tiefere Steuern.

Wenn die Staatsverschuldung sowohl zu tief als auch zu hoch ausfallen kann, dann muss es irgendwo ein optimales Niveau geben. Wo dieses Niveau liegt, lässt sich jedoch nicht verbindlich bestimmen, aus zwei Hauptgründen. Erstens hängt das Optimum von den Umständen jedes Landes ab. In Staaten mit stabilen Institutionen, mit einer eigenen Währung und mit einer grösseren inländischen Absorption ihrer Schuldpapiere sind Staatsschulden ein kleinerer Risikofaktor als in Staaten ohne diese Eigenschaften. So schultert Japan eine Schuldenquote von beinahe 260 Prozent und geniesst dennoch weiterhin grosses Vertrauen der Finanzmärkte. Griechenland hingegen verlor dieses Vertrauen in der Krise von 2010 bei einer Schuldenquote von «bloss» 130 Prozent.

Zweitens sind beim Festlegen der optimalen Schuldenquote zwangsläufig Werturteile involviert. Kurz, was ist wertvoller: tiefe Schulden, Steuersenkungen oder staatliche Investitionen in die Zukunft? Je nach Antwort und Umsetzung sind verschiedene Personenkreise betroffen. Deshalb sind solche Abwägungen nicht wissenschaftlich lösbar, sondern müssen im demokratischen Prozess ausgehandelt werden.

Mehrere Gründe für tiefe Schulden

Doch was erklärt die ausserordentlich tiefe öffentliche Verschuldung in der Schweiz?

Die gute Konjunktur spielt gewiss eine Rolle: Seit 2004, als die Schuldenquote abzunehmen begann, lag das jährliche Wirtschaftswachstum im Schnitt bei 2 Prozent. Im vorangegangenen Jahrzehnt – als die Verschuldung markant anstieg – betrug das durchschnittliche Wachstum bloss 1,2 Prozent. Allgemein gilt: Liegt die Wachstumsrate der Wirtschaft über dem Schuldzinssatz, nimmt die Schuldenquote automatisch ab – solange der Staat kein allzu grosses Defizit schreibt.

Soliden Staatsfinanzen förderlich ist überdies der Föderalismus. In der Schweiz laufen bloss 45 Prozent der öffentlichen Finanzen über den Zentralstaat – auch dies ein internationaler Rekordwert.[3] Den Kantonen und Gemeinden sind die Möglichkeiten zur Schuldenaufnahme oft enger gesteckt als dem Bund, und sie erhalten weniger attraktive Konditionen auf den Kapitalmärkten.

Aber den entscheidenden Unterschied macht ziemlich sicher die Schuldenbremse. Praktisch alle Kantone kennen solche Regelungen und seit 2003 auch der Bund.[4] Eine Studie der Universität Luzern hat belegt, dass die Schuldenbremse massgeblich für den Schuldenrückgang der letzten beiden Jahrzehnte verantwortlich ist.[5]

Schweizer Schuldenbremse: Einzigartig streng

Fiskalregeln gibt es mittlerweile in den meisten Ländern (siehe auch Artikel «Fiskalregeln wirken»), aber die Schweizer Schuldenbremse ist strenger als alle.[6] Die Verfassung schreibt einen über den Konjunkturzyklus ausgeglichenen Haushalt vor. Das bedeutet langfristig stabile nominelle Schulden und somit einen allmählichen Rückgang der Schuldenquote. Das ausführende Gesetz ist noch rigoroser, denn es verlangt, dass Rechnungsüberschüsse zwingend dem Schuldenabbau zugeschrieben werden. Letzteres bedeutet nicht bloss einen stetigen Rückbau der Schuldenquote, sondern auch der nominellen Schulden.[7] Zum Vergleich: Sowohl die Maastricht-Regeln der EU als auch die deutschen und österreichischen Schuldenbremsen erlauben (kleine) strukturelle Staatsdefizite und lassen somit eine gewisse Zunahme der nominellen Schulden zu.

Angesichts der sehr vorteilhaften Zinskonditionen des Bundes auf dem Kapitalmarkt stellt sich nun die Frage: Sind Schuldenrückzahlungen aus volkswirtschaftlicher Sicht rentabler als Steuersenkungen oder zusätzliche staatliche Investitionen? Nicht unbedingt, finden verschiedene Fachexperten und schlugen daher in den vergangenen Jahren verschiedentlich Anpassungen der Schweizer Schuldenbremse vor.

Ideen für ein Update

Einen Makel hat die gegenwärtige Schuldenbremsen-Praxis etwa bei den Investitionsausgaben. Denn diese werden im Moment der Auszahlung berücksichtigt, statt sie mittels Abschreibungsregeln über die Laufzeit der Investition zu verteilen, wie es der buchhalterischen Gepflogenheit entsprechen würde. Die aktuelle Praxis ist volkswirtschaftlich wenig sinnvoll und könnte angepasst werden.[8] Das würde mehr Spielraum schaffen für langfristig wirksame Ausgaben, beispielsweise für eine unabhängigere und ökologischere Energieversorgung.

Ein anderer Vorschlag betrifft die Corona-Schulden. Das Parlament hat 2022 beschlossen, diese bis 2035 vollständig abzuzahlen. Dennoch vertreten weiterhin verschiedene Kreise die Idee, zumindest einen Teil der Corona-Schulden mit dem Schuldenabbau der Vorjahre zu verrechnen. Das wäre konform mit dem Verfassungsartikel und würde bedeuten, dass ein Teil der Corona-Schulden «stehen gelassen» würde. Das Parlament würde sich damit selbst eine gewisse Freiheit zurückgeben, künftige Budgetüberschüsse für Steuersenkungen oder Zusatzausgaben einzusetzen statt für den weiteren Abbau der nominellen Schulden.

Tatsächlich sind die Vorgaben zum Schuldenabbau in der Schweizer Schuldenbremse ausserordentlich streng. Rechnungsüberschüsse werden automatisch in den Schuldenabbau geleitet. Dieser Umstand liesse sich mit technischen Gesetzesanpassungen verfassungskonform korrigieren. Beispielsweise könnte man dem ursprünglichen Bundesratsvorschlag einer «symmetrischen Bewirtschaftung des Ausgleichskontos» folgen.[9] Oder das Regelwerk würde um einen «administrativen Korrekturfaktor» ergänzt.

Würde man die Verfassung wortgetreu einhalten, dann müsste man eigentlich den nominellen Schuldenstand dauerhaft einfrieren. Gemäss der makroökonomischen Literatur ist allerdings eine stabile Schuldenquote die entscheidende Zielgrösse und nicht ein stabiler Schuldenbetrag. Daher haben Experten vorgeschlagen, auch das gesetzliche Regelwerk auf eine Verstetigung der Schuldenquote auszurichten.[10] So könnte man ein durchschnittliches Primärdefizit von bis zu 2,8 Milliarden Franken zulassen.[11] Das würde allerdings eine Verfassungsänderung bedingen.

Noch weiter geht ein Vorschlag, der die starke Nachfrage nach Bundesobligationen und die damit einhergehenden attraktiven Finanzierungskonditionen des Bundes ausnutzen würde. Indem sich der Bund nämlich billig verschuldet und die aufgenommenen Mittel in Renditeanlagen platziert, könnte er seinen Zinsbonus zu Geld machen.[12] Ein derart alimentierter Fonds im Umfang von 10 BIP-Prozent könnte jährliche Einkünfte zwischen 0,7 und 2,1 Milliarden Franken generieren.[13] Um für einen solch strategisch-spekulativen Zweck zusätzliche staatliche Schuldpapiere emittieren zu können, müsste die Verfassung ebenfalls angepasst werden.

Fest steht: Die Schuldenbremse ist Ausdruck weitsichtiger schweizerischer Finanzpolitik. Wir haben nun 20 Jahre lang Erfahrungen sammeln können. Zeit für ein Update?

  1. Siehe Internationaler Währungsfonds (2023a). []
  2. Siehe Glick (2019). []
  3. Siehe Internationaler Währungsfonds (2023b). []
  4. Siehe Kirchgässner (2013). []
  5. Siehe Salvi et al. (2020). []
  6. Siehe Brändle und Elsener (2023). []
  7. Siehe Sturm et al. (2017). []
  8. Siehe Fischer (2023). []
  9. Siehe Bundesrat (2000). []
  10. Siehe etwa Internationaler Währungsfonds (2019), Tille (2023). []
  11. Siehe Tille (2020). []
  12. Siehe Bacchetta (2017). []
  13. Siehe Tille (2020). []

Literaturverzeichnis
  • Bacchetta, Philippe (2017). Is Swiss Public Debt Too Small? In: Monetary Economics Issues Today – Festschrift in Honour of Ernst Baltensperger, Orell Füssli, 193–202.
  • Brändle, T. und Elsener, M. (2023). Do Fiscal Rules Matter? A Survey on Recent Evidence. FFA Working Paper No. 26, Eidgenössisches Finanzdepartement.
  • Bundesrat (2000). Bundesgesetz über den eidgenössischen Finanzhaushalt: Entwurf. BBI 2000 4728.
  • Fischer, Roland (2023). Ist das Regelwerk der Schuldenbremse noch zeitgemäss? 5. September.
  • Glick, Reuven (2020). r* and the Global Economy. Journal of International Money and Finance, 102:102105.
  • Internationaler Währungsfonds (2019) Switzerland. IMF Country Report No. 19/180.
  • Internationaler Währungsfonds (2023a). Government Finance Statistics (abgerufen am 4.10.2023.)
  • Internationaler Währungsfonds (2023b). Fiscal Decentralization Dataset (abgerufen am 4.10.2023).
  • Kirchgässner, Gebhard (2013) Fiscal Institutions at the Cantonal Level in Switzerland. Swiss Journal of Economics and Statistics, 149(2): 139–166.
  • Salvi, M.; Schaltegger, C.A.; Schmid L. (2020). Fiscal Rules Cause Lower Debt: Evidence from Switzerland’s Federal Debt Containment Rule. Kyklos, 73(4): 605–642.
  • Sturm, J.E.; Brülhart, M.; Funk, P.; Schaltegger, C.A.; Siegenthaler P. (2017). Gutachten zur Ergänzung der Schuldenbremse. Studie im Auftrag des EFD.
  • Tille, Cédric (2020). The «Burden» of Swiss Public Debt: Lessons from Research and Options for the Future. CEPR Policy Insight No. 101.
  • Tille, Cédric (2023). Perspectives pour la dette de la Confédération à moyen et long terme : quels sont les horizon et l’ampleur des ajustements? IHEID, Genf.

Bibliographie
  • Bacchetta, Philippe (2017). Is Swiss Public Debt Too Small? In: Monetary Economics Issues Today – Festschrift in Honour of Ernst Baltensperger, Orell Füssli, 193–202.
  • Brändle, T. und Elsener, M. (2023). Do Fiscal Rules Matter? A Survey on Recent Evidence. FFA Working Paper No. 26, Eidgenössisches Finanzdepartement.
  • Bundesrat (2000). Bundesgesetz über den eidgenössischen Finanzhaushalt: Entwurf. BBI 2000 4728.
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  • Glick, Reuven (2020). r* and the Global Economy. Journal of International Money and Finance, 102:102105.
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  • Internationaler Währungsfonds (2023b). Fiscal Decentralization Dataset (abgerufen am 4.10.2023).
  • Kirchgässner, Gebhard (2013) Fiscal Institutions at the Cantonal Level in Switzerland. Swiss Journal of Economics and Statistics, 149(2): 139–166.
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  • Sturm, J.E.; Brülhart, M.; Funk, P.; Schaltegger, C.A.; Siegenthaler P. (2017). Gutachten zur Ergänzung der Schuldenbremse. Studie im Auftrag des EFD.
  • Tille, Cédric (2020). The «Burden» of Swiss Public Debt: Lessons from Research and Options for the Future. CEPR Policy Insight No. 101.
  • Tille, Cédric (2023). Perspectives pour la dette de la Confédération à moyen et long terme : quels sont les horizon et l’ampleur des ajustements? IHEID, Genf.

Zitiervorschlag: Marius Brülhart (2023). Ist die Schweizer Schuldenpolitik zu streng. Die Volkswirtschaft, 13. November.