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Reto Wyss, Zentralsekretär Ökonomie, Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB), Bern

Während die EU-Mitgliedsstaaten gerade zu Recht dabei sind, ihre längst überholten Maastricht-Kriterien den gegebenen Realitäten anzupassen, feiert man in der Schweiz 20 Jahre Schuldenbremse. Von einer «weltweit beachteten Phase der Prosperität» sprach Alt-Bundesrat Kaspar Villiger, «Vater» der Schuldenbremse, an der Jubiläumsfeier. Tatsächlich erlebte die Schweiz diese Prosperität kaum dank, sondern eher trotz der restriktiven Schweizer Haushaltsregel.

Villiger verwies in seiner Festrede auch auf eine alte, ursprünglich vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verwendete Studie[1]  Diese besagt, dass eine öffentliche Schuldenquote von mehr als 90 Prozent der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes abträglich sei. Die These der besagten Studie wurde längst von einem Studenten widerlegt: Sie fusste schlicht auf einem Rechenfehler.

Die Schuldenquote der Schweiz beträgt heute 26 Prozent. Selbst der IWF empfahl der Schweiz deshalb regelmässig eine Lockerung ihrer Haushaltsregel. Denn wie die vergangenen 20 Jahre zeigten, bewirkt die Schuldenbremse einen fortlaufenden Abbau nicht nur der Schuldenquote, sondern sogar des nominalen Schuldenstands.

 

Der Bundesrat nimmt das Jubiläum der Schuldenbremse zum Anlass, seine neue Sparpolitik ideologisch zu rechtfertigen.

 

Insgesamt hat der Staat heute schon wesentlich mehr Vermögen als Schulden – gemäss IWF-Finanzstatistik betrug das Reinvermögen der öffentlichen Hand im Jahr 2021 409 Milliarden. Das entspricht mehr als der Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung. Letztlich entzieht die Schuldenbremse damit der Bevölkerung systematisch finanzielle Mittel, um sie beim Staat anzuhäufen.

Diese Entwicklung widerspricht nicht nur dem Volkswillen in der Verfassung, sie ist auch volkswirtschaftlich unsinnig. Denn damit einher geht ein massiver öffentlicher Investitionsrückstand beispielsweise beim Umbau der Energieversorgung. Die Last, welche künftigen Generationen daraus erwächst, ist real, ganz im Gegensatz zu den öffentlichen Schulden. Letztere könnten aus ökonomischer Sicht problemlos im Gleichschritt mit der Wirtschaftsleistung wachsen. Doch im aktuell engen Korsett der Schuldenbremse dürfen sie das nicht.

Anstatt sich mit diesem Missstand substanziell zu beschäftigen, nimmt der Bundesrat das Jubiläum der Schuldenbremse vielmehr zum Anlass, seine neue Sparpolitik ideologisch zu rechtfertigen. Insgesamt strebt die Regierung über die kommenden Jahre ein Sparvolumen von jährlich 2,7 Milliarden Franken[2] an. Das entspricht fast exakt den zwischen 2005 und 2020 angefallenen Budgetunterschreitungen von jährlich 2,6 Milliarden Franken (inklusive Prognosefehler bei den Einnahmen). Heute verschwinden diese Kreditreste per Definition in der Schuldenbremse. Sie könnten und sollten jedoch dazu eingesetzt werden, den erwähnten Investitionsrückstand aufzuholen. Das geplante Sparvolumen liesse sich dadurch mit einem buchhalterischen Federstrich auch für obsolet erklären.

  1. Siehe Reinhart, Carmen M. und Kenneth S. Rogoff (2010). Growth in a Time of Debt. American Economic Review, 100 (2): 573–78. []
  2. Bei den 2,7 Mrd. handelt es sich um die Summe der i) Vorentscheide im Januar, ii) der 2-Prozent-Kürzungen der schwach gebundenen sowie iii) der vorgeschlagenen Kürzungen der stark gebundenen Ausgaben. []

Zitiervorschlag: Wyss, Reto (2023). Korkenknallen unangebracht. Die Volkswirtschaft, 14. November.